Der rote Bär - Ta-ku-ka
An der Küste, dort ungefähr, wo heute Pikmiktalik liegt, lebte ein Eskimojäger namens Pi-tikh-cho-lik mit seiner Frau Ta-ku-ka. Damals waren die Berge von großen Renntierherden bevölkert und die See war voll von Seehunden und Fischen, so daß Pi-tikh-cho-lik eine Menge Nahrung und Felle nach Hause brachte.
Eines schönen Sommerabends stand Ta-ku-ka an der Küste und wartete auf die Rückkehr ihres Gatten. Obwohl er ihr auseinandergesetzt hatte, daß sich die Renntiere weiter in die Berge zurückgezogen hatten und die Seehunde nur noch weit draußen im Meer zu finden seien, war sie doch besorgt und unruhig, da er länger als bei seinen sonstigen Jagdausflügen fortblieb.
Nach einiger Zeit ging Ta-ku-ka ins Haus, um nach ihren Kindern zu sehen; als sie dann wieder herauskam, war ihr Mann gerade dabei, seinen Kajak auf das Gestell neben dem Haus zu stellen.
Sie stellte an ihn, wegen seines langen Ausbleibens, eine Menge Fragen, er antwortete aber verdrießlich, daß er weit aufs Meer hinausgefahren und so lange ausgeblieben sei, weil er ohne Beute nicht zurückkommen wollte. Sie gingen ins Haus und Ta-ku-ka setzte ihm verschiedene Lieblingsgerichte vor, aber er aß nur wenig und war überhaupt traurig und mißmutig. Seine Frau drang in ihn, ihr doch den Grund seiner üblen Laune zu sagen; schließlich sagte er: "Wenn du durchaus den Grund meiner Kümmernisse wissen willst, so höre ihn also: ich fühle, daß ich sterben muß und der dritte Tag von heute an wird mein Todestag sein."
Darauf fing Ta-ku-ka bitterlich zu weinen an, er tröstete sie aber und sagte: "Weine nicht und mach mich nicht noch unglücklich, solange ich noch bei dir bin, sondern höre meine letzten Wünsche. Wenn ich gestorben bin, mußt du meinen Kajak ins Wasser stellen und an der Küste verankern; dann lege mein Ruder, meine Speere und Schnüre auf ihren gehörigen Platz hinein. Kleide dann meinen Körper in die wasserdichte Jacke und setz mich in den Kajak und binde die Jacke am Rand des Mannloches fest, wie ich es immer getan, wenn ich aufs Meer hinausfuhr. Stelle dann noch drei Tage hindurch jeden Abend Fische, Renntierspeck und Beeren vor mich, damit mein Schatten zufrieden gestellt wird. Versprichst du mir das ?" Ta-ku-ka versprach es und weinte still, Pi-tikh-cho-lik verließ das Haus nicht mehr und starb am dritten Tage. Da weinte Ta-ku-ka sehr, tat aber, wie ihr befohlen war. Jeden Morgen sah sie, daß der Schatten gegessen hatte, denn alle Speisen vor dem Körper waren weg. Als sie am vierten Tag an den Strand ging, um wie gewöhnlich ihren Toten zu beklagen, war der Kajak mit all seinem Inhalt verschwunden. Da warf sie sich zu Boden und blieb in ihrem Schmerz lange so liegen, schließlich erinnerte sie sich aber ihrer Kinder und ging wieder ins Haus, um nach ihnen zu sehen.
Nun arbeitete Ta-ku-ka viel, sie sammelte Beeren, fing Fische und trocknete sie, um für den Winter einen Vorrat anzulegen.
Als sie so eines Tages Beeren klauben ging entfernte sie sich weit vom Haus und kam auf den Gipfel eines Hügels. Sie überschaute von da die Gegend und sah noch weit entfernt Rauchwolken vom Boden aufsteigen. Es war das erste Zeichen, das sie je von anderen Leuten gesehen und sie beschloß hinzugehen, um zu sehen, was für Menschen dort seien. Nach einiger Zeit kam sie näher an die Stelle heran und kroch vorsichtig auf den Kamm eines zum Meer steil abfallenden, landeinwärts aber sanft geneigten Hügels. Hart am Wasser lagen drei Häuser und aus dem einen stieg der Rauch, den sie gesehen hatte.
