Der Garten des Charos. (Ebendaher.)

Es war einmal eine Frau, die bekam keine Kinder. Da erschien eines Tags eine der Moeren vor ihr und sprach: 'Ich bin abgesandt von meiner Herrin, dir zu sagen, dass du, um ein Kind zu bekommen, zu dem und dem Berge dich begeben müssest. Dort wirst du in der Erde eine Oeffnung bemerken, da steige hinein und geh immer vorwärts, bis du in den Garten des Charos gelangst. Sobald du darin angekommen bist, schneide das Kraut ab, das an der Quelle des Gartens wächst, und nimm es mit dir und iss es, da wirst du ein Kind bekommen.' So sprach die Moere und verschwand. Am folgenden Tage brach die Frau auf, ging nach dem Berge, fand die Oeffnung, stieg hinein und gelangte nach einer sehr beschwerlichen Wanderung in Charos' Garten. Es war ein dunkler Raum, darinnen sie aber doch Kinder, Frauen, Männer und Greise unterschied, die sämmtlich versteinert waren; auch waren da Sicheln, Knochen und Schädel zu sehen. Auch flatterten eine Menge Todtenvögel in dem Garten umher, und die Frau bemerkte, wie Charos einige von ihnen fing, um Mahlzeit zu halten. Während er nun zusammen mit seinem Weibe, der Charontissa, speiste, schnitt sie das Kraut an der Quelle ab und machte sich dann auf und davon. Sie blickte aber auf ihrer Flucht hinter sich und sah, wie Charos nach der Mahlzeit von den versteinerten Kindern einige abschnitt und an ihnen roch, als wären es Rosen, und wie er von den übrigen versteinerten Menschen genoss, als wären es Früchte. Zu Hause angekommen ass sie das Kraut und gebar darauf ein Knäblein, so anmuthig und lieblich, wie nur auf der Welt eins sein kann. Als aber ihr Sohn herangewachsen und ein grosser Mann geworden war, erzählte ihm einst seine Mutter, was für einem Umstände er seine Geburt zu verdanken habe. Da liess sich auf einmal ein gewaltiges Getöse vernehmen, Charos erschien und nahm sich den Sohn zum Gärtner, die Mutter aber verwandelte er in seinem Garten in Stein.

Quelle: Bernhard Schmidt, Griechische Märchen, Sagen und Volkslieder. Leipzig 1877. S. 116 - 117.
(Nachdruck: Hildesheim, New York, 1978)