Niemand

Niemand hatte das schönste Leben auf der Welt. Er war zwar so blass und so schmal wie ein Geist, hatte Kleider, so grau wie die Dämmerung und so fließend wie Nebel, aber er konnte essen und trinken, mit wem er wollte, konnte schlafen, wo immer es ihm behagte, durfte nehmen, was ihm gefiel, denn keiner sah, was Niemand ist.

Niemand war überall dabei und wusste in allem Bescheid. Er hörte, wie der König sich mit der Königin beriet, dass es höchste Zeit sei, dass die Prinzessin einen Mann bekam. Niemand saß in der Ecke, wenn die Minister eine geheime Sitzung hatten. Niemand wusste, wo der Bauer Jochen sein Geld vergraben hatte. Niemand kannte den Mörder, den die Gerichte nicht fanden. Niemand wusste, wo Gold in der Erde stak und wo Silber, wo man nach Wasser graben sollte und wohin der kleine Günther seine Glaskugel versteckt hatte.

Niemand sah alles, hörte alles, wusste alles. Es war ihm wahrhaftig schon herzlich langweilig auf der Welt und so beschloss er, das Gegenteil zu tun, immer genau das Gegenteil von dem, was alle anderen taten.

Wenn die Leute weinten, lachte Niemand. Wenn die Leute sprachen, schwieg Niemand. Saßen die Menschen stille im Konzertsaal, und hörten versunken, was der große Geiger spielte, dann hustete Niemand. Wenn alle Leute andächtig knieten und beteten, stand Niemand auf und ging aus der Kirche.

Niemand fuhr im Sommer Schlittschuh und watete im Winter barfuss durch die Bäche, Niemand baute Häuser aus Hypotheken und machte den Lügen lange Beine.

Was immer die Menschen machten, Niemand tat es verkehrt; so dass es den Leuten schließlich auffiel und sie in ihre Zeitungen schrieben: „Der Saal war vollkommen leer, Niemand war zur Versammlung erschienen“ oder: „Es war das schönste Fest seit vielen Jahren. Die Spitzen der Regierung waren erschienen. Niemand fehlte.“
In ihre Bücher druckten sie: „Dunkelheit breitete sich über die Erde, der Wind legte sich, weit und breit war Niemand zu sehen.“

Nun, das gefiel Niemand nicht schlecht, dass alle Leute von ihm sprachen. Er guckte ihnen über die Schulter, wenn sie die Morgenzeitung lasen, setzte sich im Kaffeehaus breit an die Tische, um die Theater und Konzertberichte zu lesen, schaute mit in die Bücher, wo einer las und wurde ungeduldig, wenn auf einer Seite nichts von ihm stand.

Aber schließlich wird das schönste Vergnügen öde und man kann den eigenen Namen nicht mehr sehen, wenn er in jedem Buche steht und in jeder Zeitung, wenn alle Leute von einem reden und sogar die Schulkinder in ihren Heften von einem schreiben. Niemand hatte es gründlich satt.

„Es ist langweilig“ sagte er „herzlich langweilig“ und gähnte mit weit offenem Munde. „Vielleicht ist doch das besser, was die Menschen tun. Ich will mich einmal ein bisschen umsehen.“

Mitten unter eine Schar Buben mischte er sich, die auf der Wiese liefen. Jeder hatte eine lange Schnur in der Hand und an der Schnur einen großen Drachen mit einem langen bunten Schwanz. Alle liefen, alle schrieen, alle waren fröhlich.

Niemand hatte keinen Drachen, er lief nicht, er schrie nicht, er dachte: „Das ist nichts für mich“ und ging zu den Mädchen. Die spielten eben Besuch. Sie hatten Mutters Handschuhe an, die ihnen über die Ellbogen gingen, hatten Mutters Hut auf dem linken Ohr sitzen, zogen ein Stück Holz als Hündlein hinter sich drein und ließen die Puppenkinder zu Hause, denn sie wollten moderne Frauen sein. Sie waren hochrot von Eifer und fanden das Spiel schön.

Niemand lachte verächtlich: „Dummer Schnack! Das spielen die Großen genau so langweilig. Nein, das ist nichts für mich!“.

Er ging in den Park, setzte sich auf eine Bank, kreuzte die Beine und schaute auf einen Rosenstrauch, immerzu auf den einen kleinen Rosenstrauch. Es war nur ein kümmerlicher Rosenstrauch und gar nichts Besonderes daran zu sehen. Aber er sah ihn auch nicht, er dachte bloß, was er denn nun beginnen sollte, dass er nicht sterben müsste vor langer Weile.

