600. Der junge Graf, der in die Unterwelt kam

Ein steinreicher Graf lebte mit seiner Gemahlin und seinen beiden Töchtern herrlich und in Freuden, nur der eine heiße Wunsch war dem gräflichen Paare bisher versagt geblieben, der Himmel möchte ihnen einen Stammhalter bescheren. Da kam einmal eine alte Zigeunerin aufs Schloß und bettelte um ein Almosen, Die Gräfin, welche für die Armen ein mitleidiges Herz hatte, beschenkte sie reichlich. Hocherfreut dankte die Zigeunerin und sagte zur Gräfin, sie werde übers Jahr einen Sohn bekommen, und diesem solle man bei der Taufe den Namen Karl geben. „So heißt auch mein Gemahl", sagte die Gräfin. „Der künftige Stammhalter darf aber", fuhr die Zigeunerin fort, „bis zu seinem sechzehnten Lebensjahre niemals auf die bloße Erde treten, sonst wird er verschwinden." Als ein Jahr vergangen war, hatte sich auch die Weissagung der Zigeunerin erfüllt, und der neugeborene Stammhalter erhielt bei der Taufe den Namen Karl. Das Söhnchen wuchs zur Freude der Eltern heran, welche mit der größten Sorgfalt darauf sahen, daß Karl ja nie auf die bloße Erde zu stehen komme, und hielten ihm eigene Dienerschaft, welche den strengen Befehl hatte, auf den jungen Grafen acht zu haben und ihn zu überwachen.

Eines Tages, Karl hatte das sechzehnte Lebensjahr schon beinahe erreicht, wollte der Graf mit seinem Sohne, welcher zu einem vorzüglichen Reiter ausgebildet worden war, einen Ausflug zu Pferde in den Schloßwald veranstalten, zu dem alle Vornehmen der Umgebung geladen wurden. Dem jungen Grafen wurden zwei Diener zur Begleitung mitgegeben, welche darauf zu achten hatten, daß er während des Ausfluges nicht vom Pferde zu steigen brauche und beileibe den Erdboden nicht berühre. Als die glänzende Gesellschaft den Schloßwald erreichte, kam Karl mit seinen Dienern zu einer wunderbar klaren Waldquelle. Da erfaßte ihn ein heftiges Verlangen, von diesem Wasser zu trinken. Die Diener wollten ihm einen Becher voll reichen, er aber sagte, sie sollen nur vorwärtsreiten, er stehe bloß auf dem Brunnenbrett. Kaum hatten ihm die Diener den Rücken gekehrt, als Karl vom Pferde stieg und, den bloßen Erdboden berührend, verschwunden war. Ahnungslos ritten die Diener noch eine kurze Strecke weiter, da lief ihnen schon das Pferd des jungen Grafen ohne seinen Reiter nach, und dieser war und blieb verschwunden.

Karl war in die Unterwelt versetzt. Er sah sich nun ganz allein in einer Einöde, so weit sein Auge reichte, war alles eben, und er wußte sich keinen Rat, was er beginnen sollte. Einsam und verlassen wanderte er den ganzen Tag immer weiter bis zur Abenddämmerung, und noch breitete sich eine trostlose Ebene vor ihm aus. Von Mattigkeit übermannt, mußte er sich auf die Erde niederlegen und schlief bald ein. Am anderen Tag ging er wieder weiter und erblickte endlich in weiter Ferne einen schwarzen Punkt. Er eilte so schnell er konnte auf diesen Punkt zu, der immer größer wurde und sich in der Nähe als eine alte Bauernhütte erwies. Der junge Graf betrat die Hütte und traf darin ein Weib an; das hatte ein solch schreckliches Aussehen, daß er sich vor ihr zu fürchten begann. Sie aber lud ihn freundlich ein, sich bei ihnen auszuruhen, brachte ihm zu essen und fragte ihn, ob er arbeiten könne; da könnte er bei ihnen bleiben, zu tun gäbe es genug. Die Bäuerin hatte auch drei Töchter, Arelina, Karolina und Tresina mit Namen, die waren von so großer Schönheit, daß Karl noch nie in seinem Leben so engelschöne Mädchen