Einleitung

Der vorliegende Band enthält Proben der Erzählungskunst der Inder seit den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Ausgeschlossen sind die buddhistischen Märchen, denen in den „Märchen der Weltliteratur" eine gesonderte Behandlung zuteil werden wird.

Wenn der Titel von „Märchen" spricht, so ist dieses Wort nicht in dem technischen Sinne zu fassen, den ihm die europäische Wissenschaft beilegt, sondern in dem allgemeinen Sinne der erdichteten Erzählung. Die Einteilung der Erzählungen in Märchen, Schwänke, Fabeln, Novellen, Sagen, Geschichte, Mythe usw. beruht auf der Weltanschauung der Europäer und den literarischen Formen ihres Schrifttums; für den Inder, der die Dinge, die ihn umgeben, mit völlig anderen Augen sieht als wir, hat diese Einteilung keinerlei Berechtigung.

Des Inders ganzes Leben von seiner Geburt bis zu seinem Tode ist von den religiösen Anschauungen beherrscht, in denen er aufwächst. Mit wenigen Ausnahmen aber sind die indischen Religionen noch heute wie in der grauen Vorzeit des wēdischen Altertums polytheistisch. Die Dreiwelt oder die drei Welten, d. h. die Welten der Götter, der Menschen und der Dämonen, mit anderen Worten Himmel, Erde und Unterwelt oder Hölle sind mit göttlichen und dämonischen Wesen aller Art gefüllt, die spätere Zeit kennt wie mehrere „Inseln", d. h. Kontinente, auf denen Menschen wohnen, auch mehrere Himmel und Höllen. Die verschiedenen Religionsgemeinschaften haben über diese Dinge zum Teil verschiedene Anschauungen entwickelt. Alte Götter sind aus ihrer ursprünglichen Machtsphäre im Laufe der Zeit herabgesunken, ja ganz aus dem Pantheon verschwunden, und neue sind in Menge an ihre Stelle getreten - aber der Grundzug der indischen Mythologie ist bis auf den heutigen Tag derselbe geblieben.

Die indische Götterwelt setzt sich zusammen aus anorganischen und organischen Naturkräften, die nur teilweise anthropomorph gedacht werden, aus Dämonen und aus Abstrakten. Die Dämonen werden namentlich in späterer Zeit sehr oft den Göttern gleichgesetzt und wie diese mit dēwa, „Gott", bezeichnet. Daneben treten vergöttlichte Menschen und Menschen, die auf Grund der Kaste, der sie angehören, auf Grund der Askese und auf dem Wege des Zaubers den höchsten oder niedrigeren Göttern gleichstehen. Alle diese Geschöpfe leben in Welten für sich unter eigenen Königen oder kommen nebeneinander in der Welt der Menschen vor. Der immer anthropomorph gedachte Götterkönig oder „König der 30 (32) Götter", der Himmelsgott Indra, der seinen diamantenen Donnerkeil (wadschra) als furchtbare Waffe führt, ist in alter Zeit der Fürst des Himmels. In späterer Zeit treten bei den Brahmanen über ihn das personifizierte Abstraktum Brahman (Andacht, Gebet) als persönlicher Gott und Schöpfer, Wischnu als Erhalter, Schiwa als Vernichter und Herr des Zaubers, dem die Krieger und die Räuber, die Hexen und Zauberer huldigen. Bei den Dschaina werden die 24 Propheten oder Dschina (Arhat) vergöttlicht und in späterer Zeit als die „Obergötter" betrachtet, denen alle anderen untergeordnet sind¹. Der König der Vögel ist der göttliche Adler Garuda, später als Wischnus Reittier gedacht, der König der Vierfüßler je nach den verschiedenen Gegenden Indiens der Löwe oder der Tiger, der König der Pflanzen in wēdischer Zeit der Sōma, das Kraut, aus welchem zu Opferzwecken der Unsterblichkeitstrank gebraut wurde. Das Gefäß, in dem dieses indische „Nektar" - in späterer Zeit Amrita, „Unsterblichkeit", genannt - bei den Göttern aufbewahrt wird, ist der Mond, der oft mit ihm unmittelbar identifiziert und ebenso oft zugleich persönlich gedacht wird. Denn die Inder haben die den alten Indogermanen überhaupt eignende merkwürdige Gabe, sich personifizierte Naturkräfte zugleich in ihrer elementaren und in ihrer vermenschlichten Gestalt vorzustellen, während es andererseits auch zahl reiche Stellen in der Literatur gibt, die von Verwandlungen aus der einen in die andere Gestalt sprechen.

