DER KÖNIGSSOHN

Vor alten Zeiten lebte ein mächtiger, weiser König, der herrschte weit über Land und Leute, und seine Untertanen waren zufrieden und glücklich, denn er regierte weise und milde und war ein Vater seiner Untergebenen. Als er nun alt und schwach geworden war und sein müdes Haupt die schwere Krone nicht mehr zu tragen vermochte, wollte er sie seinem ältesten Sohn übergeben, dass er sein Nachfolger im Reich werde. Als aber die jüngeren Söhne dies hörten, traten sie zum alten König und sprachen: "Unser Bruder ist nicht recht bei Verstand und folglich zum König nicht geschaffen; gib einem von uns deine Krone, damit wir sie deiner würdig tragen und durch Einsicht und Tugend deinem Namen Ehre machen." Da antwortete ihnen der König: "Damit ferner kein Streit unter euch sei, will ich euch eine Probe auferlegen! Geht hin in die Nachbarländer und wer mit dem schönsten Becher wiederkehrt, der soll König sein und ihr anderen sollt nicht mehr streiten, sondern in Gehorsam und Treue ihm untertan bleiben."

Mit frohen Herzen gingen die beiden jüngeren Brüder miteinander, den Becher zu suchen, der Älteste aber schritt allein durch den Wald und war traurig, dass seine Brüder ihm sein gutes Recht nehmen wollten und sagten, dass er nicht recht bei Verstand sei. Als er so einige Zeit in Gedanken dahin gewandert war, stand plötzlich vor seinen Augen ein großes, prächtiges Schloss, das er noch niemals gesehen hatte, sooft er auch durch den Wald gegangen war. Tor und Türen standen offen und er konnte ungehindert hineingehen und die Stiege hinaufsteigen. Er schritt durch das erste Zimmer, aber kein menschliches Wesen ließ sich darin sehen; er ging nun weiter und weiter durch eine lange Reihe der prachtvollsten Zimmer, bis er endlich an das letzte gekommen war. Da trat ihm eine Katze entgegen, setzte sich vor ihm auf die hinteren Füße und fragte ihn mit wohlwollender Stimme, was sein Begehren sei. "Liebe Frau Katze," entgegnete ihr beherzt der Jüngling, "ihr könntet mir einen recht großen Gefallen erweisen, wenn ihr mir einen Becher bringt, denn das Glück meines Lebens hängt davon ab, dass ich einen schöneren nach Hause bringe, als meine beiden Brüder, welche auch ausgegangen sind, ein solches Kleinod zu suchen." Die Katze nickte freundlich mit dem grauen Kopf, ließ sich auf ihre vorderen Pfoten nieder und eilte davon. Wenige Augenblicke waren verstrichen, so kam sie wieder und legte einen großen, prächtigen Becher in die Hände des Jünglings. Er konnte sich aber vor Erstaunen und Freude kaum fassen, als er den schönen, funkelnden Becher sah. Er war aus purem Gold und Edelstein. Wundersame Bilder waren darauf ausgeprägt, Schlachten, Ritterfahrten und Hochzeiten, und der Becher gab einen so hellen Schein, als ob die untergehende Sonne ihre vollen Gluten in das Zimmer geworfen hätte.

Als er endlich wieder zur Besinnung kam und der guten Katze für ihr schönes Geschenk danken wollte, war sie längst entschwunden und er stand allein und wusste nicht recht, wie ihm geschehen war. Schnellen Schrittes eilte er nun über die Treppe und durch den Wald nach Haus. Dort waren seine Brüder mit ihren Bechern schon angekommen und erwarteten ihn. Als er nun mit seinem herrlichen, leuchtenden Pokal zu ihnen hintrat, mussten sie wohl selbst gestehen, dass er das schönste Kleinod gefunden habe und von Rechts wegen die Krone verdiene; aber sie bestürmten nur desto mehr ihren alten Vater ihnen noch eine Probe aufzuerlegen, und hörten nicht auf zu flehen, bis er endlich ihren Bitten nachgab. "So geht denn in Gottes Namen", sprach er, "noch einmal aus und wer das schönste und beste Schwert heimbringt, der soll ohne allen Widerspruch König sein und die anderen sollen ihm gehorchen."

