DIE DREI DOSEN

Vor vielen Jahren lebte eine bettelarme Bäuerin, die hatte eine einzige Tochter, Annamirl mit Namen. Als nun Annamirl an einem schönen Maientag zur Schule ging, begegnete ihr auf dem Weg ein armer alter Mann und bat sie um eine Gabe. Das Mädchen, das ein gutes Herz hatte, erbarmte sich seiner. Es brach das Brot, das ihm die Mutter mitgegeben hatte, auseinander und schenkte dem Alten den größeren Teil. Darüber war dieser so erfreut, daß er in die Tasche griff, drei wunderschöne Dosen herausnahm und zu Annamirl sagte: "Hier hast du drei Dosen für deine Gutherzigkeit! Sie werden dir Glück bringen, doch hüte dich, sie vor drei Jahren zu öffnen!"

Annamirl strahlte vor Freude, nahm die drei Dosen, bedankte sich schön und ging ihres Weges weiter. Sie befolgte das Gebot des alten Mannes und hielt die Dosen in einer Truhe versperrt.

Kaum waren die drei Jahre vorbei, starb die gute Mutter, und eine Stiefmutter kam ins Haus, die das Mädchen durchaus nicht leiden konnte. Sie trug Annamirl die schwersten Arbeiten auf, kürzte ihr das tägliche Brot und gab ihr vom frühen Morgen bis zum späten Abend Schimpfworte mehr als genug. Da weinte Annamirl um ihre verstorbene Mutter, schlich oft verstohlen an deren Grab und klagte dort ihr Herzleid. Als dies der Stiefmutter zu Ohren kam, wurde sie noch böser.

Eines Tages trug sie dem Mädchen auf, ein Kleid zu machen, das heller strahlen sollte als die Sonne. Da wußte sich die Arme keinen Rat und weinte, daß es einen Stein hätte erbarmen können.

In dieser Not fielen Annamirl die drei Dosen ein, die sie in ihrer Truhe verwahrt hielt. Gleich sperrte sie das Schloß auf, holte die Dosen hervor und öffnete die erste. Im Nu sprang daraus ein Kleid hervor, das wirklich heller glänzte als die Sonne und Annamirls Kammer ins hellste Licht tauchte.

Da hüpfte das Mädchen vor Freude, lief schnell zur Stiefmutter und überreichte ihr das prächtige Kleid. Die Stiefmutter aber tat nicht viel dergleichen, denn sie wollte Annamirl noch weiter quälen. Also trug sie ihr auf, über Nacht die schönste Leinwand zu spinnen, die je gesehen wurde. Sie müsse fünfzig Ellen lang sein und sich durch einen Fingerring ziehen lassen.

Da öffnete Annamirl die zweite Dose, und siehe, augenblicklich konnte sie eine Leinwand herausholen, die fünfzig Ellen lang war und sich ohneweiters durch einen Fingerring ziehen ließ. Wieder ging das Mädchen zur Stiefmutter und brachte ihr das kostbare Stück, doch die Frau tat wieder nichts dergleichen. Sie meinte, daß es Annamirls Geschicklichkeit gelungen wäre, diese herrliche Leinwand zu spinnen, und ärgerte sich darüber ohne Maßen.

In ihrem Zorn trug sie dem Mädchen auf, nun ein Schloß aus Glas zu erbauen, das so hoch wie der höchste Berg sei.

Annamirl ging wieder in ihre Kammer und holte die dritte Dose hervor, um sie zu öffnen. Dabei fiel sie ihr jedoch aus der Hand und machte beim Herunterfallen ein so furchtbares Getöse, als ob die Welt in Trümmer ginge. Doch dann stand auf einmal draußen vor der Kammer ein herrliches Schloß aus Glas, so hoch wie der höchste Berg.

Das Getöse erschreckte die Stiefmutter. Sie lief aus dem Haus, und als sie den Palast sah, stieg sie die gläserne Stiege empor, glitt aber aus, fiel herab und blieb tot liegen.

Annamirl jedoch erreichte die Höhe. Dort kam ihr ein wunderschöner Prinz entgegen. Er schloß sie in die Arme und führte sie als seine Braut in das Schloß. Kurze Zeit darauf hielt er Hochzeit mit ihr, wurde später König und lebte mit Annamirl glücklich und zufrieden. Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.

Quelle: Österreichische Volksmärchen, gesammelt von Josef Pöttinger, Wien 1957