gesehen hatte. Am Abend kam der Hausvater heim. Als er Karl erblickte, fragte er barsch: „Was habt Ihr da für einen Menschen? Woher ist er?" Karl antwortete, er sei der junge Graf Soundso und komme von der Oberwelt. Darauf sagte der Mann, morgen müsse er früh aufstehen, eine große Wiese abmähen. Der junge Graf fügte sich in sein Schicksal und ging in der ihm angewiesenen Kammer zu Bett. Ändern Tags in aller Früh war er zur Arbeit bereit. Nun gab ihm der Bauer eine hölzerne Sense, damit sollte er die Wiese abmähen. Der arme Karl sah wohl ein, daß er mit einem solchen Gerät nichts ausrichten könne und ging mit Tränen in den Augen fort. Auf der Wiese legte er sich aus lauter Betrübnis nieder und schlief ein. Zu Mittag trug ihm eine der Töchter, Arelina, das Essen aufs Feld hinaus. Als sie ihn schlafend sah, weckte sie ihn und sagte: „Karl, warum schaffst nicht?" — „Mit diesem Gerät", antwortete er traurig und zeigte ihr die hölzerne Sense, „kann ich mit dem besten Willen nichts machen." — „Ich will Dir helfen", sagte sie, „bis Du gegessen hast, habe ich alles Gras abgemäht. Aber wenn Dich mein Vater fragt, wer die Arbeit verrichtet habe, darfst Du mich nicht verraten, sondern mußt behaupten, Du selbst seiest damit fertig geworden." Karl versprach dies, und kaum war er mit dem Essen fertig, als auch schon die riesige Arbeit getan war. Abends kam der Bauer auf das Feld und fuhr Karl an: „Bist Du fertig jetzt?", und als er zu seinem Erstaunen sah, daß die Wiese abgemäht war, nahm er ihn mit nach Hause zum Abendessen. Darauf sagte der Mann zu Karl, morgen müsse er wieder beizeiten auf, es müßten im Wald soundsoviel Tannen gefällt werden. Am anderen Morgen gab ihm der Mann eine hölzerne Axt, mit der er die Tannen fällen sollte, und am Abend müsse die Arbeit getan sein. Karl ging mit der hölzernen Axt in den Wald. Ratlos und bekümmert legte er sich auf die Erde und schlief ein. Arelina brachte ihm wieder das Mittagessen, fand ihn schlafend und weckte ihn. Als Karl seine Mahlzeit beendet hatte, war auch Arelina mit dem Fällen der Tannen fertig. Karl wußte nicht, wie er seiner schönen Beschützerin danken sollte, sie aber sagte zu ihm: „Wenn Du mich nicht verläßt, bringe ich Dich wieder an die Oberwelt." — „Niemals verlasse ich Dich", entgegnete er. Arelina fuhr fort: „Also gib wohl acht und halte Dich morgen bereit; wenn ich an Deiner Türe klopfe, machen wir uns auf die Flucht."

Vor Tagesgrauen erhob sich Arelina und kleidete sich an. Bevor sie jedoch ihr Kämmerchen verließ, legte sie einen Besen in ihr Bett, welcher statt ihrer dreimal Antwort geben mußte, wenn die Mutter am Morgen nach ihr rief. So kamen die beiden eine weite Strecke fort, bevor die Flucht entdeckt wurde. Am Morgen, als es für die Bewohner der Hütte Zeit war, das Tagewerk zu beginnen, rief die Mutter: „Arelina, steh' auf l" — „Ja", antwortete der Besen. Nach einiger Zeit, als Arelina nicht erschien, rief ihr die Mutter abermals zu: „Arelina, steh' auf!" — „Ja", antwortete der Besen, aber diesmal etwas leiser. Noch immer erschien jedoch das Mädchen nicht, und da rief die Mutter ein drittesmal, sie solle doch aufstehen. Der Besen antwortete wieder mit „Ja", aber so leise, daß es kaum mehr zu vernehmen war, weil die beiden Flüchtlinge schon sehr weit fort waren. Endlich ging die Mutter in die Schlafkammer Arelinas und sah statt ihrer Tochter den Besen im Bett. Jetzt wußte sie auch, was vorgefallen war. Sie lief zu ihrem Manne und rief ihm