DIE DREI GESCHICHTEN VOM ROSENGARTEN
KÖNIG LAURIN

Vor kurzem habe ich euch die Sage vom Alpenglühen erzählt und von dem Berge bei Bozen, den man "Rosengarten" nennt. Eine andere Sage berichtet, daß dieser Berg hohl sei und daß in seinem Innern viele Zwerge wohnen. Sie kommen auch manchmal auf die Felsen heraus, besteigen die Spitzen und sehen sich die sinkende Sonne an. Wenn dann die Almhirten vor ihren Hütten sitzen und in die Stille des Abends hinaushorchen, dann hören sie oben im Geklüfte Steine fallen und vernehmen ferne, seltsame Laute. Das machen die Zwerge, die oben herumwandern und sich etwas zurufen. Sie pflegen den Rosengarten, bewässern ihn und halten ihn im besten Stand. Außerdem besitzen sie Bergwerke, aus denen sie große Schätze hervorholen. Sie hatten auch einen König, der hieß Laurin und war klein von Gestalt, jedoch sehr tapfer. Das Roß, das er ritt, hatte nur die Größe einer Geiß; er besaß aber eine Rüstung mit unvergleichlichen Eigenschaften. Dazu gehörte eine Tarnkappe, mit der er sich unsichtbar machen konnte, und ein Gürtel, der ihm Zwölf-Männer-Kraft verlieh.

Eines Tages erhielt Laurin Kunde von einer fremden Prinzessin, die Similde hieß und sehr schön war. Er beschloß, um diese Prinzessin zu freien, denn er wollte sie zu seiner Königin machen. Deshalb schickte er drei Boten an ihren Vater. Die Boten wurden aber nicht nur abgewiesen, sondern auch noch schlecht behandelt und auf dem Heimwege sogar verfolgt. Da ergrimmte Laurin und tat etwas, das er niemals hätte tun dürfen: er beschloß, die Prinzessin zu rauben! Also stieg er zu Pferde, setzte die Tarnkappe auf, die ihn unsichtbar machte, und begab sich vor die Burg, in der Similde wohnte. Als diese nichts ahnend im Freien lustwandelte, hob er sie aufs Pferd und ritt mit ihr von dannen bis in seinen Rosengarten. Hier ließ er sie zwar wie eine Königin behandeln, aber er hielt sie gefangen, denn sie durfte und konnte den Rosengarten nicht verlassen.

Die Nachricht von dem Raube der Prinzessin verbreitete sich schnell, und es geschah, daß einige Recken auszogen, um sie zu befreien. Unter ihnen war der berühmte Dietrich von Berne. Sie begaben sich in Laurins Reich und verwunderten sich sehr, als sie den herrlichen Rosengarten erblickten; insbesondere staunten sie darüber, daß der Garten nicht mit Wall und Graben, sondern nur mit einem goldglänzenden Seidenfaden umzogen war. Dietrich war so erfreut von dem Duft und Anblick des Rosengartens, daß er sich nicht entschließen konnte, den Faden zu zerreißen und in den Garten einzubrechen. Aber einer seiner Gesellen tat es. Kaum war das geschehen, so erschien der König Laurin und forderte Sühne. Es kam zu einem Kampfe, bei dem die Recken in schwere Bedrängnis gerieten. Selbst der sieggewohnte Dietrich konnte sich des kleinen Laurin kaum erwehren. Dietrichs Waffenmeister aber wußte, daß Laurin einen Stärkegürtel besaß; deshalb rief er seinem Herrn zu, er möge Laurins Gürtel zerreißen. Als Dietrich dies getan hatte, verlor Laurin seine übernatürliche Stärke und konnte endlich überwältigt werden.

Nun schloß man Frieden und begab sich gemeinsam in den Rosengarten, wo Similde weilte und wo die Recken glänzend bewirtet wurden. Doch der Friede war nicht von Dauer; es gab wieder Streit und der Kampf begann von neuem. Laurin wurde zum zweiten Male besiegt und der größte Teil seiner Zwerge erschlagen. Dann zogen die Recken mit Similde fort.

Laurin aber war traurig und hatte nun keine Freude mehr an seinem Rosengarten. Deshalb verließ er ihn und begab sich auf einen öden Vorgipfel des Gebirges, wo nur Steinhalden und Legföhren sich ausbreiteten und wo über den ragenden Felszinken das Geschrei der Lämmergeier zu hören war.

Hier verbrachte Laurin kummervolle Jahre.


Quelle: Dolomitens Sagen, Sagen und Überlieferungen, Märchen und Erzählungen der ladinischen und deutschen Dolomitenbewohner, Karl Felix Wolff, Bozen 1913