Prinzessin Wolke

Sie war die schönste, kleine Wolkenprinzessin, die man sich denken konnte. Am Morgen lag sie in ihrem Hängebettchen und schlief sich rote Backen. Zu Mittag fuhr sie in ihrem Wägelchen über den ganzen Himmel; denn so weit der Himmel reichte, so groß war ihres Vater Reich. Sie fuhr mit sechs Schimmeln, deren Mähnen und Schweife wie weiße Fahnen flogen, und weiß flog der Prinzessin Schleier, weiß ihr Kleid und nur ihre Haare waren aus schimmerndem Gold. „Wolke“ hieß sie, aber der Vater nannte sie „Wölkchen“, wenn er gut gelaunt war. Wölkchen hatte viele Gespielinnen. Alle trugen weiße Kleider und weiße Schleier, aber keine war so schön wie sie.

Am Nachmittag spielten sie haschen oder „Segelschiff“. Dazu brauchten sie aber den Südwind. Das war ein hübscher, kecker Junge, der gerne mit ihnen spielte. Wenn sie nun Segelschiff spielten, stellten sie sich in eine lange Reihe nebeneinander und hielten die Kleidchen weit gespannt. Dann blies der Südwind mit vollen Backen, dass sie über den Himmel glitten, wie die Buben über die Eisbahn, und wer zuerst bei der Sonne war, hatte gewonnen.

Man muss es sagen, es ging nicht immer gerecht zu, sonst hätte die Prinzessin Wolke nicht so oft gewonnen. Aber sie gefiel dem Südwind so gut, dass er immer ein bisschen mehr nach der Richtung blies, wo die Prinzessin stand.

Der König schmunzelte, wenn er das sah. Es war ihm ganz recht so. Wo die Grenze seines eigenen Reiches ging, dort hinter den weißen spitzen der langen Bergkette, die man Alpen nannte, wohnt der junge Südwind. Dort herrschte sein Vater, der ebenso hieß wie er.

Sie kannten sich von Jugend auf, die beiden Alten und sie hätten nichts dagegen gehabt, wenn ihre Kinder ein Paar geworden wären.

Aber einstweilen war es noch nicht so weit. „Wer zupft mich schon wieder?“ fragte die Prinzessin, wenn sie auf der Schaukel flog und jemand ein Goldhaar neckend festhielt. „Wissen möchte ich, wer so keck ist?“ rief sie, wenn ihr der Schleier auf einmal vom Kopfe flog, dass er wie ein langes Band am Himmel glänzte.

„Na, das ist denn doch mehr, als erlaubt ist!“ schalt sie, wenn sie friedlich auf der Himmelswiese gelegen war, mitten unter den schönsten Sternblumen, und ihr plötzlich jemand das Kleidchen über das Gesichtgeworfen hatte, dass sie nicht mehr sehen konnte. „ Das weiß ich aber, wer das ist! Warte, du Schalk, ich schicke dir meinen Onkel Wetter, dass er dich in sein dunkelstes Kämmerchen sperrt!“ – „Ja ich! glaubst du, ich wüsste nicht, dass nur du es sein kannst, Mailüfterl?“ So war es auch, es war Mailüfterl.

Es wohnte in einem Haus, das mitten in einem Garten stand. Das Haus war nur klein, mehr ein Gartenhäuschen, aber der Garten war riesig groß und wunderschön. Darin blühte und duftete es das ganze Jahr von Narzissen und Kaiserkronen, Vergissmeinnicht und Pfingstnelken, Flieder- und Goldregenbüschen, von japanischen Quitten und rosa Mandelblumen.

Prinzessin Wolke war oft zu Besuch. Dann durfte sie so viele Blumen pflücken, als sie wollte, und sie konnte nie genug kriegen. Es wurde jedes Mal ein Strauß, so groß, dass sie ihn mit beiden Armen umfassen musste und ihr Näschen so tief in den Blüten steckte, dass sie kaum bis zu ihrem Wagen fand.

Sie wusste wirklich nicht, was schöner war, Blumen pflücken oder mit den Schmetterlingen spielen. Die Schmetterlinge brachte der Südwind manchmal mit. „O fein!“ jubelte die Prinzessin, wenn er mit seiner großen Schachtel kam. „Schnell, lieber Südwind, öffne!“. Einen winzigen Spalt öffnete er seine Schachtel, da schlüpfte ein blauer Falter heraus. Er war so blau wie der Himmel, weißes Kleid und klappte die Flügel auf und zu. Dann kam ein gelber mit roten Tupfen, ein schwarzer mit leuchtend blauen Borten, es kamen weiße mit großen roten Augen, braune, orangefarbene, violett schillernde und grün glänzende, feine rosenrote und stolze kupferfarbene. Es kamen so viele, dass Wölkchen jedes Mal neue fand, so oft sie sie auch schon gesehen hatte. Nein, sie wusste wirklich nicht, was sie mehr liebte, die Blumen oder die Falter. Das war sicher: Sie war nicht nur die schönste, sie war auch die glücklichste Prinzessin, die es gab, bis – ja, bis es plötzlich anders wurde.

