DIE HAUSSCHLANGE

Ein kleines Mädchen, dem die Mutter bisweilen zur Jause ein Schälchen Milch und ein Kipfel gab, setzte sich einmal mit diesem Schmaus in den Hof hinaus. Und wie das Kind so ruhig dasaß und vergnüglich aß und trank, kam eine Schlange, die im Gehöft geduldet wurde, immer näher und näher herangeschlichen. Wahrscheinlich hatte sie etwas Genießbares erblickt oder gerochen und war hungrig, und das tierfreundliche Mädchen ließ sie einmal ungehindert schmarotzen.

Diese Zutraulichkeit freute das Mädchen so sehr, daß es fortan immer, wenn es etwas zu naschen hatte, die Hausschlange *) heranlockte mit dem Sprüchlein:


"Schlangerl tschi tschi,
's Maderl ruaft di'.
Magst füra kema
und a Bröckerl nema!"

Und die Schlange blieb nie aus und sättigte sich allemal so sehr, daß sie ächzen mußte.

Die gute Hausschlange zeigte sich aber auch dankbar: Aus ihrem heimlichen Schatze brachte sie dem Mädchen einen kostbaren Edelstein um den andern und Perlen und goldenen Schmuck von wunderbarer Pracht. Und von Stund an wurde das Mädchen wie größer, so auch schöner und klüger.

Die Mutter des Mädchens, die von dem Bündnis ihres Kindes mit der Schlange nichts wußte, nahm eines Tages mit Schrecken wahr, wie sich das Tier an ihr Töchterlein heranschlängelte. Und weil sie fürchtete, die Natter könnte dem Mädchen etwas antun, ging sie her, nahm einen Prügel und tötete die Schlange mit einem kräftigen Schlag.

Seit dieser Zeit ging mit dem Mädchen eine gar trübe Veränderung vor. Das Kind fing an zu siechen und zu kränkeln, und kurz darauf begann der Totenvogel **) gar bedeutsam zu klagen, und das Rotkehlchen ***) suchte gar emsig nach Zweiglein zu einem Totenkranz. Und als eines frühen Morgens die Mutter nach dem Mädchen schaute, hatte es der Knochenmann schon abgeholt.

*) Die völlig harmlose Ringelnatter wird dort, wo man sie nicht verfolgt, so zutraulich, daß sie die Nähe menschlicher Siedlungen zum Aufenthalt wählt, die Scheu vor den Menschen ablegt, sich von ihnen berühren und füttern läßt.

**) Käuzchen und Nachtschwalben zeigen nach abergläubischer Anschauung durch nächtliches Schreien in der Nähe von Kranken den baldigen Tod an.

***) Rotkehlchen können nach alter Volksüberlieferung keinen toten Menschen sehen; sie fliegen mit Zweiglein oder Blättern herzu, um wenigstens das Gesicht etwas zu verhüllen oder aber ein Toten kränzlein zu winden.


Quelle: Die schönsten Märchen aus Österreich, o. A., o. J.,