Zufrieden mit diesem Spruch eilten die beiden jüngeren Brüder wieder gemeinsam fort. Der Älteste aber ging in den Wald und dem Schloss zu, wo seine Wohltäterin, die Katze, wohnte. Dieses Mal war sie ihm schon auf der Treppe entgegengekommen und fragte ihn mit schmeichelnder Stimme, was er wolle. "Liebe Katze", entgegnete er, "sei doch so gut und bring mir ein recht schönes und gutes Schwert; du wirst mich zu ewigem Dank verpflichten, denn wenn ich ein schöneres heimbringe als meine Brüder, so werde ich König sein und sie müssen mir dienen."

Die Katze nickte freundlich mit dem grauen Kopf, sprang lustig davon und kam bald mit einem großen, schönen Schwert wieder, das sie mit dem reichen Wehrgehänge dem erstaunten Jüngling um die Hüften gürtete. "Kehrst du noch einmal zurück", rief sie ihm zu, indem sie ihm ihre weichen Pfoten zum Abschied entgegenstreckte, "so fasse mich nur an den beiden Hinterfüßen, trage mich in die Küche und schlage mich so lange an den Herd, bis du nichts mehr von mir siehst."

Mit diesen Worten war die Katze entschwunden und der Jüngling kehrte nach Hause zurück und dachte hin und her, was diese Rede wohl bedeuten möchte. Als er bei Hofe anlangte waren seine Brüder mit ihren Schwertern schon angekommen und glaubten sicher, dass sie den Preis erringen würden. Aber so schön ihre Waffen auch waren, sie konnten sich mit dem Schwert ihres Bruders nicht vergleichen und der Alte zögerte nicht, dem Sieger seine Krone als Preis zuzuerkennen. Da traten die beiden jüngeren Söhne noch einmal zu ihm und ließen nicht nach ihn mit Bitten und heißen Tränen zu bestürmen, ihnen nur noch eine letzte Probe zu gestatten, bis er endlich ihren Worten nicht länger widerstehen konnte und in ihr Begehren einwilligte. „So geht denn zum dritten und letzten Mal hin und wer die schönste Braut nach Hause bringt, der soll sie zur Frau haben und König sein."

Darüber waren nun die beiden jüngeren Brüder sehr erfreut und der Älteste gab sich damit zufrieden, denn er zweifelte nicht, dass seine Freundin, die Katze, ihm in dieser letzten und härtesten Probe beistehen werde. Ohne sich lange zu besinnen eilte er durch den Wald dem Schloss zu und erinnerte sich gar wohl des Auftrages, den er das letzte Mal erhalten hatte. Als er zum Schloss kam, stand die Katze schon unter dem Tor, winkte ihm entgegen und fragte ihn gar freundlich, was denn diesmal sein Begehren sei. Der Jüngling aber antwortete ihr nicht, sondern hob sie an ihren hinteren Füßen empor, trug sie in die Küche und schlug sie so lange an den Herd, bis er nichts mehr von ihr sah. Da war es plötzlich, wie wenn eine Wolke vor seinen Augen zerronnen wäre, und eine herrliche Jungfrau stand vor ihm, schön, wie er noch keine gesehen, und er hielt den goldenen Saum ihres langen, wallenden Gewandes in seinen bebenden Händen. "Willst du mit mir zu meinem Vater kommen?" sprach der entzückte Jüngling, indem er die errötende Jungfrau mit seinen Armen umschlang, "so sollst du meine Braut und Königin sein." Sie winkte ihm lächelnd entgegen und reichte ihm ihre weiße, zarte Hand, auf dass er sie zu seinem Vater führe.

Unterdessen waren die beiden jüngeren Söhne schon mit ihren Bräuten gekommen und harrten mit klopfendem Herzen des ältesten Bruders. Als nun dieser mit der herrlichen Jungfrau in den Saal trat, da neigten sich alle in Ehrfurcht vor ihr und der alte König stieg vom Thron nieder und setzte die goldene Krone auf das Haupt des ältesten Sohnes. Er legte einen blühenden Kranz um die Locken der Jungfrau, die Brüder huldigten ihrer Königin und gestanden es zu, daß ihr Bruder den höchsten Preis errungen habe.


Da kommt die Maus,
Das Märlein ist aus.


(Meran.)


Quelle: Kinder- und Hausmärchen aus Tirol. Gesammelt durch die Brüder Ignaz Vinc. und Josef Zingerle, herausgegeben von Ignaz Vinc. von Zingerle. Innsbruck 1911, Nr. 9, Seite 43