URGROßVATER OZEAN HAT GEBURTSTAG

An einem Herbstabend war plötzlich das Wasser der Pärnuer Bucht verschwunden. Soweit das Auge reichte, leuchtete der gelbe Sand des Meeresgrundes. Man hätte trockenen Fußes bis zur Insel Kihnu gehen können. Boote und Schiffe kamen weder vor- noch rückwärts. Mitten in der Bucht, an tieferen Stellen, gab es nur soviel Wasser, daß die Fische nicht auf dem Trockenen lagen.

Die Menschen sahen sich die Bescherung an und staunten. Erst nach einiger Zeit, als die Bucht wieder voller Wasser war, wurde offenbar, was geschehen war.

Urgroßvater Ozean hatte sich erinnert, daß sein Geburtstag herannahte. Es war kein gewöhnlicher Geburtstag, sondern ein Jubiläum. Er wurde nämlich genau an diesem Tag uralt. So ein wichtiger Anlaß wird stets feierlich begangen, und Urgroßvater Ozean wollte den anderen darin nicht nachstehen. Er beschloß, ein großes Fest zu feiern, und schickte Einladungen Kindern, Kindeskindern, Kindeskindeskindern und auch deren Kindern. Fische, Vögel und Winde trugen die Botschaft zu allen Weltmeeren, Buchten, Sunden, Fjorden und Golfen. Auch die Bucht von Pärnu wurde eingeladen, und so reiste sie zu ihrem uralten Ahnherrn, dem greisen Urgroßvater Ozean.

Eine gewaltige Sippe hatte sich zum Jubiläumstag eingefunden: große und kleine Meere, stürmische und stille Buchten, breite und enge Sunde, prachtvolle Fjorde mit hohen Felsufern. Rauschende Lieder und stürmische Reden erklangen. Hohe und flache Wellen tanzten, weißer Schaum gischte in die Lüfte, mächtig stiegen die Wogen, brausten die Orkane und tosten die Taifune. Jeder Gast begrüßte den Uralten auf seine Art und wünschte ihm Gesundheit und ein langes Leben. Urgroßvater Ozean fragte einen jeden, wer er sei und woher er stamme; denn wie sollte er sich all der lieben Gäste entsinnen?

„Ich danke euch, meine Kinder", rauschte er, „und auch euch fremden Meeren, dem Weißen, dem Schwarzen, dem Roten und dem Gelben, daß ihr Zeit gefunden habt für euren Urahn."

Verwundert brausten das Weiße, das Schwarze, das Rote und das Gelbe Meer:

„Wieso sind wir Fremde? Wir sind doch deine Enkel und Urenkel!"

Urgroßvater Ozean wiegte sein wellenumwogtes Haupt und sprach: „Alle meine Kinder sind blau. In unserer Verwandtschaft gibt es kein Meer von anderer Farbe."

„Und doch gehören auch wir zu euch."

„Wie könnt ihr das beweisen?" fragte Urgroßvater Ozean.

Die vier überlegten, dann sprach das Weiße Meer: „Ich darf den ganzen Winter über nicht ruhen. Wenn die anderen Meere gefrieren und schlafen, trage ich nach wie vor Schiffe. Wahrscheinlich nennt man mich das Weiße Meer, weil mein Strand fast das ganze Jahr hindurch verschneit ist und meine schwarzen Uferfelsen weiße Schneemützen tragen."

Urgroßvater Ozean fragte das Gelbe Meer: „Was kannst du von dir erzählen?"

„Mein Wasser ist gelb vom Lehm, den die Flüsse mir zuführen", sprach das Gelbe Meer, „daher stammt auch mein Name. Und die Fischer, die mit ihren Booten auf mir fahren und aus mir ihre Nahrung gewinnen, haben eine gelbe Haut."

„Und was hast du zu berichten?" wandte sich Urgroßvater Ozean dem Schwarzen Meer zu.

„Meinen Namen trage ich schon sehr lange", begann das Schwarze Meer, „und zwar, weil der Himmel über mir in den Herbstnächten pechschwarz ist. Den Fischern und Kaufleuten gegenüber bin ich genau so* freigebig wie die anderen Meere, und mein Fahrwasser verbindet viele Länder."

„Und du ? Was weißt du zu sagen ?" fragte der Alte das Rote Meer.

„Warum man mich das Rote Meer nennt, kann ich nicht genau erklären. Vielleicht deshalb, weil in meinen Wogen wunderschöne grellrote Fische schwimmen. Oder weil an meinen Ufern Menschen leben, die rote Mützen tragen und ihren Acker am Rand einer rötlichen,Wüste bestellen. Ich helfe ihnen dabei, so gut ich kann."

Da strahlte Urgroßvater Ozeans zerfurchtes Antlitz, und er sprach: „Ihr habt mich überzeugt, daß ihr zu meinen Kindern gehört. Die Farbe hat nichts zu sagen. Hauptsache, ihr handelt so, wie es sich für ein richtiges Meer gehört. Doch nun ist genug gefeiert. Vor euch allen liegt ein langer Heimweg. Macht euch auf, damit ihr morgen früh wieder zu Hause seid. Und glückliche Reise, meine lieben Kinder! Glückliche Reise!"

Am Tag darauf war die Bucht von Pärnu mit Wasser gefüllt wie eh und je.


Quelle: Venda Sðelsepp, Plitsch, der junge Spatz und andere estnische Tiermärchen, Tallinn 1974, S. 5