Der Todtenarm ([Totenarm] II braccio di morto)

In einem Dorfe war die Sitte, dass beim Tode eines Bruders die Schwester und beim Tode einer Schwester der Bruder die ersten drei Nächte beim Grabe auf dem Friedhofe wachen musste. Einmal war ein Mädchen gestorben und ihr Bruder, ein starker unerschrockener Jüngling, hielt auf dem Friedhofe die Wache.

Als die Stunde der Mittemacht schlug, kamen drei Gespenster zu ihm und fragten ihn: "Willst du mit uns spielen?" "Warum nicht?" erwiederte. er, "aber wo wollt ihr denn spielen?" "Wir spielen in der Kirche," sagten sie. Darauf führten sie ihn in die Kirche und stiegen in eine weite Gruft hinab; da standen viele morsche Särge und Iagen Haufen von menschlichen Gebeinen durcheinander. Sie nahmen Gebeine — "das sind unsere Kegel" — und einen Todtenkopf [Totenkopf] — "das ist unsere Kugel", sagten sie. Darauf stiegen sie wieder in die Kirche herauf, stellten dort ihre Kegel auf und fingen an zu kegeln; auch sezten sie viel Geld ein. Muthig kegelte der Bursche mit und gewann ihnen alles Geld ab. Nach einer Stunde trugen sie die Kegel wieder in die Gruft hinab und verschwanden.

In der zweiten und dritten Nacht spielten sie wieder auf dieselbe Weise und der Jüngling gewann ihnen wieder alles Geld ab. Zulezt führten sie ihn in die Gruft und Einer der gespenstigen Männer sagte: "Weil du keine Furcht gehabt und uns erlöst hast, wollen wir dich belohnen." Darauf gab er ihm einen Todtenarm [Totenarm], dessen Gelenke fest in einander hingen und sagte: "Nimm diesen Arm, er ist dir mehr werth als das beste Schwert. Wen du nur immer damit berührst, sei es auch der stärkste Riese, der fällt augenblicklich todt zu Boden." Darauf verschwanden sie.

Am Morgen brachte der Jüngling das gewonnene Geld seinem Vater und sagte: "Lieber Vater, ich will in die Welt gehen, mein Glück zu suchen." Der Vater gab ihm seinen Segen und gute Lehren; der Jüngling aber zog aus, indem er den Todtenarm wol unter den Kleidern verborgen hielt.

Er kam in eine grosse Stadt, die war überall mit schwarzen Tüchern behangen und voll Trauer. Er fragte den ersten, dem er begegnete, nach der Ursache und dieser antwortete: "Wisse, dass in der Nähe der Stadt ein schwarzes Schloss steht, in welchem viele böse Zauberer wohnen. Der König hat ihnen zuerst alle Fräulein und Damen vom Hofe und vor einigen Tagen sogar seine einzige Tochter hinschicken müssen; jezt muss er täglich auch drei Soldaten hinsenden und es kehrt nie mehr Einer zurück. Wer das Land von den Zauberern befreite, möchte wol so reich und angesehen werden, dass ihm kein Wunsch mehr übrig bliebe."

Als der Jüngling dies gehört hatte, liess er sich sogleich dem Könige vorstellen und erklärte ihm, er wolle das Schloss von den Zauberern befreien. "Wenn du dies vermagst", erwiederte der König, "und wenn du meine arme Tochter befreiest, so sollst du sie zur Gemalin erhalten und mein Reich erben. Du musst aber drei Nächte im Schlosse zubringen; wenn du nun glücklich bist, so bitt' ich dich, am ersten Morgen einen, am nächsten zwei und am dritten drei Schüsse aus den Kanonen abzufeuern, welche oben auf der Schlossmauer stehen."

Als es Abend wurde, begab sich der Jüngling in das schwarze Schloss. Er ging über die Stiegen hinauf und trat in einen Saal, da stand eine grosse mit Speisen bedeckte Tafel, die Stühle aber waren mit der Lehne gegen den Tisch gekehrt. Er liess alles stehen, wie es war, ging in die Küche hinaus, schürte ein Feuer an und sezte sich an den Herd, indem er den Todtenarm in der Hand hielt. Um Mitternacht hörte er Stimmen im Kamine rufen: "Wir haben schon so viele getödtet und werden dich auch tödten!" Daraufkamen drei Zauberer herab, die hatten grimmige Gesichter und so lange Nasen, dass sie damit fast bis auf die Erde reichten. Der Jüngling aber schlug ihnen mit dem Todtenarme die Nasen ab, so dass sie todt hinfielen. Darauf ging er schlafen. Am Morgen feuerte er der Verabredung gemäss die erste Kanone ab und als es der König hörte, hatte er grosse Freude und die ganze Stadt mit ihm.

Als er am folgenden Abend wieder in den Saal trat, fand er schon einen Theil [Teil] der Stühle umgekehrt und in die rechte Stellung gebracht. Zugleich kamen mehrere traurige schwarzgekleidete Jungfrauen herein, die baten ihn flehentlich, er möge doch ausharren und sie befreien. Dann sezten sie sich zu Tische und assen und er ass auch mit. Hernach gingen sie alle wieder fort, er aber begab sich in die Küche und erwartete am Herde sitzend die Mitternacht. Als die Stunde schlug, riefen wieder Stimmen im Kamin: "Spitzbube, du hast unsere Brüder ermordet, nun wollen wir dich ermorden!" Es kamen abermals drei langnasige Zauberer herab, der Jüngling aber schlug sie todt und ging schlafen. Am Morgen krachten auf dem Mauerwalle des Schlosses zwei Kanonenschüsse.

Am dritten Abende fand er im Saale noch mehr Stühle umgekehrt und es kamen noch mehr schwarzgekleidete Jungfrauen herein, als am vorigen Abend. "Nur heute noch", riefen sie bittend, "und du wirst uns alle erlösen." Sie assen mit ihm und gingen wieder fort; er aber sezte sich in der Küche an den Herd. Um Mitternacht riefen viele Stimmen im Kamine: "Spitzbube, du hast unsere Brüder ermordet, heute sollst du das Leben lassen!" Da kamen viele Zauberer mit langen Nasen herab, aber so viele, als da kamen, so viele schlug er todt und hatte wenig Mühe, denn er brauchte sie mit dem Todtenarme nur zu berühren und sie lagen schon todt da. Nun ging er schlafen; aber kaum krähte der Hahn, so ward im Schlosse alles lebendig und viele in bunte Farben gekleidete vornehme Fräulein traten in sein Zimmer, um ihm zu danken. Darunter war die Prinzessin selbst, welche ihn umarmte und sprach: "Nun will ich deine Gemalin [Gemahlin] werden!" Aber auch die befreiten Soldaten kamen und er befahl ihnen hinabzugehen und alle Kanonen abzufeuern.

Als nun die Kanonen donnerten, ward in der Stadt alles lebendig und die Strassen erschollen von Musik und Jubel. Die schwarzen Tücher verschwanden und überall wehten die Fahnen und flatterten die Bänder an den Kränzen. Der König aber fuhr mit allen seinen Hofwägen in das Schloss, um die Befreiten zu holen. Noch an demselben Tage wurde die Hochzeit gehalten und man erzählt es noch heute, wie fröhlich es dabei zugegangen sei.

Quelle: Märchen und Sagen aus Wälschtirol, Ein Beitrag zur deutschen Sagenkunde, gesammelt von Christian Schneller, Innsbruck 1867, Nr. 34, Seite 98
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Helene Wallner, 2007.
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