Der verlorene Angelhaken - Ushinatta tsuribari


Dies ist ein Märchen von den Okinawa Inseln, die ganz im Süden von Japan liegen.

Vor langer, langer Zeit ging einmal ein kleiner Bub zum Angeln ans Meer, und wie er so am Strand saß und seine Fischleine ins Wasser hängte, rauschte ein großer Fisch heran, biß zu, riß den Angelhaken ab und verschwand in der Tiefe.

Der Junge brach in Tränen aus und heulte laut: “Mein Angelhaken, jetzt ist mein liebster Angelhaken weg, was mach ich nur?”

Das Gejammer drang hinunter bis zum Meereskönig, er stieg an die Wasseroberfläche empor und fragte freundlich: “Na, na, was ist denn los, warum mußt du so arg weinen?”

Der Junge schnupfte auf und klagte: “Gerade eben hat mir ein großer Fisch meinen Angelhaken weggenommen.” Und schon wieder wollte er in Tränen ausbrechen.

“So beruhige dich doch und weine nicht mehr. Das ist alles nicht so schlimm. Weißt du was, ich suche dir deinen Angelhaken und bringe ihn zurück. Ich meine, das sollte für mich nicht allzu schwierig sein.”

“Oh ja, bitte, das wäre fein. Willst du das wirklich für mich machen?”

Der Bub wischte sich das feuchte Gesicht mit dem Ärmel ab und guckte den Drachenkönig hoffnungsvoll an.

“Gut, dann warte mal ein Weilchen, ich komme bald wieder.”

Der Meereskönig begab sich hinunter in sein Drachenschloß, und er rief die Lebewesen, die im Meer hausen, zu sich. Sie kamen herbei und standen erwartungsvoll vor ihrem Fürsten.

“Wer von euch hat heute einen Angelhaken an sich genommen? Dieser Haken ist sogleich bei mir abzuliefern!”

So fragte er, die Meerestiere schauten eines zum anderen, aber es meldete sich niemand. Nach einer Weile traf noch ein Polyp, der sich auf der Jagd verspätet hatte, ein, und der sprach: “Melde gehorsamst, mein Nachbar, der mebaru, läßt sich für die heutige Versammlung entschuldigen. Er fühlt sich gar nicht wohl und liegt mit starken Halsschmerzen zu Bett.”

Der Meereskönig horchte auf: “So ist das, aha, bring mir den mebaru sogleich hierher, ich habe da einen Verdacht.”

Der Polyp vernahm den Befehl, und so schnell er konnte, führte er ihn aus. Der mebaru erschien im Drachenschloß, wurde vor seinen König gebracht, und der fragte ihn: “Erinnerst du dich an den kleinen Jungen, der heute morgen am Strand gesessen hat? Sein Angelhaken sei ihm gestohlen worden, hat er mir geklagt. Hast etwa du diesen Haken genommen?”

Der mebaru wollte sich nicht recht zu einer Antwort bequemen, aber dann sagte er doch schleppend: “Ja, mein König, das war ich.” - “Dann gib ihn heraus, aber sofort!”

“Das kann ich leider nicht, so gerne ich auch möchte. Er steckt mir tief im Schlund, und ich kann ihn nicht rausziehen. Ich wäre ihn gerne los, er macht mir beträchtliche Halsschmerzen.”

“So, mein Lieber, dann komm mal her zu mir, nahe, ganz nahe!” Der mebaru trat dicht vor den König, dieser zog sein Schwert, und mit einem Hieb spaltete er den Mund des Fisches, sodaß er riesengroß klaffte. Der Angelhaken war nun leicht zu entfernen.

Der Meereskönig entließ seine Untertanen und stieg wieder an die Wasseroberfläche empor. Am Strand wartete geduldig der kleine Bub, und als ihm der Wasserfürst seinen Angelhaken aushändigte, wußte er sich vor Freude nicht zu lassen. Er machte seine artigsten Verbeugungen und dankte dem Meeresbeherrscher sehr für seine Mühe.

Der mebaru erholte sich wieder von der Operation, die man an ihm vorgenommen hatte. Sein Maul aber wuchs nicht mehr zusammen, und bis auf den heutigen Tag gehört er zu den Fischen, die einen großen Rachen haben.

Mebaru: Sebastes inermis, Felsenfisch. Ein Fisch mit großem Rachen und vorstehenden Augen. Guter Speisefisch.


Quelle: Aus der Sammlung des Miyako minwa no kai (Märchensammelgruppe von Miyako), in deutsche Sprache übersetzt und veröffentlicht: Rotraud Saeki: “Märchen und Sagen von den Miyako-Inseln”. OAG Taschenbuch Nr. 76, Tokyo 2000