DER SCHLANGENRITTER

Als auf den Bergen noch die stolzen Ritter hausten, wohnte in einer Burg ein armer Hirte, dem die stattliche Herde der Herrschaft anvertraut war. Er war ein schöner Jüngling, der fröhlich in den Tag hinein lebte und sein Amt zur größten Zufriedenheit des Burgherrn versah. Der Hirte vermochte seiner Flöte so wunderbare Weisen zu entlocken, daß selbst die Ritter an langen Wintertagen seinem Spiel gern lauschten. Wenn aber der Frühling ins Land kam, dann wurde dem Jüngling die Burg zu eng, und er zog mit seiner Herde täglich zum Tor hinaus.

Auf einsamer Höhe, im Schatten großer Eichen, sprudelte aus dem Felsen ein frischer Quell und durchrieselte eine bunte Wiese. Dort fand die Herde die besten Kräuter. Der Hirte lag gewöhnlich im weichen Gras, blickte hinüber auf die stolze Burg oder empor zum blauen Himmel, auf dem die weißen Wolken wie Schifflein dahinsegelten. Das gefiel dem Schäfer so gut, daß er stundenlang auf diesem Plätzchen verweilte. Zuweilen nahm er die Schalmei zum Mund und spielte und spielte. Oft träumte er vom schönen Ritterleben, denn er wäre gar gern ein stolzer Recke gewesen. Jedesmal, wenn die schmucken Ritter über die Zugbrücke sprengten und ihre Eisenpanzer im Sonnenschein glitzerten, überkam ihn große Traurigkeit. Da sah er sehnsüchtig der dahinziehenden Schar nach, bis sie in der Ferne verschwunden war.

Eines Morgens, als er wieder in Gedanken verloren dahinträumte, wurde er plötzlich durch ein leises Geräusch in seiner Nähe aufgeschreckt.

Aus einem Felsspalt kroch eine schöne, weiße Schlange, die ein blankes Krönlein auf dem Haupte trug. Anfänglich wollte ihn ein Grauen beschleichen, aber das Tier schaute ihn so wehmütig an, daß er blieb und weiter auf der Hirtenflöte spielte. Als die Sterne am Himmel aufblitzten, verschwand das Tier wieder im Felsen.
Von nun an kam die Schlange Tag für Tag, und der Hirte gewöhnte sich an ihre Gesellschaft. Der Platz an der Quelle wurde ihm durch sie noch lieber als bisher, und er wartete stets voll Sehnsucht auf ihr Kommen.

So harrte er einmal wie alltäglich des seltsamen Tieres, aber es kam nicht. Schon war es Abend, und die Herde wurde ungeduldig, doch der Hirte saß noch immer auf der Höhe und wartete.

Plötzlich leuchtete etwas zwischen den Eichenstämmen hervor, und eine wunderschöne Jungfrau in schimmerndem Kleid trat aus dem Felsen. Sie setzte sich auf einen Stein an der Quelle und sprach zu dem erstaunten Schäfer: "Ich bin die Tochter eines mächtigen Ritters hierzulande und wurde von einem bösen Zauberer in eine Schlange verwandelt. Nur einmal im Jahr darf ich meine einstige Gestalt annehmen. Doch kann ich erlöst werden, wenn du es wagst, mich als Schlange dreimal auf den Mund zu küssen. Gelingt es dir, dann wird dein sehnlichster Wunsch in Erfüllung gehen, und du wirst reich und glücklich werden!"

Doch kaum hatte der Jüngling freudig ausrufen können, daß er die Jungfrau erlösen wolle, spaltete sich schon der Felsen, und das schöne Fräulein war verschwunden.

Am nächsten Morgen fand sich der junge Schäfer wieder bei der Quelle ein und harrte der weißen Schlange. Als sie endlich kam, ringelte sie sich an ihm empor. Voll Schauder schloß der Hirte die Augen, doch er bückte sich und küßte das Tier dreimal auf den Mund. Da erschütterte plötzlich ein furchtbarer Donnerschlag die Luft, Blitze zuckten auf, und unter gewaltigem Krachen stürzte der Felsen zusammen.

Als der Jüngling die Augen wieder öffnete, sah er die Jungfrau im herrlichen Brautkleid vor sich stehen, umgeben von zahllosen Knappen und Edelfräulein. Nun breitete sie die Arme aus und begrüßte den Hirten als ihren Bräutigam. Ein Edelknabe führte zwei stolze Zelter vor, das Brautpaar bestieg sie und ritt von dannen.
Auf der väterlichen Burg wurde das Hochzeitsfest in Glanz und Schimmer gefeiert. So wurde aus dem Hirten ein mächtiger Ritter, der eine gekrönte Schlange in sein Wappen aufnahm. Er bestand viele Gefahren und Abenteuer und wurde Ahnherr eines berühmten Geschlechtes.

Quelle: Österreichische Volksmärchen, gesammelt von Josef Pöttinger, Wien 1957