Einige Beispiele für die höheren Wesen, welche nach indischem Glauben die Welten bevölkern, seien hier angeführt. Himmel (Winatā in Gestalt eines weiblichen Adlers), Erde (Kadrū in Gestalt einer weiblichen Schlange), Feuer (Agni), Sonne (Sūrja), Mond (Tschandra), Morgenrot (Aruna), walke (Pardschanja), Winde (Marut); Flüsse (Apsaras, zugleich Götterhetāren am Hofe Indras), namentlich die Gangā, der Strom, der aus der Welt der Götter, in der man sie als Milchstraße sieht, auf Schiwas Haupt herabfällt und von da aus durch die Welt der Menschen in die Unterwelt strömt; das Meer; der Himālaja, dessen Tochter Durgā, die mit blutigen Opfern verehrte Göttin, Schiwas Gemahlin ist; Bäume (der Rauhina im Sauparna, unten S. 353f.), die Wunschbäume und Wunschlianen in Nandana, dem Parke Indras, gelegentlich aber auch auf der Erde, welche alle an sie gerichteten Bitten erfüllen, wie unter den Steinen die Wunschedelsteine; Tiere: die Kuh, die überall in Indien als heiliges Wesen gilt und in der Wunschkuh Surabhi (S.370) und den anderen alle Wünsche gewährenden Wunschkühen ihre edelste Gestalt erreicht; die acht Weltelefanten, welche die Haupt- und Nebenhimmelsgegenden bewachen; der Reiher Nādīdschangha (S.41); der Rischi Tārkschja, ein Vogel (S.346); der Adler Garuda, der die Schlangen vertilgt (unten S. 94 und 344ff.), Frösche (unten S. 33 ff.), Schlangen, sowohl die himmlischen (S. 88) als die aus der Unterwelt auf die Erde emporsteigenden (S. 26, 72ff., 346ff., 358). Alle diese dämonischen Tiere können Menschengestalt annehmen. Unter den Gestalten, in denen Wischnu die Welt erlöste, befinden sich die tierischen des Fischs, der Schildkröte, des Ebers und des Schimmels. In einer anderen Verkörperung tritt er als Mischgestalt, halb Mensch, halb Löwe, auf, wie die die Gebirge bevölkernden Kimpuruscha oder Kinnara (S.40) als Wesen gedacht werden, die Roßköpfe auf Menschenleibern tragen. Außer dem bereits genannten, zum obersten brahmanischen Gott erhöhten Abstraktum Brahman gibt es noch andere Abstrakta, welche als Götter und Göttinnen gedacht werden und jederzeit Menschengestalt annehmen können: z. B. Wātsch, die Rede, die als Hymnus - Gebet oder Zauber - die Götter zum Geben zwingt, als Fluch, namentlich aus dem Munde eines Brahmanen, zu unfehlbarem Verderben führt. Die Segens- und Fluchformeln sind dem Inder noch heute nicht zu bloßen Höflichkeitsphrasen oder Interjektionen des Ärgers verblaßt, wie dem Europäer, sondern haben Zauberwirkung, wie in der Sūra-Geschichte unten S.137 f. der Siegeswunsch zum wirklichen Siege führt, so siegt in wēdischer Zeit Indra durch den Siegeswunsch und Lobpreis der Windgötter. Niemand denkt sich bei uns mehr etwas dabei, wenn er einem Niesenden „Gesundheit!" zuruft. Der