Hier wartete Ta-ku-ka ruhig, um zu sehen was für Leute da wären; bald kam eine Frau heraus, hob eine Hand vor die Augen und blickte hinaus aufs Meer. Dann lief sie zurück ins Haus und rief irgend jemanden drinnen etwas zu. Nun kamen noch zwei andere Frauen heraus und alle gingen hinunter an den Rand des Wassers; dort stimmten sie ein Liebeslied an und tanzten am Sandstrand, Ta-ku-ka hatte die Frauen und ihre schönen Fellkleider so aufmerksam betrachtet, das sie nichts anderes bemerkte; jetzt aber traf leise der angenehme Ton einer singenden Männerstimme ihr Ohr und ihr Herz schlug höher. Über die Frauen hinweg sah sie einen Mann in seinem Kajak langsam der Küste zusteuern. Er sang und warf spielend seinen Seehundsspeer vor sich und hob ihn, wenn er daran vorbei kam, wieder auf.
Wie er näher kam, erkannte Ta-ku-ka in seinem Gesang ein Lied, das in früheren Tagen Pi-tikh-cho-lik ihr vorzusingen pflegte. Der Kajakmann landete nun und die Frauen empfingen ihn mit Freudenrufen. Ta-ku-ka wollte kaum ihren Augen traun, als sie sah, daß der Mann wirklich ihr Gatte war, den sie für tot gehalten. Er ging mit den Frauen ins Haus und da empfand Ta-ku-ka ein früher nie gekanntes, merkwürdig grimmes Gefühl im Herzen. Sie stand am Hügelrand und lauschte bis tief in die Nacht hinein dem Gesang und Gelächter, das aus dem Haus zu ihr drang.
Es wurde Morgen, Pi-tikh-cho-lik kam heraus und brachte am Kajak sein Jagdgerät in Ordnung. Nachdem er den Frauen an der Küste "guten Tag" gesagt, ruderte er lustig singend aufs Meer hinaus. Als er außer Sicht war, stieg Ta-ku-ka vom Hügel herab und folgte den Frauen in eines der Häuser. Die waren erstaunt, sie zu sehen, bewillkommten sie aber trotzdem und stellten viele Fragen an sie. Sie bewunderten ihr Gesicht und ihre Hautfarbe, die heller als ihre war und verschiedene tätowierte Linien in ihrem Gesicht: eine aufs und abführende zwischen den Augen und drei von der Unterlippe übers Kinn herunter, die auch anders waren, als die ihrigen. Im Laufe des Gesprächs sagte eine der Frauen: "Diese Gesichtslinien stehen dir sehr gut; ich würde viel dafür geben, wenn du mich lehrtest, mein Gesicht wie deins zu machen." Ta-ku-ka antwortete: "Ich will dir zeigen, wie das gemacht wird, wenn ich dir damit einen Gefallen erweisen kann, aber ich werde dir dabei weh tun und du wirst den Schmerz vielleicht nicht aushalten." "Ich werde den Schmerz nicht beachten und bin bereit, ihn auszuhalten, wenn ich nur so schön werde, wie du." "Wie du willst!" sagte Ta-ku-ka, "geh ins Haus, zünde ein Feuer an und setze einen großen irdenen Topf mit Fett auf; wenn das Fett kocht, rufe mich, ich werde dann dein Gesicht so schön, wie das meine, machen." Nachdem ihr die Frau gedankt hatte, ging sie, alles fertig zu machen und nun stellten die anderen Frauen noch eine Menge Fragen, wie: "Wird es sehr weh tun?" und "Wird sie wirklich so schön werden, wie du bist?" und noch andere mehr. Ta-ku-ka entgegnete darauf: "Es wird ihr nicht sehr weh tun und sie wird noch schöner werden, als ich."
Die Frau kam bald zurück und meldete, das Fett sei fertig. Ta-ku-ka ging dann mit ihr ins Haus und befahl ihr, sich vor den Topf mit dem siedenden Fett zu knien und den Kopf darüber zu beugen. So wie das geschehen war, packte Ta-ku-ka sie bei den Haaren und stieß ihren Kopf ins heiße Fett und hielt ihn drin, bis die Frau tot war; dabei sagte sie: "Da! Jetzt wirst du immer schön sein!" Dann legte sie ihren Körper auf die Bettstatt, deckte das Gesicht zu und ging hinaus zu den anderen Frauen. In ihrer Abwesenheit hatten die beiden anderen miteinander geschwätzt und als sie zurückkam, fragten sie, ob es ihr gelungen sei, ihre Gefährtin zu verschönern, und Ta-ku-ka nickte mit dem Kopf.
