Die Flöte im See - Fukifue numa
Vor vielen Jahren
reiste einmal ein junger Samurai aus dem Hoheitsgebiet Dewa, das liegt
heute in der Präfektur Yamagata, im Auftrag seines Gebieters mit
einem Brief nach der Stadt Shimizu. Er schritt rüstig aus und ließ
sich nirgendswo aufhalten. Er war bereits einige Tage unterwegs, und da
er ein guter Wanderer war, kam er rasch seinem Ziel näher. Er war
nur noch wenige Stunden von der Stadt entfernt, als er an eine liebliche
Wasserlandschaft am Mogami-Fluß kam. Der Strom hat an dieser Stelle
Seitenarme, die sich zu Seen und Mooren ausweiten. Der junge Mann beschloß,
hier ein wenig zu rasten. Er zog seinen Imbiß hervor, und als er
sich gesättigt hatte, holte er seine Flöte aus dem Gürtel
und ergötzte sich für eine Weile mit zarten Melodien. Er glaubte
sich ganz allein, nur mit den Wasservögeln als Gesellschaftern. Einige
alte Weidenbäume standen in der Nähe und ließen ihre biegsamen
langen Zweige wie hellgrüne Schleier auf das Wasser hängen.
Bald hatte der Samurai sich ausgeruht, er steckte seine Flöte weg
und wollte aufstehen, um weiterzugehen. Und wie er hochblickte, stand
dicht vor ihm ein schönes Mädchen. Ganz leise mußte es
gekommen sein, es lächelte zart und sprach: "Lieber Herr, spielt
doch noch ein wenig weiter, es ist gar zu schön!"
Der Mann war erschrocken, er konnte sich nicht erklären, was ein
junges Mädchen so allein in dieser Wildnis zu tun hatte.
"Ja, woher kommst du denn? Was machst du in dieser Einsamkeit?"
"Ich wohne hier ganz in der Nähe. Ich erging mich in meinem
Garten, und dabei habe ich Euer liebliches Musizieren gehört. Ich
bitte Euch, spielt doch noch ein wenig für mich!"
Der junge Mann betrachtete
die Erscheinung jetzt genauer. Es war ein schlankes, zartes Mädchen
mit feiner, weißer Haut und langen fließenden Haaren. Aber
es fiel ihm auf, daß es fast rote Augen hatte. Und dann erschrak
er gewaltig: Das Mädchen stand nicht auf dem Ufer, er stand im, oder
vielmehr, es stand auf dem Wasser! Es konnte kein Menschenkind sein!
Er wich zurück und wollte so schnell wie möglich den unheimlich
gewordenen Ort verlassen. Das Mädchen aber bat ihn weiter: "Spielt
doch bitte noch einmal für mich, selten habe ich solch zarte Melodien
gehört."
Der Ritter wehrte sich und sprach: "Ich reise im Auftrag meines Herrn,
und ich habe schon viel zu lange hier gerastet, nun muß ich mich
beeilen. Ich kann jetzt nicht mehr für dich spielen."
Das Wesen faßte ihn sanft am Ärmel und antwortete: "So
geht denn, Herr, aber wollt Ihr mir versprechen, auf Eurer Rückreise
wieder hier vorbeizukommen und mich noch einmal mit Eurer Flöte zu
erfreuen?"
Der junge Mann versprach hastig, um was er gebeten wurde, er hätte
jedes Ding versprochen, nur um von hier wegkommen zu können. "So
warte ich denn auf Euch, und Herr Ritter, enttäuscht mich nicht!"
Mit diesen Worten drehte sich das Mädchen um, und bald war es lautlos
zwischen den Schleiern der Weidenbäume verschwunden. Der Samurai
atmete auf und verließ eilig das einsame Ufer. Er schritt kräftig
aus und hatte bald die Stadt Shimizu erreicht. Er erledigte seinen Auftrag,
und bereits am nächsten Morgen konnte er den Heimweg antreten. Und
er wollte das Versprechen, das er dem fremden Mädchen gegeben hatte,
nicht halten. Aus diesem Grund wählte er für die Heimreise einen
anderen Weg, einen, der die Seenlandschaft umgehen sollte. Mit mehreren
Reisenden mietete er ein Boot, um den Mogami-Fluß eine Strecke hinabzufahren,
und erst dann, wenn er die unheimliche Gegend hinter sich gebracht hatte,
wollte er zu Fuß weitergehen. Er hielt das Mädchen für
einen Wassergeist, wie er in den Sümpfen und Seen haust, und der
sich sicherlich nicht aus seinem eigenen Gebiet heraus bis in den Fluß
wagen würde. Und er war nicht allein, er hatte ein ganzes Boot voll
Reisegefährten. Der Geist würde sich nicht zeigen wollen.
Das Boot machte gute Fahrt, der Schiffer strengte sich an, und unter den
Reisenden herrschte heitere Stimmung. Das Wetter war klar, und da es noch
früher Morgen war, lag über dem Wasser eine erfrischende Kühle.
Es versprach, eine angenehme und kurzweilige Reise zu werden.
