596. Der hartherzige Graf

Auf seiner stolzen, schier unbezwinglichen Feste hauste einst ein gottloser und hochmütiger Graf, der ein Herz von Stein zu haben schien und besonders von den Armen ob seiner Härte und Grausamkeit gefürchtet war.

So ließ er eines Tages einen strengen Befehl an die Untertanen in seinen sieben Dörfern ergehen, daß niemand mehr einem Armen etwas schenken dürfe, und dem Zuwiderhandelnden Hab und Gut genommen werde. Um sich selbst zu überzeugen, ob sein Befehl auch pünktlich befolgt werde, verkleidete er sich als Bettler und ging so in seiner Grafschaft von Haus zu Haus, überall um eine kleine Gabe bittend. Und siehe da, er bekam keinen roten Heller und keinen Bissen zu essen, ja, nicht einmal einen Schluck Wasser reichte man ihm, überall wurde er, aus Furcht vor der angedrohten Strafe, schroff abgewiesen.

Endlich war nur noch eine entfernte, einsam am Waldesrande gelegene, armselige Bauernhütte übrig, welche der Zwingherr noch nicht besucht hatte. Der Graf überlegte, ob er sich den beschwerlichen Weg dahin nicht ersparen könnte, denn er war von der langen Wanderschaft von einem Haus zum ändern rechtschaffen ermüdet und dachte sich, die Bewohner jener Hütte hätten ohnehin selbst nichts zu beißen, wie sollten sie einem Armen etwas schenken. Jedoch, um auch den letzten seiner Untertanen geprüft zu haben, entschloß er sich doch, auch noch diese Hütte aufzusuchen.

Dort angelangt, bat er den Kleinhäusler, der eben von seinem Tagewerk heim kam, um ein Stücklein Brot. „Ihr tut mir leid", sagte der Mann zu dem vermeintlichen Bettler, „aber Ihr kommt zu unrechter Zeit. Obwohl ich für mein Weib und sieben Kinder sorgen muß, dabei bloß eine Kuh und einen Ochsen im Stall habe und trotz harter Arbeit vom frühen Morgen bis zum Abend nicht so viel verdiene, daß wir uns sattessen könnten, habe ich doch noch nie einem Armen ein Stücklein Brot abgeschlagen. Nun aber darf ich Euch nichts geben, da der gestrenge Herr Graf das Almosengeben verboten hat, sonst können wir selber mit den sieben kleinen Kindern betteln gehen!" Nun wandte sich der Bettler zur Bäuerin, welche mittlerweile herzugekommen war, und bat sie flehentlich: „Habt Erbarmen mit einem halb verhungerten Menschen, nur ein Stücklein hartes Brot! Gott wird's Euch tausendfach vergelten." Dem Weibe ging der Jammer des armen Mannes sehr zu Herzen, sia eilte in die Stube und kam mit einem Stück Brot zurück, das sie dem Bettler reichte. Erschrocken rief der Bauer ihr zu: „Du wirst schon sehen, was jetzt kommt!" Der Bettler aber entfernte sich mit vielem Danke.

Richtig kam ändern Tags eine Botschaft vom Grafen, der Bauer müsse unverzüglich aufs Schloß kommen. Mit schwerem Herzen machte er sich auf den Weg und wurde, dort angekommen, sogleich vor den Grafen geführt. Dieser herrschte ihn an: „Ist Dir mein Befehl bekannt, daß es verboten ist, Almosen zu geben?!" „Freilich weiß ich das", stammelte der arme Mann. „Hat nicht gestern ein Bettler in Deiner Hütte zugekehrt und Dich um eine Gabe gebeten?" fuhr der Graf fort. „Ja, Herr Graf, es war wohl einer bei mir, hab' ihm aber nichts gegeben", antwortete das Bäuerlein. „Du lügst!" schrie ihn der Graf an, stürzte ins Nebenzimmer, von wo er alsbald wieder als Bettler verkleidet, wie tags zuvor, herauskam und vor den erschrockenen Bauern, der seinen Augen nicht zu trauen schien, hintrat. „Leugnest Du noch?" rief der Graf und hielt ihm auch noch das Brot hin, das er bei ihm erhalten hatte. Bleich und zitternd bat nun der Bauer um Gnade. Der Graf sann eine Weile nach, dann sagte er: „Wenn Du mir bis Mittag Schlag zwölf Uhr die dickste Eiche aus meinem Walde aufs Schloß bringst, sei Dir die Strafe erlassen!", sprachs und entließ den Bauern. Dieser sah wohl ein, daß das ein Werk der Unmöglichkeit sei, und machte sich voll Kummer und Sorge auf den Heimweg.

Zu Hause sagte er zu seinem Weibe: „So, jetzt können wir betteln gehen, wie der Bettler, dem Du das Brot gegeben hast; es ist gar der Graf selber gewesen, gesagt hab' ich's Dir, Du sollst kein Almosen geben! Wenn ich ihm aber bis zwölf Uhr die dickste Eiche aus dem Walde brächte, wären wir gerettet." „Du solltest es doch wenigstens versuchen", meinte das Weib.