Inder, der in gleichem Falle „dschīwa!" („lebe!") ruft, weiß, daß er damit verhindert, daß dem Niesenden der Lebenshauch aus der Nase fährt, die Metren erscheinen in Garuda verkörpert, z. B. im Sauparna (unten S. 345 u. 353). Ebenso erscheinen als Göttinnen oder Götter in Menschengestalt irgendwelche Zauber (S.238), besonders die Widjā, „Wissen", d.h. bestimmte als Göttinnen gedachte Zauber, durch deren Besitz man zu einer Art göttlichen Wesens, Widjādhara oder „Wissensträger", mit übernatürlichen Fähigkeiten wird (unten S.142 usw.), das Glück (die Göttin Lakschmi, auch - Reichtum und Herrschaft), das Bhāgja (die Folge guter Taten in einem früheren Dasein; unten S. 118). Im Rigwēda finden sich zwei Hymnen, die an den „Zorn" gerichtet sind (X, 83, 84). Wie die eben genannten Widjādhara durch den Besitz der Widjā, die man sich durch besondere Zeremonien noch aneignen (sādh) muß (S.155, 200, 220, 235 f.), zu göttlichen Wesen geworden sind, so erlangen die Jōgin, meist schiwaitische Asketen, durch Zauber übernatürliche Kräfte. Der Zauber spielt in Indien überhaupt eine große Rolle; wer die verschiedenen Geheimwissenschaften studiert, vermag sich zum Herren der Menschen wie höherer Wesen zu machen (S. 145). Häufig erwähnt wird die namentlich durch Zauber bewirkte Herstellung eines goldenen Mannes, dessen abgeschnittene Glieder sich immer wieder ergänzen (S. 235, 291, 329), wie man sich andererseits durch eine alchimistische Flüssigkeit Gold verschaffen kann (S.185 ff.). Durch Zauberpillen und magische Stirnzeichen vermag man seine Gestalt zu verwandeln (S. 211 ff., 237 ff.). Dem Schiwa und seiner Gemahlin Durgā (Dēwī, Bhattārikā), deren Tempel auf den von allem Spuk umgebenen Verbrennungsplätzen stehen, welche zugleich Richtstätten und oft im Walde gelegen sind („Väterhaine", d. h. Ahnenhaine), huldigen auch die hexen, die die übernatürliche Macht, die sie besitzen, namentlich dem Genuß von Menschenfleisch verdanken. Sie suchen darum nächtlicherweise die Verbrennungsplätze auf und verzehren die Leichen oder wissen sich auf andere weise Menschenfleisch zu verschaffen, weiter gewinnt man übernatürliche Kräfte durch strenge Askese, und ganz allgemein als Götter, die auf Erden wandeln, als „Erdengötter" (bhūdēwa) werden die Brahmanen bezeichnet, der jeweilige Oberpriester der verschiedenen wischnuitischen Zeiten gilt als Inkarnation Wischnus. Sonst genießen nur der König und die Königin göttliche Ehren, indem man sie mit dēwa, „Gott", und dēwī, „Göttin", anredet, was wir nach altem Herkommen abschwächend mit „Majestät" übersetzen. Zauberzeremonien sind die Opfer, durch die man die Götter in seine Dienste zwingt, seine Gegner vernichten und alles erreichen kann, was man will.