Daraufhin sagten die beiden Frauen: "Wir wollen dir auch Geschenke geben, wenn du uns schön machen willst." Sie war damit einverstanden. Dann gingen sie alle zum Haus der toten Frau und Ta-ku-ka sagte zu ihren Begleiterinnen: "Stört eure Freundin nicht, sie schläft jetzt, und damit nichts ihre Schönheit beeinträchtigt, ist ihr Gesicht zugedeckt. Wenn sie aufwacht, wird sie sehr schön sein." Darauf brachte sie dann die beiden anderen Frauen, wie die erste um und sagte, wie sie sie niederhielt: "Ihr werdet auch sehr schön sein." Sie fertigte nun aus Stäben drei Gestelle an und stellte sie, wo die Frauen am Abend vorher an der Küste getanzt hatten, aufrecht in den Sand und legte die Kleider der Toten darüber, sodaß man auf die Entfernung glauben konnte, sie stünden dort. Dann nahm sie das Fell eines roten Bären und ging zu ihrem Versteck in den Felsen zurück. Es wurde Abend und der Jäger kam, wie in der vorigen Nacht, singend zurück. Es drang zwar keine Antwort zu ihm, aber er glaubte doch, seine Weiber an der Küste stehen zu sehen, obwohl aufsein Loblied keine Antwort kam. Er wurde ärgerlich und hielt mit seinem Gesang inne. Dann begann er sie zu schelten und beschimpfen, aber noch immer blieben sie stumm. Nachdem er gelandet, lief er auf die schweigenden Gestalten zu und dann ins nächste Haus. Dort und im nächsten fand er nichts, aber im dritten sah er seine Weiber tot daliegen und Ta-ku-ka hörte die Schmerzensschreie, die er ausstieß, als er das sah.
Rasend stürzte Pi-tikh-cho-lik aus dem Haus; vor Trauer klagend und aus Ärger schrie er: "Wenn irgendwelche böse Geister das getan haben, so fürchte ich mich gar nicht vor ihnen; sie sollen nur kommen und versuchen auch an mir Rache zu nehmen; ich hasse und verachte sie!" Alles blieb ruhig. "Wenn irgend ein Rachegeist, Mensch oder Tier, das getan hat, so soll er nur aus seinem Versteck herauskommen und" so brüllte er "es wagen, einem Mann Trotz zu bieten, der ihm das Herz herausreißen und sein Blut trinken wird! Oh, elendiger Nichtsnutz!"
Wie zur Antwort darauf hörte er vom Hügel her ein tiefes Gebrumm und sah dort einen roten Bären aufrecht auf seinen Hinterfüßen stehen und seinen Körper vor- und zurückneigen. Das war Ta-ku-ka, die sich ins Bärenfell eingewickelt, und um sich vor Pfeil oder Speerwunden zu schützen, darunter an jede Körperseite flache Steine gelegt hatte.
Pi-tikh-cho-lik sah sie und glaubte, es sei wirklich ein Bär und begann alle Schimpfnamen, die er sich nur ausdenken konnte, zu rufen, während er rasch einen Pfeil auf den Bogen legte und ihn losschoß. Der Pfeil traf auf einen der Steine und fiel unschädlich herab; der Bär wandte ihm die andere Seite zu. Wieder schoß er einen gutgezielten Pfeil ab und wieder war er wirkungslos. Da rutschte der Bär den Abhang zu ihm herunter und als Pi-tikh-cho-lik dem Bären den Speer in die Flanke stieß, zerbrach er ihm in der Hand. In ein paar Augenblicken hatte der Bär ihn leblos niedergeworfen, ihm das Herz herausgerissen und es aufgefressen. Daraufhin schien die Raserei, die Ta-ku-ka ergriffen hatte, sie zu verlassen und ihre besseren Gefühle kamen wieder zurück. Sie versuchte das Bärenfell abzustreifen, aber es saß so fest an ihr, daß es ihr nicht gelang.
Auf einmal erinnerte sich Ta-ku-ka ihrer Kinder zuhause; sie nahm von der Hügelspitze ihren Korb mit den Beeren und machte sich nach ihrer Wohnung auf den Weg. Als sie so dahinging, bekam sie plötzlich Angst vor ihrem merkwürdigen Blutdurst, in den sich Gedanken an ihre Kinder mischten. Sie lief weiter, kam endlich zum Haus und lief hinein. Die beiden Kinder schliefen, und als sie Ta-ku-ka sah, überkam sie wieder unbezähmbare Blutgier und sie riß sie augenblicklich in Stücke. Dann ging sie hinaus und schweifte im Land umher, voll Gier, einen jeden, der ihr entgegenkam, umzubringen.
Bis dahin waren die roten Bären harmlos gewesen, aber Ta-ku-ka pflanzte
ihnen ihre eigene Leidenschaft ein, sodaß sie seither ganz wild
geworden sind. Zuletzt kam sie an den Kuskokwimfluß und wurde von
einem Jäger getötet, dessen Pfeil doch einen Weg durch einen
Sprung in einem der Steine an ihrer Seite gefunden hatte.
Quelle: Eskimomärchen, übersetzt von Paul
Sock, Berlin o. J. [1921], Nr. 20, S. 70.
aus: E. W. Nelson: The Eskimo about Beringstrait (Annual Report of American
Ethnology, Vol XVIII/1, Washington 1896/97.