Die Lebenskerze - Inochi no rôzoku
Es gibt den Gedanken,
daß das Menschenleben eine brennende Kerze sei, die allmählich
herunterbrenne und am Ende unseres Daseins auf der Erde endlich verlösche.
In einem Dorfe lebten einmal zwei Brüder, die waren am selben Tage
geboren. Und in Eintracht lebten sie, ihre Gedanken waren stets die gleichen,
alle Arbeit taten sie zusammen, und es gab nie Zwietracht oder Streit.
Die Nachbarn meinten, ein so zufriedenes Brüderpaar würde sicherlich
auch einmal gemeisam diese Welt verlassen, niemand konnte sich vorstellen,
daß nur einer von ihnen zurückbleiben und weiterleben möchte.
Bei ihrer Geburt hatte man diesen Zwilling natürlich Namen gegeben,
aber keiner erinnerte sich an die. Der ältere Zwilling sagte zum
jüngeren "Oi", also "Du", und der wiederum rief
den älternen Bruder "Yai", das bedeutet "He".
Damit kamen sie sehr gut zurecht, sie hielten ihr Haus reinlich, bestellten
ihre Felder und waren für jeden ein schönes Beispiel vollkommener
Geschwisterliebe.
Nun geschah es eines Tages, daß Yai sehr krank wurde. Er konnte
sein Lager nicht mehr verlassen, der jüngere Bruder pflegte ihn liebevoll,
aber alle Mühe wollte vergebens scheinen. Yai sank in tiefe Bewußtlosigkeit,
sein Körper glühte im Fieber, und Oi mußte sehen, wie
sein Bruder sich anschickte, in die andere Welt abzureisen. Die tiefste
Verzweiflung ergriff ihn, denn er konnte sich ein Leben ohne seinen guten
Yai nicht vorstellen. Alle Arznei wollte nicht anschlagen, die herzlichste
Pflege konnte nichts ausrichten, und endlich vermochten nur noch die Götter
helfen. Oi warf sich auf sein Angesicht und preßte unter Weinen
und Klagen hervor: "O ihr Götter im Himmel, so helft doch dem
Bruder. Was soll mir das Dasein ohne meinen Yai? Ich will alles für
ihn tun, habt doch ein Einsehen und schickt uns Hilfe!"
Oi verharrte lange Zeit im Gebet, in Yai zeigte sich keinerlei Veränderung,
aber da erglänzte auf einmal die Kammer in silberner Helle. Oi schaute
verwirrt auf und sah, wie vor ihm auf einer Wolke ein Gott schwebte. Der
war angetan in weiße Gewänder, sein Haupthaar war zu Zöpfen
gebunden, ja, er sah gerade so aus, wie uns die Alten die Himmlischen,
als sie noch auf Erden wandelten, beschrieben haben.
Der Gott sprach, und seine Stimme hallte durch den Raum: "Ich habe
dein Gebet gehört, und ich werde dir gerne raten. Nur du selber kannst
dem Bruder helfen, das ist aber nicht leicht. Du mußt in den Himmel
hinaufsteigen, den Saal mit den Lebenskerzen aufsuchen und Yais Licht,
das umgefallen ist, wieder aufstellen. Der Zugang zu diesem Saal wird
von schrecklichen Dämonen bewacht. Bist du bereit zu so einem Abenteuer?"
- "Ach Herr, wenn der Bruder wieder gesund wird, will ich gerne alles
tun, mir ist nichts zuviel." - "Gut, dann schicke ich dir die
Himmelsleiter!"
Mit diesen Worten verwehte die himmlische Erscheinung, und in der Kammer
war es wieder dunkel. Oi rannte vors Haus, der Gott war nirgends zu erblicken.
Aber etwas anderes fiel ihm auf: Aus dem Himmel heraus wuchs ein dunkler
Punkt, wurde größer, er kam näher, und endlich konnte
Oi sehen, daß es eine lange, lange Leiter war. Diese Leiter senkte
sich herab bis zu seinen Füßen. "Da muß ich wohl
hinauf", dachte er, zögerte keinen Augenblick und erklomm die
ersten Sprossen. Er kletterte und kletterte, immer geschwinder stieg er
hoch. Einmal hielt er an und schaute nach unten. Die Häuser und Felder
waren alle ganz klein geworden, Schwindel erfaßte Oi, und es wollte
ihm dunkel vor den Augen werden. Aber er gab sich einen Ruck, "es
ist für Yai, für meinen Yai", und er hastete, so schnell
er nur konnte, die unendlich lange Leiter weiter hoch. Es ging durch Wolken,
der Wind heulte um ihn her, die Leiter schwankte, er ließ sich jedoch
nicht erschrecken und stieg mit zusammengebissenen Zähnen nach oben.
Nach einiger Zeit wehte ihm eine besonders dicke Wolke in den Weg, und
als er sie durchquert hatte, war endlich die Leiter zu Ende, er hatte
den Himmel erreicht und stand in einem großen, roten Gemach. "Wo
ist der Saal mit den Kerzen, von denen der Gott geredet hat, wo ist die
Tür dorthin?" Oi schaute sich gehetzt um, und er konnte das
Portal schnell entdecken. Aber ein scheußlicher roter Dämon
mit einer riesigen Keule in seiner Faust hielt Wache davor. Wie sollte
da wohl ein Menschlein unbemerkt durchkommen können?