Unter den Dämonen sind besonders die Rākschasa (fem. Rākschasī) zu nennen, welche teils eigene Staaten bewohnen (s. unten S. 43), teils in der Menschenwelt und meist nächtlicherweile ihren Spuk treiben und sich von Menschenfleisch nähren, auf menschliche Frauen lüstern sind (S. 99 f.), in ihrer weiblichen Form auch die Pest verursachen (S.241 f.) und Schwangeren gefährlich werden (S. 241), wie andere Dämonen die Menschen durch andere Krankheiten schädigen (S.74) und die Empfängnis verhindern (S.199); niedere Götter sind die Jakscha, welche sich die brahmanischen Inder als Diener Kubēras, des Gottes des Reichtums, denken, während sie bei den Dschaina ohne diese Beschränkung oft als Schutzgottheiten, von Dörfern und Städten, aber auch als Diener der Dschina erscheinen. Die Dämonen Hausen namentlich gern auf Feigenbäumen (njagrōdha, vata, pippala), besonders wenn diese auf Leichenverbrennungsplätzen stehen.

Nachdem in spätwēdischer Zeit die Lehre von der Einheit der Einzelseele mit der Weltseele allgemeine Verbreitung gefunden, entwickelte sich aus ihr die Seelenwanderungslehre, die Lehre, welche behauptet, daß jede Einzelseele eine Reihe von Tier-, Menschen-, Dämonen- oder Götterexistenzen durchmachen muß, bis sie erlöst werden kann. Die Taten (karman) bestimmen das folgende Dasein. Existenzen im Himmel sind bei den Dschaina noch nicht gleichbedeutend mit der Erlösung; diese besteht erst in dem völligen Aufhören des Daseins, dem Nirwana (S.201), während sie bei den brahmanischen (hinduistischen) Indern mit dem Aufenthalt im Himmel des Gottes der betreffenden Religionsgemeinschaft oder Kaste zusammenfällt. Der „Schatz guter Werke" (punja), der bei den Dschaina besonders durch Schonung alles Lebens, durch Tempelbauten, durch Unterstützung der Mönche und der Armen und durch ein sittlich einwandfreies Leben erworben wird, zeitigt Glück in den folgenden Existenzen, während jedes vergehen in ihnen Unglück zur Folge hat. Eine Vergebung der Sünden kennt diese Religion nicht.