Die Leute im Boot unterhielten sich, und unter all den Gesprächen
merkte keiner, daß das Schifflein immer langsamer wurde. Der Schiffer
gab sich gewaltig Mühe, aber endlich wollte sich das Boot überhaupt
nicht mehr bewegen, es trieb ganz ruhig auf dem Wasser, immer an der selben
Stelle. Das fiel den Reisegenossen denn doch auf, und einer rief: "He,
Bootsmann, warum bleibt Ihr stehen! Macht, daß wir weiterkommen,
wir sind eilige Leute!"
Der Angeredete wischte sich den Schweiß von der Stirn und meinte
sorgenvoll: "Liebe Fahrgäste, ich kann mich noch so anstrengen,
unser Boot ist wie festgehalten."
"Wir müssen aber weiter, wir können doch nicht hier auf
dem Wasser bleiben!"
Wieder setzte der Schiffer seine Kraft ein, das Boot aber ließ sich
nicht fortbringen. Die Insassen wurden allmählich unruhig, einer
schaute den anderen an, aber keiner wußte Rat. Das Fahrzeug hing
bewegungslos mitten auf dem Fluß, und das Wasser schien unheimlich
zu rauschen.
Da sprach der Bootsführer: "Es kann sein, daß die Wassergeister
einen Tribut von uns wollen. Ich bitte Euch nun, daß jeder das Beste
und Kostbarste, das er bei sich hat, ins Wasser wirft. Vielleicht erlauben
uns dann die Bewohner der Tiefe die Weiterfahrt." Er entledigte sich
sogleich seiner schönen, gestickten Jacke und warf sie in den Fluß.
Sie sank sofort. Jeder wühlte in seinem Bündel. Der Priester,
der mitreiste, opferte eine wertvolle Schriftrolle, der Bauersmann einen
Sack mit Bohnen, der Händler öffnete seufzend seine Geldtasche
und trennte sich von einem Goldstück, ein junges Mädchen zog
die Schmucknadel aus Schildpatt aus seinem Haar und ließ sie ins
Wasser gleiten, und eine Sängerin ihr Shamisen. Jede Gabe sank sogleich
hinunter in die dunkle Flut. Nun war die Reihe an den jungen Samurai gekommen,
er zögerte kurz, dann zog er seine geliebte Flöte aus dem Gürtel
hervor. Nachdenklich warf er sie in den Fluß, und sie sank nicht
unter wie die anderen Tribute. Im Gegenteil, sie stellte sich sogar senkrecht
auf, stand eine Weile still, dann begann sie, um das Boot Kreise zu ziehen.
Entsetzt wichen die Reisegefährten von dem Ritter zurück und
drückten sich bleich in einer Ecke des Bootes zusammen: Der Samurai
war es, ihm wollten die Wassergeister die Weiterfahrt nicht erlauben!
Der junge Mann wußte in seinem Herzen, warum er nicht ziehen durfte:
Er hatte dem Wasserwesen, dem Mädchen am See, versprochen, auf der
Rückreise für es auf der Flöte zu spielen, und er hatte
sein Versprechen nicht halten wollen. Nun war das Mädchen gekommen,
um ihn zu strafen. Seine Macht reichte bis in den Fluß hinaus, er
schaute auf, ja, da drüben lag die Seenlandschaft, er konnte die
alten Weidenbäume mit den zartgrünen Schleiern gut erkennen.
In der Zwischenzeit hatte sich der Schiffer vom ersten Schrecken erholt,
er ermannte sich und sagte: "Herr, Ihr seht, daß die Wassergeister
etwas mit Euch zu schaffen haben. Ihr werdet am besten wissen, was ihr
Anliegen ist. Ich muß Euch bitten, unser Boot zu verlassen, sonst
kommen wir nie ans Ufer zurück."
Der Samurai nickte kurz, trat auf den Rand des Bootes und sprang ins Wasser.
Die Reisegefährten schrien auf, zuerst aus Schreck, dann aber aus
Verwunderung: Der junge Mann sank nämlich nicht in die Tiefe, nein,
das Wasser spielte ihm gerade bis über die Füße. Er stand
auf dem Fluß. Wortlos drehte er sich um und rannte auf dem Wasser
in Richtung der Sümpfe und Seen. Dort verschwand er bald zwischen
den Weidenschleiern und Wassergewächsen. Und seine Flöte glitt
hinter ihm her! Als er nicht mehr zu sehen war, fing das Boot auf einmal
an, sich wieder zu bewegen. Der Bann hatte sich gelöst, und mit Leichtigkeit
konnte der Schiffer das Fahrzeug zu seiner Bestimmung lenken.
Der junge Samurai blieb verschwunden. Seine Gefährten im Boot waren
die allerletzten gewesen, die ihn gesehen hatten. Dann bekam ihn niemand
mehr zu Gesicht.
In den Sümpfen und Seen des Mogami-Flusses hört man seit diesem
Begebnis oft wunderzarte Flötenmusik. Besonders in hellen Mondnächten
im Herbst, wenn weiße Nebel über den Wassern liegen, steigen
die feingesponnenen Töne geheimnisvoll zum Nachthimmel empor.
Quelle: Aus der (unveröffentlichten) Sammlung
jap. Märchen von Rotraud Saeki
Übersetzt nach gehörtem Erzählen.
© Rotraud Saeki