Wie der Schnaps Awamori
entstanden ist
Suzume sakaya
Früher waren auf der Insel Miyako weder Reiswein noch Reisschnaps bekannt, man mußte sich mit dem klaren Wasser zufrieden geben. An dieser Tatsache kann man erkennen, wie unglaublich früher das gewesen sein muß!
Nun begab es sich einmal, daß ein Fischer draußen auf dem Meer war und auf die Wende der Gezeiten wartete. Er lag mit seinem Boot im Schatten eines großen Felsens und ruhte sich aus. Und wie er so saß, schaute er zufällig auch einmal in die Höhe der Steinmasse, und er bemerkte, wie um eine bestimmte Stelle, an der es eine kleine Mulde gab, einige Sperlinge herumflogen. Einer dieser kleinen Vögel kam ganz nahe bei dem Fischer vorbei, und der Mann konnte sehen, daß er eine Ähre Kolbenhirse im Schnabel trug. Ohne zu zögern flatterte das Tierlein zu der Grube im Fels, legte die Ähre nieder, zerpickte sie, verzehrte aber zum Erstaunen des Fischers das Getreide nicht.
"Warum frißt der Kleine die Körner nicht? Vielleicht
will er sich einen Vorrat anlegen." Der Fischer wunderte sich, weil
aber inzwischen die Flut eingetreten war, hatte er keine Zeit mehr, über
das Verhalten des Vögelchens nachzudenken, und er ging wieder an
seine Arbeit.
Nach einiger Zeit kam er abermals zu dem selben Felsen, und auch dieses
Mal sah er, daß mehrere Sperlinge um die selbe Grube herumschwirrten.
Diesmal trug keiner von ihnen Kolbenhirse herbei, diesmal fiel ihre Art,
zu fliegen, deutlich auf. Es sah aus, als ob sie tanzten, sie stiegen
auf und ab, flogen seitwärts, torkelten sogar, und ihr fröhliches
Gepiepse erfüllte die Luft. Der Fischer sah, wie vom Land her ein
Sperling geflogen kam, schnurstracks zu der Mulde im Fels eilte und das
Schnäbelchen in das Wasser, das sich dort angesammelt hatte, tunkte.
Es dauerte gar nicht lange, da taumelte auch er laut tschilpend herum.
"Was haben die Vögel nur?" wunderte sich der Fischer. "Noch
nie habe ich gesehen, daß sich Spatzen so merkwürdig verhalten.
Ob das mit dem Wasser zusammenhängt?"
Neugierig trat der Mann näher, tauchte einen Finger in die unbekannte
Flüssigkeit und leckte vorsichtig. Und er schmeckte ein herbes Wasser
von großem Wohlgeruch. Es mundete ihm ganz vortrefflich, deshalb
nahm er ein großes Laubblatt zu Hilfe und schöpfte diesmal
einen ganzen Mundvoll von dem fremden Wasser. Wärme durchrieselte
ihn, und erfühlte sich außerordentlich wohl.
Der Fischer dachte: "Wenn unvernünftige Sperlinge so ein köstliches
Wasser herzustellen verstehen, dann muß ich das doch nachmachen
können."
Er kehrte in sein Haus zurück, sammelte sich Kolbenhirse, tat die
Körner in einen Mörser und zerrieb sie zu Pulver. Er füllte
Wasser dazu und ließ die Flüssigkeit sieben Tage lang ruhen.
So viele Tage waren seit seinem ersten Besuch am Felsen bis zum zweiten
vergangen gewesen. Nach den sieben Tagen deckte er vorsichtig das Gefäß
auf und kostete neugierig den Trank. Das Wasser war nun kein gewöhnliches
Wasser mehr, es schmeckte überaus verlockend, es machte leicht und
froh. Der Fischer trank davon mit Freude, und er konnte den Geschmack
nie mehr vergessen. Als sein Vorrat zur Neige ging, bereitete er das nächste
Wunderwasser vor, wieder und immer wieder. Und das. so erzählt man,
war der Anfang des awamori von Miyako
Awamori: Starker, einheimischer Schnaps von Okinawa. Er wird meist aus Langkornreis und Schwarzhefe hergestellt. Die Kenntnis von der Herstellung des awamori soll aus Thailand stammen.
Dies ist ein Märchen von den Okinawa Inseln, die ganz im Süden von Japan liegen.
Man kennt eine ähnliche Geschichte in Thailand. Nachzulesen in "Märchen aus Thailand", erschienen im Eugen Diederichs Verlag, unter dem Titel: "Die Erfindung des Rauschwassers".
Quelle: Aus der Sammlung des Miyako minwa no
kai (Märchensammelgruppe von Miyako), in deutsche Sprache übersetzt
und veröffentlicht: Rotraud Saeki: “Märchen und Sagen
von den Miyako-Inseln”. OAG Taschenbuch Nr. 76, Tokyo 2000