Bei den anderen indogermanischen Völkern sind in historischer Zeit die Menschen durch eine feste Schranke von den anderen Wesen der Schöpfung getrennt; doch weisen Spuren im Glauben und Aberglauben und zahlreiche alte Sagen darauf hin, daß in den ältesten Zeiten bei ihnen diese Schranken ebensowenig vorhanden waren wie bei den Indern. Bei diesen hat es gar nichts Auffälliges, wenn im Rigwēda (X, 86) ein Affe als Hausgenosse und Freund Indras erscheint und zwei- bis dreitausend Jahre später ein anderer als Freund und Bundesgenosse des indischen, in nachchristlicher Zeit vergöttlichten Nationalhelden Rāma auftritt, oder wenn unten S.41 ff. ein Reiher der gemeinsame Freund des höchsten Gottes Brahman und eines Rākschasa, S. 101 ein Rākschasa der Freund eines Affen ist. In dem merkwürdigerweise in seiner Wichtigkeit für die Geschichte des indischen Epos und Dramas von der indologischen Wissenschaft völlig verkannten Sauparna (unten S.244 ff.) verkehren ungezwungen miteinander der Vogel-Asket Tārkschja, die als Adlerweib und Schlange gestalteten, Eier legenden Himmel und Erde, der Adler Garuda und die Schlangen, die Sonne, der Mond (Sōma), das Morgenrot Aruna. der Baum Rauhina, der Gott Indra und die menschlich gestalteten Asketenscharen der Wālakhilja und Wai-kānasa, von denen die ersteren daumengroße Zwerge sind; von den wunderbaren Mondwächtern ganz zu schweigen, welche uns Indra nennt und welche der Adler besiegt hat. Kein europäisches Märchen vereinigt soviel heterogene Wesen in sich, wie in dieser wēdischen Dichtung erscheinen und teilweise sogar als nahe Blutsverwandte dargestellt werden. Bei den anderen Indogermanen trennte sich mit fortschreitender Kultur der Mensch von den übrigen Geschöpfen: bei den Indern wurde er ihnen noch mehr genähert durch die Seelen-Wanderungslehre, die noch heute das religiöse Denken der Hindu beherrscht. Nach dieser Lehre besteht zwischen Pflanzen. Tieren, Menschen, Dämonen und Göttern überhaupt kein Wesensunterschied; nur die bei einzelnen von ihnen sogar in demselben Dasein, bei allen in den verschiedenen Existenzen wechselnden äußeren Gestalten sind zeitweilig verschieden. So können die Inder denn auch weder Tiererzählung noch Märchen als besondere Gattungen empfinden, wie sie andererseits keine wirkliche Geschichte als Wissenschaft entwickelt haben. Für die Hindu verschwimmen Geschichte und Märchen, Wirklichkeit und Dichtung völlig ineinander. Alle Erzählungen ihrer großen Literaturen gelten ihnen als gleich wahr oder zum mindesten als gleich möglich. Darum mangelt ihren Märchen - abgesehen von manchen in dschaina-theologischen Kommentaren auftretenden lehrhaften Geschichten - auch die Unbestimmtheit der europäischen; sie beginnen nicht mit einem allgemeinen „Es war einmal", sondern nennen fast immer Stadt und Land, König und Kanzler, auch wenn diese in der betreffenden Erzählung gar keine Rolle spielen, und natürlich erst recht die Helden der Erzählung, mit Namen, viele Erzählungssammlungen und Erzählungen, welche wir als Märchen bezeichnen würden, sind in Indien mit historischen Persönlichkeiten verknüpft (Wikramāditja, Mundscha, Bōdscha). was wir als Märchen oder Legende oder Sage betrachten, hat in den Augen des Inders, der an alle die Wunder-Wesen und Wunderdinge glaubt, die in ihnen vorkommen und nach seiner Überzeugung ihn täglich und stündlich umgeben und sein Leben beeinflussen, denselben Wert wie für uns die Geschichte oder der realistische Roman. Und wenn sich das Außergewöhnliche in Erzählungen, wie der von Sūra und den Hexen (unten S.130 ff.) oder in dem „Märchenroman" von Mahābala und Malajasundari (untenS.185 ff.), in besonderem Maße häuft, so findet auch dies seine nach indischer Anschauung ganz natürliche Erklärung, sobald am Ende dieser Erzählungen ein allwissender Mönch den Helden derselben auseinandersetzt, wer sie in früheren Existenzen gewesen sind und was sie getan haben, und ihnen ihre wunderbaren Erlebnisse im gegenwärtigen Dasein als Folgen ihrer Taten im vergangenen erläutert.

Will man demnach von Einteilungsversuchen indischer Theoretiker absehen, die an Äußerlichkeiten kleben, wie denen, ob der Held selbst oder ein anderer die betreffende Geschichte erzählt, so kann man, da die weitaus meisten Erzählungssammlungen der Inder belehrende Zwecke verfolgen, nur dem Dschaina-Schriftsteller Haribhadra (vgl. S. 374) recht geben, wenn er die Erzählungen einteilt in solche, die dem Nutzen, solche die der Liebe, solche, die der Religion dienen und solche, die mehrere dieser Zwecke zugleich verfolgen. Diese Einteilung beruht auf den drei indischen Lebenszielen. Unter den Erzählungen, welche dem Nutzen dienen, sind solche zu verstehen, die Klugheit lehren, teils unmittelbar, indem sie zeigen, wie man im öffentlichen und im Privatleben klug handeln soll, teils mittelbar, indem sie - wie die Narrenbücher - darlegen, wozu törichtes Handeln führt. Zu der ersten Art gehört das Pantschatantra in allen seinen Fassungen; die zweite Art hat Verfasser als Gattung nachgewiesen in seiner Abhandlung „Ein altindisches Narrenbuch" 2 . Die vorliegende Sammlung bietet ein weiteres Beispiel in den „32 Erzählungen der Bharataka" (S. 148ff.). Unter den Erzählungen, die der Liebe dienen, versteht Haribhadra wahrscheinlich Werke der Art, wie Kschēmēndras Samajamātrikā und Dāmodaraguptas Kuttanimata 3,vielleicht auch bestimmte Arten des Kunstromans.

