DIE WILDTAUBE

Es war einmal eine arme Bauersfrau. Sie hatte ein Büblein, das mußte die einzige Kuh, die sie noch besaß, täglich auf die Weide treiben. Da das Büblein aber am liebsten im Wald umhersprang, Blumen und Beeren pflückte und dem lustigen Spiel der Vöglein zusah, verirrte es sich einmal und konnte lange nicht den Rückweg finden.

Als der Knabe nach vielem Suchen endlich aus dem Wald herauskam, war die Kuh nicht mehr da, und da es gegen Abend ging, mußte er allein heimkehren.

Zu Hause gab es ärgerliche Worte und Schläge von der Mutter. In ihrem Zorn schrie sie zuletzt: "O wärst du doch zu einem Vogel geworden, da könntest du immer im Wald sein!"

Kaum aber hatte die Frau diese Verwünschung ausgestoßen, erhob sich unter furchtbarem Getöse ein mächtiger Windstoß, und über das Haus flog im selben Augenblick eine Wildtaube, in die das unfolgsame Büblein zum Schrecken der Mutter verwandelt worden war.

Bald darauf kam die Kuh wieder heim. Die Mutter aber rang die Hände und schrie und jammerte bei Tag und Nacht: "Bua, kimm, Bua, kimm, die Kuah is schon da!"

Der Wind trug ihre laute Klage hinaus zu den Wildtauben im tiefen Wald. Das Büblein jedoch kam nicht mehr, und die arme Bauernfrau weinte sich die Augen blind. Endlich brach ihr der Gram über den Verlust des Kindes das Herz.

Aber noch heute wehklagen die Wildtauben im Wald, wenn der Sturmwind durch die rauschenden Blätter fährt: "Bua, kimm, Bua, kimm, die Kuah is schon da!"

Quelle: Österreichische Volksmärchen, gesammelt von Josef Pöttinger, Wien 1957