zu: „Schnell, mach Dich auf die Weite, Karl und Arelina sind entflohen, und das Schönste, was Du auf Deinem Wege findest, nimmst mit, das sind diese zwei!" Dabei warf sie ihm ein Paar Schuhe hin, welche die Eigenschaft hatten, daß man mit ihnen bei jedem Schritte zwei Stunden weit kam. Der Mann zog die Schuhe an und eilte den beiden nach. Arelina bemerkte jedoch noch rechtzeitig, daß ihr Vater ihnen auf dem Fuße folgte und sagte zu Karl: „Jetzt müssen wir uns schleunig verwandeln, Du bist eine Illge und ich ein Rose!" Der Mann kam dahergeschritten, als er jedoch die Illge und die Rose sah, blieb er stehen und sagte zu sich selbst: „Das Schönste, was ich antreffe, soll ich mitnehmen; ach was, ich lauf noch eine Stunde, die beiden Blumen kann ich noch auf dem Rückwege mitnehmen." Sobald der Vater vorübergeschritten war, verwandelte Arelina sich und ihren Begleiter wieder in die menschliche Gestalt, und sie eilten weiter. Als der Mann zurückkam, fand er die zwei schönen Blumen nicht mehr vor, und die beiden Fliehenden hatten inzwischen wieder eine weite Strecke zurückgelegt. So kam er unverrichteter Sache nach Hause. Die Zauberin fragte ihn sogleich: „Hast nichts angetroffen?" — „Freilich wohl, zwei schöne Blumen, eine Ilge und eine Rose", antwortete er. Jetzt ging's los bei ihr. Sie machte ihm Vorwürfe, daß er die zwei Blumen nicht mitgenommen, hieß ihn gleich nochmal gehen und gab ihm ein anderes Paar Schuhe, mit denen man bei jedem Schritte sogar drei Stunden machen konnte. Arelina sah aber ihren Vater schon von weitem kommen und sagte zu Karl: „Jetzt haben wir die letzte Probe zu bestehen und müssen uns noch einmal verwandeln: Ich bin der Einsiedler und Du bist das Einsiedlerhüttlein!" Kaum war die Verwandlung geschehen, kam der Mann einhergeschritten und frug den Klausner, ob jemand vorbeigegangen sei. „Kein Mensch!" war die Antwort. „Dann muß ich noch vorwärts", sagte er und schritt davon. Karl und Arelina nahmen wieder ihre frühere Gestalt an und eilten weiter. Als der Mann endlich wieder nach Hause zurückgekehrt war, konnten sie nicht mehr verfolgt werden, denn Karl und Arelina waren inzwischen an die Oberwelt gekommen.

Sie befanden sich in einer dem jungen Grafen wohlbekannten Gegend und gelangten in einen prachtvollen Buchenwald. Arelina aber war nun durch die eilige Flucht und lange Wanderschaft so ermüdet, daß sie sich im Walde hinlegen und ein Schläfchen machen mußte. Karl wartete jedoch nicht, bis sie erwachte und ausgeruht hatte, sondern setzte seinen Weg nach dem elterlichen Schlosse fort. Als Arelina die Augen aufschlug, sah sie sich allein in der ihr fremden Gegend und im einsamen weiten Buchenwalde, wo sie weder Weg noch Steg kannte. Sie rief und rief nach ihrem Begleiter und irrte, nach ihm spähend, im Walde herum; der aber war und blieb verschwunden. Endlich kam sie in eine Waldlichtung und erblickte zu ihrer großen Freude in einiger Entfernung einen Bauernhof. Sie eilte auf das Gehöft zu und fragte dort die Bäuerin, ob sie vielleicht eine Dienstmagd brauche, sie würde sicher zufrieden sein mit ihr. Da es gerade um die Zeit der Heuernte war, kam Arelina der Bäuerin sehr gelegen und sie fragte nur noch, ob sie auch mähen und heuen könne. Nichts tue sie lieber als mähen und heuen, antwortete Arelina, sie sei darin sehr geschickt, worauf sie die Bäuerin sofort anstellte. An diesem Tage war der Bauer nicht zu Hause, da er in die Stadt gegangen war. Arelina ging nun mit den anderen