„Langeweile, das kenne ich nicht“ sagte ein Arbeiter, der eben vorüberging. Wenn man eine Arbeit hat, die man kann und so richtig darauf los werkt, das ist doch das Allerschönste auf der Welt.“ – „Recht hast du“ meinte der andere „ich bin zwar nur ein Erdarbeiter, aber ich möchte mit keinem König tauschen.“ - „Ei sieh Mal an“ dachte Niemand „das will ich auch probieren.“

Am nächsten Morgen suchte er die Straße, in der man das neue Kabel legte. Da standen die Arbeiter in Abständen, mit Schaufeln und Krampen, mit Schiebkarren und Messlatten und waren eifrig beim Werk.
Der Zufriedene von gestern war auch dabei. Zu ihm stellte sich Niemand und guckte ihm auf die fleißigen Hände. Er passte genau auf, wie er die Schaufel nahm und die Erde in den Karren warf. Das konnte nicht schwer sein. Als der Arbeiter mit dem Karren wegfuhr, nahm Niemand die Schaufel und warf Erde heraus. Er arbeitete, dass ihm heiß wurde, aber der Haufen wurde nicht größer. Er biss die Zähne zusammen und schaufelte den ganzen Vormittag, aber man sah nichts davon. „Arbeiten wäre soweit ganz schön“ dachte Niemand „aber sehen sollte man auch etwas  davon.“

Nachmittag ging er zu einem Schmied. Er hielt das Eisen in das Feuer und hämmerte, dass die Funken stoben, er zwickte mit Zangen und schabte mit Feilen, er werkte, dass ihm der Schweiß von der Stirn rann und doch war am Abend nichts fertig, nicht der kleinste Nagel.

„Es wird noch nicht das Rechte sein.“ Meinte er, und versuchte weiter. Er ging in die Fabrik zu den Tuchwebern und auf das Feld zu den Bauern. Er half den Fischern am See und den Sennen auf der Alm. Er half allen und überall, aber nirgends sah man etwas davon.

Wie soll man denn auch etwas sehen, wenn Niemand es tut? Darüber zerbrach sich Niemand so gründlich den Kopf, bis er es hatte. „Boshaftes Gesindel, diese Menschen“ brummte er „sie wollen, dass es heißt, nur sie alleine können was Rechtes. Jetzt hab´ ich´s satt!“.

Er zog tief in die Berge, in ein Jagdschloss des Königs, das fast das ganze Jahr leer stand. Dort saß er tagein und tagaus auf der gleichen Bank unter der Linde und schaute auf den Weg, der an ihr vorbei führte. Der Weg war sauber gehalten und wurde jeden Tag geharkt. Das tat manchmal der Gärtnerbursch und manchmal des Gärtners schönes Töchterlein.

Niemand sah ihnen gelangweilt zu und dachte an nichts. Aber eines Tages bemerkte er, dass des Gärtners Tochter schön war. Da sah er genauer hin, sah die kleinen Füße, den hübschen roten Mund, die schönen blonden Zöpfe. „Nein wirklich“ dachte er „es ist das hübscheste Gärtnermädchen, das ich je sah.“ – „Pst, Kleine!“ rief er „komm doch ein bisschen näher!“. Aber das Mädchen schaute ihn mit keinem Blick an. Er winkte mit der Hand, aber die Gärtnerin arbeitete weiter, als wenn nichts wäre.

Niemand erhob sich und wollte auf das Mädchen zugehen, als eine Stimme rief: „Gretl, schnell, die Mutter braucht dich!“. Es war der Gärtner der seine Tochter gerufen hatte. Niemand kehrte nachdenklich auf seine Bank zurück.

Von nun an schaute er nicht mehr auf den Weg, sondern stets auf die kleine Gärtnerin und sie gefiel ihm von Tag zu Tag besser. Er bemerkte ihr Kleid von weitem, er kannte ihre Stimme und ihren Schritt. Er schnitt die schönsten Rosen für sie ab und legte sie auf ihr Fensterbrett. Die kleine meinte, es wäre der Gärtnerbursch gewesen und nahm sie heimlich weg, damit der Vater nicht sah. Er schrieb sein schönstes Gedicht „An Margarete“ und ließ es im Wochenblatt drucken. – „Wie gut“ dachte Gretl „dass der Vater die Beilage nicht liest. Ob es wohl vom Herrn Gutsverwalter ist, oder gar vom neuen Herrn Lehrer? An Niemand dachte sie nicht.

Der hatte sich eine Laute gekauft, hängte sie an einen seidenen Band um den Hals und sang jede Nacht in der Fliederlaube unter ihrem Fenster. Das kleine Gärtnermädchen träumte Nacht um Nacht von einem Prinzen, der mit einem goldenen Wagen und vier Schimmeln gekommen war, sie abzuholen. Wie schön das war! Dass Niemand sang, wie hätte sie es wissen können?

Niemand war verzweifelt. Er beschloss zu sterben. Er schnitt die rote Rose ab, die die kleine Gärtnerin mit ihren Fingern berührt hatte, drehte au dem goldenen Haar, das in den Zweigen hängen geblieben war, ein Ringlein, das er an den Finger steckte, küsste noch einmal den Abdruck ihres Füßchens im feuchten Sand, legte sich hin und starb.

Am nächsten Morgen lasen die Leute in der Zeitung: „Niemand ist gestorben“, aber sie dachten nichts dabei. Und das ist doch wirklich traurig.

Quelle: Friedrich Neisser, Märchen aus Enzenkirchen. Neu herausgegeben von Roger Michael Allmannsberger.
Von Roger Michael Allmannsberger freundlicherweise im Juli 2007 für SAGEN.at zur Verfügung gestellt.
© Roger Michael Allmannsberger