Der Spruch der Moeren. (Steiri.)

Anfang des Märchens. Guten Abend euch allen! Es war einmal in alten Zeiten ein junger Mann, ein Kaufmann, heisst es, der befand sich auf der Reise, und als es dunkel wurde, kehrte er in einem Hause ein. Die Frau seines Wirthes hatte kurz vorher ein Kind bekommen, und zwar ein Mädchen. Als nun die Leute im Hause sich schlafen legten, legte sich auch der Fremde nieder. Es war schon ein Theil der Nacht verstrichen, da hörte er drei Frauen sprechen. Er horchte auf, um zu vernehmen, was sie sagten. Da hörte er, dass von dem neugeborenen Kinde die Rede war. Die eine sagte: 'Es soll einen guten Mann bekommen, wenn's gross geworden.' Das nämliche sagte auch die zweite. Die dritte aber sprach: 'Nein! Es soll keinen andern Mann bekommen, als den Fremden, der hier auf der Erde liegt und schläft.' Als das der Fremde hörte, ward er zornig und sprach zu sich: 'Was? Ich, ein kräftiger Mann von dreissig Jahren, soll diesen Teufel da heirathen?' Und damit stand er auf, ergriff das Kind und warf es zum Fenster hinaus. Es fiel aber mit der Seite auf einen Pfahl und wurde angespiesst. Nun machte sich der Fremde aus dem Staube. Als nun am Morgen die Mutter aufstand und ihr Kind nicht mehr sah, suchte sie es in allen Ecken und fand es endlich an dem Pfahle hängend gleich einem kleinen Weinschlauch. Sie nahm es herunter und pflegte es gut, und das Kind genass. Nach Verlauf vieler Jahre beschloss jener Kaufmann sich zu verheirathen und hielt bei vielen an, erreichte jedoch seinen Zweck nicht. Nach einiger Zeit holte er sich eine Frau aus einem andern Orte. Als nun am Abend beide zu Bette gingen, bemerkte der Mann, dass seine Frau in der Seite eine grosse Narbe hatte. Er fragte sie, woher das komme, und da erzählte sie ihm, wie einst, als sie klein war, ein Fremder, der im Hause ihres Vaters eingekehrt, sie zum Fenster hinausgeworfen habe, und wie sie auf einen Pfahl gefallen und an der Stelle, wo die Narbe zu sehen, angespiesst worden sei. Da sagte ihr Mann zu ihr: 'Höre, Weib, ich war jener Fremde, von dem du sprichst. Ich hörte damals die Moeren sagen, das neugeborene Kind solle mich zum Manne bekommen, darüber ärgerte ich mich, da ich bereits dreissig Jahre alt war. Nun sieh, wie die Moeren es fügen: was sie einmal bestimmen, daran ändern sie nichts.' So sprachen sie mit einander und schliefen gut, und wir noch besser.

Quelle: Bernhard Schmidt, Griechische Märchen, Sagen und Volkslieder. Leipzig 1877. S. 67 - 68.
(Nachdruck: Hildesheim, New York, 1978)