Der Bauer holte seine Axt und ging, um den Jammer der Seinen nicht mit ansehen zu müssen, traurig in den Wald. „Ach Gott, wie werde ich wissen können, welches die größte Eiche ist?" dachte er, suchte und spähte im Walde herum und war ganz verzagt. Auf einmal stand ein schmucker Jäger vor ihm. „Was machst Du da?" fragte ihn dieser. Der Bauer erzählte nun dem Jäger sein Unglück und daß er, um es abzuwenden, bis Schlag zwölf Uhr mittags die dickste Eiche dieses großen Waldes dem Grafen aufs Schloß bringen sollte. „Die dickste Eiche kann ich Dir schon zeigen, komm nur mit mir", sagte der Jäger. Die beiden gingen nun durch Dick und Dünn tief in den Wald hinein und kamen endlich zu einer Eiche, daß das Bäuerlein staunend stehen blieb und die Hände zusammenschlug: „Helf uns Gott, diesen Riesenbaum sollte ich bis zwölf Uhr längst gefällt haben!" Obwohl er die Nutzlosigkeit seines Beginnens einsah, nahm er doch die Axt von der Schulter und hieb drei Streiche in die Eiche, aber es war, als ob er in einen Stein schlüge. Der Jäger hatte ihm lächelnd zugesehen und sagte nun: „Wir werden die Sache anders anpacken" und machte mit seinem Stutzen ein Kreuz auf den Boden. Sogleich lag eine große Fällaxt vor ihm. „So, das ist die richtige Axt", sagte der Jäger und hieb mit ihr mächtige Streiche in die Eiche. Der Bauer wollte ihm behilflich sein und sich mit seiner Axt gleichfalls am FäIllen des Baumes beteiligen, aber der Jäger lachte ihn nur aus. Bald neigte die gewaltige Eiche ihre Krone und fiel mit lautem Krachen zur Erde. Der Bauer wollte sogleich seinen Ochsen holen und versuchen, mit ihm den Baum fortzuschaffen, aber der Jäger sagte lachend: „Dein Öchslein ist viel zu schwach, um auch nur einen einzigen Ast fortschaffen zu können." Darauf klopfte er mit dem Stutzen dreimal auf die Erde. Sofort waren ein paar prächtige schwarze Rosse mitsamt einem mächtig starken Wagen zur Stelle. Der Jäger hob mit Riesenkraft die Eiche und warf sie auf den Wagen. Jetzt klopfte er wieder mit dem Gewehr dreimal auf den Boden und abermals zwei feurige Rappen waren zu Stelle. Wieder klopfte der Jäger dreimal mit dem Stutzen auf den Boden und nochmals standen zwei glänzende Rappen da. „So, das sind jetzt die richtigen Rösser!" sagte der Jäger und spannte die sechs prächtigen Pferde vor den Wagen. Dann bestieg er denselben, setzte sich hinauf und hieß den Bauer gleichfalls aufsitzen: „Aber mach' vorwärts! wir haben nimmer viel Lazien, es schlägt bald zwölf!" Der Jäger kutschierte und das Fuhrwerk fuhr pfeilschnell dahin, so daß sich der arme Bauer mit aller Gewalt an den Ästen der Eiche festhalten mußte, damit er nicht herabgeschleudert werde. Wie ein Eichkätzchen erklomm das Fuhrwerk den hohen, steilen Felsen, auf welchem das stolze Schloß stand, und im nächsten Augenblick hielt es vor demselben.

Der Graf schaute zum Fenster heraus und sah zu seinem Erstaunen die großmächtige Eiche und den Wagen mit den sechs schwarzen Rossen. „Muß sie noch in den Hof hinein?" frug das Bäuerlein den Grafen. „Ja, in den Hof muß sie!" befahl dieser. Ein Ruck, und das Fuhrwerk fuhr durch das geschlossene Burgtor, alles niederwerfend, was ihm im Wege stand. Der Graf sah den Burghof hinab und da sagte der Jäger zu ihm: „Schaut her, was für Ross' ich habe!" „Was gehen mich Deine Rösser an!" erwiderte unwirsch der Graf. „Wißt Ihr, wer die Rösser sind?" fragte ihn der Jäger. „Nein", sagte der Graf, „will es auch nicht wissen!" — „Wohl, das müßt Ihr wissen." — „So sag's mir's, wenn ich es wissen muß!" — „So will ich's Euch sagen: Das erste Paar sind Eure Eltern, das zweite Paar sind Eure Großeltern und das dritte Paar sind Eure Urgroßeltern, und so ein Roß könnt Ihr auch noch werden, wenn Ihr Euch nicht bessert." „Wenn's die ausholten, werde ich's auch ausholten", erwiderte höhnisch der Graf. Auf diese hochmütige Antwort holte der Jäger, der niemand anderer als der Teufel selber war, den Grafen und zerriß ihn in den Lüften.

Noch heutigentags sieht man vom Tale aus, wenn man zum Schlosse hinaufschaut, die Eiche, kommt man aber oben an, ist sie verschwunden.

Quelle: Im Sagenwald, Neue Sagen aus Vorarlberg, Richard Beitl, 1953, Nr. 596, S. 315ff