Dienstboten aufs Feld heuen. Als sie zu arbeiten begann, ging es ihr derart leicht und flink vonstatten, daß den Knechten und Mägden nichts mehr zu tun übrig blieb und sie entsetzt ihre Rechen wegwarfen und nach Hause liefen. Das könne nicht mit rechten Dingen zugehen bei der neuen Magd, sagten sie zur Bäuerin. Als abends der Bauer heimkam, erzählte ihm diese sogleich, daß sie eine Magd angestellt habe, die leicht für sechs bis sieben Personen arbeite und sie daher keinen anderen Dienstboten mehr brauchten. „Ei, so eine Magd wäre mir schon recht", sagte der Bauer. Beim Abendessen erzählte er, daß in der Stadt heller Jubel herrsche und Feste gefeiert würden, da der junge Graf wieder gekommen sei. Arelina hatte aufmerksam zugehört und fragte nun, wo diese Stadt sei und nach dem Wege dahin. Am anderen Morgen sagte Arelina zum Bauer, sie möchte auch in die Stadt gehen zu den Festlichkeiten. Dieser erlaubte es ihr, und sie machte sich auf die Wanderschaft. Endlich trennte sie nur noch ein Wäldchen von der festlich geschmückten Stadt. In demselben nahm Arelina, welche fünf Nüsse in der Tasche hatte, zwei davon zur Hand und öffnete sie. Da kam ein wunderschönes Gefährt heraus; der Wagen war mit Silber beschlagen und mit zwei prächtigen Rappen bespannt. Arelina setzte sich, schön wie ein Engel, mit einem prunkvollen Kleide angetan, in den Wagen, und fort ging's geradewegs dem Schlosse zu. Dort fuhr sie ungehindert in den Schloßhof ein. Alles war erstaunt über die Ankunft der schönen Fremden, welche niemand kannte. Einen Diener fragte Arelina nach dem jungen Schloßherrn, worauf sie dieser ins Schloß führte. Im Hauptgange wurde sie jedoch durch den bösen Zauber der Mutter des jungen Grafen ganz verrupft und „verguntelt", so daß sie nun als häßliche, zerlumpte Person dastand. Barsch wies man sie aus dem Schlosse, und die Torwächter, welche Arelina eingelassen hatten, erhielten einen strengen Verweis, daß sie so eine zerlumpte Person nicht abgewiesen. Diese behaupteten jedoch, sie sei schön und prachtvoll gekleidet gewesen. Arelina verlor durch ihr Mißgeschick den Mut nicht und ging ins Wäldchen zurück. Dort schlug sie die anderen drei Nüsse auf. Da kam eine vierspännige Equipage samt Kutscher und Diener heraus, so nobel wie nur denkbar. Sie selbst hatte ein noch prächtigeres Kleid an und sah darin noch viel schöner aus als das erstemal. Wieder fuhr sie dem Schlosse zu. Dort angelangt, kam die ganze Dienerschaft herbei und staunte ob solcher Pracht und Schönheit. Arelina verlangte zu Karl, dem jungen Grafen, geführt zu werden, sie habe Wichtiges mit ihm zu sprechen. Der Dienerschaft fiel es auf, daß die Fremde den Taufnamen des jungen Grafen kannte und glaubte, da derselbe verlobt war, seine reiche Braut sei angekommen. Sofort wurde sie in einen Saal geführt, welchen gleich darauf auch der junge Schloßherr betrat. Karl erkannte jedoch Arelina nicht und fragte sie, wer sie sei. Sie antwortete ihm: „Weißt Du nicht mehr, wer Dich gerettet hat?" Jetzt gingen ihm wohl die Augen auf, freudig begrüßte er Arelina und ließ seine Eltern rufen. Erstaunt fragte der Vater, was es gebe. Karl antwortete: „Nun hat sich mein Schicksal erfüllt: ich will kein Gold und kein Silber, Arelina, meine Retterin aus der Unterwelt, soll meine liebe Braut sein l" Die Eltern gaben ihre Zustimmung und bald wurde die Hochzeit mit größtem Prunk gefeiert.

Quelle: Im Sagenwald, Neue Sagen aus Vorarlberg, Richard Beitl, 1953, Nr. 600, S. 326ff