Wollte Verfasser also nicht ein falsches Bild der indischen Märchenliteratur geben, so durfte er sich bei seiner Auswahl nicht an die europäische und nur für die europäische Kultur gültige Definition des Märchens binden, sondern mußte charakteristische Erzählungen aller Art bringen. Bei dem beschränkten Raum, der ihm für seine Auswahl aus einer etwa dreitausend Jahre lang gepflegten und unendlich reichen Literatur zu Gebote stand, mußte er darauf verzichten, in der Einleitung eine eigentliche Geschichte dieser Literatur zu geben. Aus demselben Grunde verbot sich - von einzelnen besonderen Fällen abgesehen - ein Nachweis von Parallelstellen, der, sollte er nicht sehr dürftig ausfallen und daher wertlos sein, unverhältnismäßig viel Raum beansprucht hätte.4. Ebenso mußten die Anmerkungen so knapp wie möglich gefaßt werden.

Die indischen Erzählungen werden in verschiedenen Formen vorgetragen, in einfacher Prosa, in Prosa mit eingelegten Märchenstrophen, wie sie uns, aus den Märchen der Brüder Grimm geläufig sind (in der MBh.-Erzählung S.35 werden zwei solche Strophen ausdrücklich zitiert), und namentlich Strophen didaktischen Inhalts, und in ganz metrischer Form, endlich in einer Mischung von Erzählung und Dialog oder in reinen Monologen und Dialogen. In diesen Monologen, Dialogen und der Mischung von Dialog und Erzählung liegen zugleich die ältesten Formen des indischen Dramas vor. Noch heute bestehen die volkstümlichen Dramen der Inder genau wie das Sauparna (unten S. 344 ff.) aus Dialog und Erzählung.

Aus der Zeit der wēdischen Hymnen sind nur Monologe und Dialoge überliefert. Die Erzählungen der Brāhmana sind prosaisch. Von der spätwēdischen Zeit an finden wir metrische und aus Prosa und metrischen Bestandteilen gemischte Erzählungen, die Hauptmasse der brahmanischen Erzählungen findet sich im Mahābhārata, im Rāmājana und in den Purānen. Bedeutendere Erzählungswerke brahmanischer Verfasser sind weiter das Tantrākhjājika, Dandins „Abenteuer der zehn Prinzen" und Sōmadēwas große Sammlung „Meer der Ströme der Erzählungen". Da die Brahmanen nicht predigen, so lag für sie kein Anlaß vor, die religiöse Erzählung weiter zu pflegen. Der Roman artete bei ihnen schließlich zu einem Vorwand aus, die Sprache in ihrer gekünsteltsten Form und die Vertrautheit des Verfassers mit allen heimischen Wissenschaften an einem völlig gleichgültigen Stoff zu zeigen und hat in diesem Falle für die indische Erzählungsliteratur keinen Wert. Dagegen haben es die Dschaina verstanden, Erzählungen aller Art zur Ausbreitung ihrer Lehre zu verwenden. Sie sind auf dem Gebiete der Literatur die Haupterzähler der Inder und haben die Erzählung in allen Formen und in Sanskrit, in Prākrit und in den neueren indischen Volkssprachen gepflegt.