Oi drückte sich hastig in eine Ecke, und von dort aus beobachtete
er den grimmigen Wächter ganz genau. Er hörte, daß ein
lautes Brausen durch den Saal rauschte, und nach kurzer Zeit wurde er
gewahr, daß die Augen des Dämonen fest geschlossen waren. Er
schlief, und das Brausen war sein Schnarchen. "Da gibt es wohl Hoffnung",
langsam näherte sich Oi dem Türsteher, er erreichte das Portal,
und dieses ließ sich öffnen. Vorsichtig, vorsichtig, der Junge
stimmte das Quietschen des Türflügels auf das Schnarchen des
Dämons ab, zog er die Tür einen Spalt auf und schlüpfte
durch.
"Geschafft!" Schwer atmend lehnte sich Oi an die Pforte, er
schaute sich um und merkte, daß er nun in einen blauen Saal gekommen
war. Auch der hatte ein hohes Portal, das in einen anderen Raum führte,
und davor stand diesmal ein blauer Dämon. Dieser hatte die Augen
offen und glotzte grimmig und drohend vor sich hin. Auch hier erfüllte
ein Brausen die Luft. Oi stand zuerst wie angewurzelt. Wie sollte er wohl
an dem fürchterlichen Wächter vorbeifinden? Wieder beobachtete
er das Hindernis, das ihm den Weg in den Saal der Lebenskerzen verwehren
wollte, ganz genau. Und er bemerkte bald, daß die Augen des Dämonen
zwar offenstanden, sich aber überhaupt nicht bewegten. "Ob der
auch schläft?" Oi schlich sich näher, der Dämon rührte
sich nicht, er schlief mit offenen Augen. Da nahm das Menschlein seinen
ganzen Mut zusammen, ging leise und langsam voran, zwischen den Beinen
des Blauen durch, öffnete sachte das Portal und glitt hinüber
in den nächsten Raum. Und diesmal war Oi wahrhaftig im Saal der Lebenskerzen
angelangt. Unendlich standen die Reihen der aufgestellten Lichter! Sie
flackerten, brannten ruhig, verloschen, neue entflammten, es war ein Meer
von Lichtern!
"Wie kann ich Yais Licht finden? Das ist ja unmöglich!"
Oi rannte die Reihen ab, auf jeder Kerze war der Name des Besitzers verzeichnet,
aber den des Bruders konnte er nicht finden. Gerade eben stand ein Kerzenstümpfchen
vor ihm, das flackerte müde. "Ob das Yais Kerze ist?" Und
das Licht verlosch. Ein anderer Name war daran geschrieben. Oi schrie
auf: "Was mach ich nur, wo ist des Bruders Licht?" Und er jagte
weiter.
Da erscholl von oben her eine Stimme: "Jetzt stehst du davor, beeile
dich!" Der Junge verhielt den Schritt, ja, nun sah er es. Vor ihm
war eine Kerze, noch schön lang und dick, aber sie war umgefallen.
Und Yais Name stand darauf. Zitternd wollte er nach der Kerze greifen,
da erscholl abermals die Stimme: "Mit diesen Händen gelingt
das nicht, werde zuerst ruhig!" Oi blickte auf seine Hände,
sie flatterten vor Aufregung. Er wußte sich nicht mehr zu helfen
und brach in Weinen aus. Und die Stimme warnte ihn: "Sei vorsichtig,
mit deinen Tränen wirst du die Flamme auslöschen!"
Oi raffte sich zusammen, er unterdrückte die Tränen, befahl
mit seiner ganzen Willenskraft den Händen Ruhe und Sicherheit, er
faßte die Kerze und stellte sie auf. Sie flackerte ein paarmal,
die Flamme wurde größer, sie zuckte und verlosch. Nur der Docht
glimmte noch. Oi sah fassungslos auf das Glimmen, und im gleichen Augenblick
flammte die Kerze mit leisem Zischen wieder auf, sie brannte ruhig und
sicher. "Ach Yai!" flüsterte er und sank nieder. Die Aufregung
und Freude waren zuviel für ihn geworden.
Nach einiger Zeit kam er wieder zu sich. Er lag daheim in seiner Kammer,
und neben ihm ruhte Yai und atmete ruhig. Bald schlug der Bruder die Augen
auf, er drehte sich eine wenig auf seinem Lager und sagte ganz vergnügt:
"Was habe ich gut geschlafen, ich fühle mich ganz wohl."
Oi sah, wie es dem lieben Bruder deutlich besser ging und wie langsam
die Farbe in sein Gesicht zurückkehrte. Nur mit Mühe konnte
er ihn davon abhalten, sofort aus dem Bett zu springen. "Ist recht,
Kleiner, aber höre, ich habe Hunger wie ein Bär, was gibt es
denn heute Gutes?" Als Oi diese Worte hörte, wußte er,
daß Yai gerettet war. Er rannte in die Küche und bereitete
ihm geschwind allerhand Leckerbissen zu.
Oi vergaß den schuldigen Dank an den Himmel nicht, und die beiden
Brüder lebten fortan noch lange einträchtig und zufrieden miteinander.
Quelle: Aus der (unveröffentlichten) Sammlung
jap. Märchen von Rotraud Saeki
Übersetzt nach gehörtem Erzählen.
© Rotraud Saeki