Eben saß sie auf der Himmelswiese und zupfte einer Sternblume die Blätter aus: Er liebt micht, vom Herzen…“. – „Hui, Hui!“ klag es hinter ihr, eine Hand packte ihr Goldhaar und riss sie empor, und ehe sie noch den Mund öffnen konnte, um zu schreien, war sie schon weit weg von der Wiese. Sie saß in einem weißen Schlitten neben einer Gestalt, die so dicht in weiße Pelze gehüllt war, dass man nichts von ihr sehen konnte, außer seiner Hand oder eigentlich einer Tatze, die die Zügel hielt. Prinzessin Wolke klapperte mit den Zähnen und wusste nicht, ob vor Angst oder vor Kälte, denn kalt ging es von ihrem Begleiter aus, eisig kalt. Wer es wohl war?

„Wohin fahren wir?“, fragte die kleine Wolke ganz schüchtern. „Zu unserem König.“ Brummte eine tiefe Stimme und Wolke sah mit Entsetzen, dass ein Eisbär neben ihr saß.

Sein schwerer Kopf nickte auf und ab und seine kleinen Augen blickten scharf nach den Pferden. Ach nein, das waren keine Pferde, die Prinzessin bekam eine Gänsehaut vor Schrecken, das waren Wölfe, zwölf weißlichgraue Wölfe mit heraushängenden Zungen und buschigen Ruten. Sie liefen wie der Wind und der Eisbär sah so böse aus, dass die Prinzessin nicht zu fragen wagte, wer sein König sei.

Es musste ein grimmiger König sein, das sah Wolke, als man an die Grenze seines Reiches kam. Die ganze Grenze entlang leuchtete unheimliche grüne Lichter. Das waren die Augen von Polarfüchsen, die da standen, einer neben dem andern, und die Grenze bewachten. Dahinter dämmerte es weiß und grünblau, Schnee und Eis, so weit man sehen konnte.

Die Wölfe liefen und der Eisbär nickte und die Prinzessin hatte blau gefrorene Hände und Lippen. Aber sie saß aufrecht und fürchtete sich nicht mehr. Sie hatte daran gedacht, dass sie eines Königs Tochter war und dass es sich für sie nicht schickte, sich zu fürchten.

Sie fürchtete sich auch nicht, als sie in den Saal trat. Die Wände waren spiegelblank aus blaugrün schimmerndem Eise und aus Eis waren Boden und Decke. Rings an den Wänden saßen Schneeeulen und leuchteten mit ihren großen Augen. Um den Thron flammten die Nordlichter in düster violettem Licht und zuckten im eisigen Hauch, der durch den Saal zog.

Auf dem Throne saß unbeweglich und finster der Nordwind. Sein Antlitz war hart und kalt. Er hatte Augen wie blaugrünes Glas. Blaugrün und weiß waren seine Farben, blaugrün und weiß war der Saal und das ganze Königreich, alle Wesen und alle Dinge bis auf die Nordlichter. Sie bildeten sich ein die Sonnen im Reich des Nordwindes zu sein und darum strahlten sie.

„Da ist ja meine Frau!“ sagte der Nordwind und es klang wie Sturmgebraus und jedes Wort war von einem eisigen Luftstrom begleitet.
„Nein, ach nein!“ rief die kleine Prinzessin.
„Sie passt nicht schlecht, denn sie ist weiß wie der Schnee. Man muss ihr nur die Haare abschneiden!“.
„Ich bin eine Prinzessin!“ sagte Wolke, aber der Nordwind lachte bloß und das klang abscheulich.
Er winkte und zwei Schneeeulen nahmen Wolke an der Hand und führten sie in ein Kämmerchen. Dort schnitten sie ihr die Haare ab.
„So, da kannst du nachdenken!“ sagten sie, „bis du dich besonnen hast, was klüger ist, Königin werden oder alleine sein.“

Da saß sie und fror und jeden Tag, wenn die Eulen ihr ein Schälchen Tran zum Frühstück brachten und ein winziges Stückchen Seehundfleisch, fragten sie: „Willst du unseren großmächtigen König heiraten?“. Die Prinzessin schüttelte den Kopf. Nein, lieber wolle sie Seehundfleisch essen. Sie wickelte sich eng in ihr dünnes weißes Kleid und dachte an den Vater und die Sternblumenwiese, an die Falter und den lustigen Südwind. Wie schön war es doch daheim gewesen! Ja, daheim!