Für die Auswahl, die Verfasser im vorliegenden Bande bietet, waren folgende Gesichtspunkte maßgebend. Gewisse Hauptwerke der indischen Erzählungsliteratur mußten unbedingt vertreten sein. Lagen von ihnen indessen schon deutsche, französische oder englische Übersetzungen des Ganzen oder bedeutender Teile vor, so begnügte er sich mit Proben geringen Umfangs, um aus anderen Werken, die meist noch nicht einmal in der Urschrift veröffentlicht sind, bisher Unbekanntes bieten zu können. Die selbst in wissenschaftlichen Kreisen herrschende Ansicht, die Hauptwerke der indischen Erzählungsliteratur seien bereits allgemein zugänglich, ist nämlich ebenso verzeihlich wie - irrig. Man darf also von der vorliegenden Sammlung nicht erwarten, daß sie wirklich aus allen Hauptwerken der indischen Erzählungsliteratur Proben bäte. Sie sucht nur die Hauptgattungen dieses Schrifttums nach Quellen verschiedensten Alters zur Darstellung zu bringen, die dem Verfasser erreichbar waren, die brahmanischen Quellen waren alle im Druck zugänglich; von den übrigen Erzählungen beruhen nur die aus der Māhārāschtrī-Sprache übersetzten und die der Thirad Afrōs auf Drucken, alle anderen auf Handschriften, welche dem Verfasser größtenteils von dem Dschaina-Bischof Schāstrawischāradadschainātschārja Schrī Widschaja Dharma Sūri geliehen worden sind. Da in den meisten Fällen nur jeweilig eine und natürlich stets fehlerhafte Handschrift zur Verfügung stand und da die volkstümlichen Stücke S. 290ff. obendrein in Mundarten abgefaßt sind, welche noch keine lexikalische Behandlung erfahren haben, so sind in diesen Texten einzelne, durch Fragezeichen in Klammer und wo nötig in den textkritischen Bemerkungen (S. 383ff.) stets bezeichnete Stellen unsicher, von der nach Ausweis der indischen Bibliothekskataloge reichen Literatur in Māhārāschtri ist leider nur sehr wenig für unsere Zwecke Brauchbares veröffentlicht, und Handschriften sind gegenwärtig nicht zu beschaffen. Absichtlich habe ich von in der Weltliteratur verbreiteten Stoffen - sei es, daß sie auf gemeinsamem Erbe der Indogermanen beruhen oder durch Wanderung von Volk zu Volk im Osten und Westen heimisch geworden sind - verhältnismäßig wenig aufgenommen, da ich dem Leser vor allem Erzählungen bieten wollte, die ihm nicht schon aus den Literaturen anderer Völker bekannt sind.

Die Übersetzungen sind möglichst sinngetreu und lassen nirgends etwas deutschem Empfinden Anstößiges aus. Außer bei zwingendem Anlaß sind die metrischen Urschriften in Prosa wiedergegeben, wo in der Urschrift Zitatenstrophen stehen, sind diese in der Übersetzung durch Einrückung kenntlich gemacht.

Zu den einzelnen Stücken unserer Sammlung sei auf die Anmerkungen am Ende des Buches verwiesen.

¹ Der zur Verfügung stehende Raum verbietet hier ein genaueres Eingehen auf die Anschauungen der verschiedenen Religionsgemeinschaften der Inder. Die für das Verständnis der Dschaina-Literatur wichtigen religiösen Anschauungen der Dschaina sind kurz dargelegt in der Einleitung zu des Verfassers Buch: „ausgewählte Erzählungen aus Hèmacandras Pariśistaparvan." Leipzig, W. Heims, 1908 S. 10ff.

² BDKSGWL, ph.-h. Kl., 64.Bd., 1912, 1. Heft

3 Beide übersetzt von Johann Jacob Meyer, Lotus-Verlag, Leipzig (o. J.).

4 Mit * bezeichnete Nachweise hat Herr Professor von der Leyen gegeben.

Quelle: Johannes Hertel, Indische Märchen, Jena 1919, S. 4 - 14
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Christine Haack, März 2005.