Die Flucht.
Eine verzauberte Prinzessin saß in einem hohen Bergschlosse und
wurde hier von einer bösen Hexe bewacht. Der junge Prinz, mit dem
die Prinzessin verlobt war, ging vergebens um den Berg herum und guckte
in die Fenster des Schlosses, wo seine Braut in Sehnsucht schmachtete.
Oft weinte er dann heiße Tränen, bis sich endlich eine Wahrsagerin
seiner erbarmte und versprach, die verzauberte Prinzessin zu befreien.
In Gestalt einer Taube flog sie auf das Fenster der Gefangenen und sprach
zu ihr: "Da hast Du einen Kamm, eine Bürste, einen Apfel und
ein Bettlaken. Fliehe mit diesen Dingen aus dem Schlosse. Wenn Dich die
Hexe verfolgt, so wirf zuerst den Kamm hin, sieh Dich um und fliehe weiter.
Läuft sie Dir dann noch nach, so wirf die Bürste und dann den
Apfel zur Erde. Und hört sie immer noch nicht auf, Dich zu verfolgen,
so wirf das Laken hin, und Du wirst das Schloß Deines lieben Vaters
erreichen".
Die Prinzessin dankte dem guten Täubchen aufs herzlichste und wartete
mit der Ausführung ihres Planes bis zum nächsten Donnerstag.
An diesem Tage, da es eben Neumond war, setzte sich die Hexe auf eine
Schaufel und ritt mit lautem Geschrei auf den Kahlenberg. Diese Gelegenheit
benutze die Prinzessin, und früh mit Tagesanbruch lief sie fort.
Sie lief, so schnell sie konnte, doch als sie sich umblickte, sah sie
zu ihrem Schrecken die Hexe, die auf einem Hahne schon ganz dicht hinter
ihr her geritten kam.
Voll Angst wirft die Prinzessin den Kamm hinter sich, so wie das Täubchen
ihr geheißen hat. Der Kamm dehnt sich aus, eine Meile in die Länge,
eine Meile in die Weite, und wird zum mächtigen Flusse. Die aufgehende
Sonne beleuchtet das blaue Wasser: herdenweise plätschern wilde Gänse
und Enten darauf herum, und die Schwalben netzen im schnellen Fluge die
schwarzen Flügel in den glänzenden Wellen. Die Hexe wird durch
den Fluß aufgehalten. Sie zittert und schäumt vor Wut, denn
auf dem andern Ufer entfernt sich die Prinzessin immer weiter. Die Hexe
besteigt also von neuem den Hahn, wirft sich ins Wasser und schwimmt durch
den Fluß.
Die Prinzessin wird blaß vor Schrecken und wirft die Bürste
hinter sich. Dann guckt sie sich um, und o Wunder: aus jeder Borste wird
ein ungeheurer Baum; es entsteht ein großer Wald, ganz finster und
dicht. Scharen von Wölfen heulen darin, und die Hexe muß sich
einen ganzen Tag lang durch Gebüsch und Dickicht hindurchzerren.
Aber auch die Prinzessin war nun schon müde und konnte nicht mehr
so schnell vorwärts wie am Anfang. Deshalb konnte auch die Hexe,
nachdem sie aus dem Walde heraus war, schnell nachkommen. Die arme Prinzessin
war kaum imstande, sich weiterzuschleppen, und warf den Apfel hinter sich.
Der Apfel wurde zum hohen, steilen Berge. Die Zauberin schäumte schon
wieder vor Wut, aber alles half nichts: sie mußte den Berg hinan,
und vom Gipfel erblickte sie die Prinzessin, die unten mit mattem Schritt
kaum vorwärts kam.
Die Hexe bestieg wieder ihren Hahn und flog pfeilschnell vom Berge hinunter.
Beinah konnte sie die Prinzessin am Rocke fassen: da wirft diese das Bettlaken
zur Erde - und ein breites Meer legt sich zwischen sie und die Verfolgerin.
Der Wind bewegt die Wellen. Die Hexe sieht von weitem aus wie Schnee,
so ist sie bespritzt von dem glänzenden Schaume der Wellen; aber
hindurchschwimmen kann sie nicht auf ihrem Hahne.
Die Prinzessin kam glücklich in das Schloß des Vaters. Dort
wartete auch schon der Prinz auf sie, der traute Verlobte. Der König
gab nun ein herrliches Gastmahl, und man feierte sogleich die Hochzeit.
Das Schloß erglänzte von Lichtern, und draußen auf dem
Meere ritt die schändliche Hexe immer noch auf dem ertrunkenen Hahne
umher. Sie sah das glänzende Schloß und hörte die lustigen
Geiger und das freudige Jauchzen der Gäste. Sie fluchte lange voll
Wut, aber zuletzt mußte sie auch elend ertrinken.
Sogleich verschwand das große Meer, aber der Leichnam der Hexe blieb
auf dem Felde liegen. Man wollte sie begraben, aber die Erde warf die
schmutzige Leiche immer wieder herauf. In einer Nacht trug endlich der
Sturmwind den eklen Körper hinauf zu dem Schlosse, wo die Hexe die
Prinzessin gefangen gehalten hatte.
Quelle: Kasimir Wladislaw Woycicki, Polnische Volkssagen und Märchen. Friedrich Heinrich Lewestam, Berlin, 1839