Daheim hatte man Wolke im ganzen Königreich gesucht und alle waren herzlich betrübt, als ein Tag nach dem anderen verging, man fragte den Regen, den Tau und den Hagel. Aber niemand wusste etwas. Man fragte auch den Schnee, als er endlich kam.

„Sie wird unsere Königin werden!“ sagte er. „Sie ist im Reiche des Nordwindes.“ – „Wie schrecklich!“ sagte der König, ihr Vater. „Nie und nimmer!“ rief der Südwind. „Das sollte ein Wort sein!“ stimmte das Mailüfterl bei. „Zwar bin ich noch jung, aber ich will tun, was ich kann.“

In Eile rief der Südwind alle Freunde zusammen: Den Föhn und den Scirocco, den gewaltigen Helden Monsun und den feurigen Samun, den schrecklichen Taifun und den furchtbaren Tornado. Es waren tapfere Helden und sie waren voll Zuversicht, dass auch die Sonne wollte mitkommen.

Mit Sausen flogen sie nach Norden und in wenigen Sekunden standen sie an der Grenze des Schnees. Die Polarfüchse machten ihre Augen so grün, als sie konnten, und glaubten recht schrecklich auszusehen, aber die Winde bliesen ihnen lachend ins Gesicht, dass sie vor dem heißen Hauche erschrocken die Augen schlossen. „Ssssi, ssssi!“ blies der Südwind und die Füchse fingen zu laufen an. „Ssssi, ssssi!“ blies der Südwind und die Füchse fingen zu laufen an. „Ssssi, ssssi!“ bliesen auch die anderen Winde und die weißgrauen Wölfe begannen zu rennen.

Die Sonne stemmt die Hände in die Hüften und lachte, lachte – nichts anderes – sie stemmte die Hände in die Hüften und lachte, so sehr sie konnte. Das war aber reichlich genug, denn je mehr sie lachte, desto schneller wurden Eis und Schnee zu Wasser und flossen in Bächen, in Flüssen, in Strömen.

Auch die Wände des Palastes begannen zu tropfen. Da war es den Eisbären und Schneeeulen nicht mehr geheuer, sie liefen und flogen, so schnell die Füße und Flügel tragen wollten, gegen Mitternacht.

Die Nordlichter guckten erst verwundert auf das Helle da draußen, dann begannen sie zu blinzeln, endlich schlossen sie die Augen, sanken zusammen, machten noch einmal „blaff“ und erloschen.

Der Nordwind sah, dass nichts mehr zu retten war, so wollte er denn gehen, aber die Prinzessin sollte mitkommen.

Er eilte in ihr Zimmer, packte sie und schleifte sie hinter sich her. Wenn er erst aus dem Schlosse war, dann wollte er mit seinen schwarzen Flügeln davonbrausen, dann sollte ihn niemand mehr einholen. Aber jetzt hieß es heimlich sein.

Er schlich durch die Gänge ans rückwärtige Tor. Nun noch ein Sprung und dann – „Stirb, du Räuber!“ schrie der Südwind und stieß ihm die goldene Lanze ins Herz.

Mit einem Stöhnen brach der Nordwind zusammen und zugleich stürzte mit Donnergepolter der Palast ein, dass der Südwind erschrocken die Prinzessin wegreißen musste, damit die Trümmer sie nicht erschlügen.
Die Prinzessin aber lag ganz still in seinen Armen und lächelte. Es war ihr so warm und lind, ihre Hände waren nicht mehr blau gefroren und ihre Backen wurden wieder rot. Ihre Freunde waren da und die Sonne schien – schön war das!


Was weiter wurde, meinst du? Das ist nicht schwer zu raten. Heim kamen sie natürlich alle und ein Hochzeit gab es bald darauf und dazu waren alle Winde eingeladen außer dem Nordwind. Aber der war ja tot.

Quelle: Friedrich Neisser, Märchen aus Enzenkirchen. Neu herausgegeben von Roger Michael Allmannsberger.
Von Roger Michael Allmannsberger freundlicherweise im Juli 2007 für SAGEN.at zur Verfügung gestellt.
© Roger Michael Allmannsberger