Die Brücke

Das Kohlenbrenner-Dörflein im Drlisch-Walde bei Gaj in Kroatien bestand nur aus einigen recht armseligen Hütten und die Leute, die darin wohnten, waren nicht minder arm.

Auch einer, der mit Waren hausieren ging, wohnte in einer solchen niederen, strohgedeckten Hütte. Mit seinem bunten, kleinen Kram ging er meist schon früh am Morgen aus dem Hause, und erst wenn schon der Abendschein verglommen war und das erste Sternlein am Himmel sich zeigte, kehrte er, müde und matt vom Feilschen und Wandern, in sein Hüttlein zurück. Seine Frau war kränklich und mußte meist zu Bett liegen.

Kein Wunder daher, daß Evchen, das einzige Töchterchen, fast immer sich selbst überlassen war und wie die wilde Hummel oder der flinke Falter des Waldes aufwuchs und nichts lieber tat als heimliche Zwiesprache zu pflegen mit den Tierlein des Waldes, den uralten Bäumen, die in ihrem langen, langen Erdendasein schon so viel erlebt hatten, und den Blumen auf der Waldwiese, die viel schöner und leuchtender aussahen, wenn sie der Sonnenstrahl berührte, als die Blumen des Feldes, die immer im Lichte stehen und ihr Farbenkleid nicht so gut schützen und erhalten können.

Etwas aber hatte Evchen doch noch lieber als das Herumstreifen im Walde, das Haschen der glänzenden Schmetterlinge und das Pflücken süßer Beeren: das war, den Märlein und Sagen zu lauschen, die der alte Kohlenbrenner Jakob zu erzählen wußte.

Eine Geschichte ging ihr nicht aus dem Kopfe. Die fing aber so an *):

"Es war einmal ein alter Mann, der hatte einen erwachsenen Sohn. Einst sagte der Greis zu seinem Sohne: 'Mein liebes Kind, du bist jetzt schon groß und stark genug, du kannst dir schon auf eigene Faust dein Brot verdienen, zieh in die Welt und suche dir einen Dienst.' Und der Junge zog in die Welt und kam in ein großes Dorf, wo er bei einem reichen Bauern als Schafhirte in Dienst trat.

Er mußte in der Frühe zeitlich die Schafe auf die Weide treiben. Die Herde war unendlich groß; das ganze Tal war voll Schafe. Nun befand sich der Weiseplatz jenseits des Flusses. Unglücklicherweise aber hatte nachts ein großer Sturm die Brücke, die über den Fluß führte, zerstört und nur ein sehr schmales Brett war übrig geblieben. Das Brett war aber so schwach, daß es nur je ein Schaf betreten durfte. Dem Hirten blieb daher nichts übrig, als ein Schaf nach dem anderen langsam über das Brett ans andere Ufer hinüberzutreiben . . ."

Jedesmal wenn der Kohlenbrenner so weit in seiner Erzählung gekommen war, machte er Miene fortzugehen.

Aber jedesmal hielt ihn Evchen beim Rockzipfel zurück und fragte ganz erregt: "Ja, was ist dann weiter geschehen? Erzähl doch weiter!"

Worauf der Kohlenbrenner immer antwortete: "So warte doch, bis der Hirte alle Schafe hinübergetrieben hat."

"Wann wird denn das sein?" fragte Evchen, die immer ungeduldiger wurde.

"Ja, bis kein Schaf mehr auf dem einen Ufer sich befinden wird."

Evchen war aber mit dieser Antwort nie zufrieden. Ihr seid es gewiß auch nicht, meine kleinen Leser. Aber ich kann euch nicht helfen. Grade so hat dieses Märchen Dr. Krauß, der uns viele schöne Sagen und Märchen der Südslawen erzählt hat, von seiner Mutter oft und oft erzählen gehört.

Und diese Mutter war niemand anders als Evchen, die Blume aus dem Drlischer Walde, wie man die wilde Kleine gern nannte.

*) Sagen und Märchen der Südslawen. Friedrich S. Krauß, I, S. 275

Quelle: Sagenbuch aus Österreich und Ungarn, Sagen und Volksmärchen aus den einzelnen Kronländern und aus den Ländern der Ungarischen Krone, Leo Smolle, Wien ca 1910, S. 197 - 199