Von einem Grafen, der die Not nicht kannte

Es lebte einmal ein Graf; der wußte nicht, was Not ist. Wenn ein Armer zu ihm kam oder ein Wanderer, so fragte er ihn, was es in der Welt zu hören gibt. Jeder antwortete ihm, man höre von nichts anderem als nur von Not.

Eines Tages spricht der Graf zu seinen Dienern: "Ich muß einmal in die Welt hinausgehen und sehen, wie eigentlich die Not aussieht." - Wie gesagt, so getan. Er nahm sich einen Beutel mit Geld und ein Pferd mit und ritt in die Welt hinaus. Weit fuhr er in ein fremdes Land. Kaum betrat, er das erste Städtchen, so sah er einen Toten vor der Kirche in der Sonne liegen. Der Graf fragte die Leute, was das zu bedeuten habe, daß der Tote so daliegt und sich in der Sonne brät. Man antwortete ihm, es sei hier so Brauch. Wenn jemand stirbt und Schulden hinterläßt, so muß er solange in der Sonne liegen, bis sich seiner jemand erbarmt und ihm die Schulden bezahlt.

Da spricht der Graf zu den Leuten: "Saget mir wieviel er schuldig ist, ich -will für ihn bezahlen." Sie sagten ihm die Summe, die so groß war, daß er sie nur mit Mühe mit dem mitgenommenen Gelde bezahlen konnte. Der Tote wurde begraben, und der Graf ritt weiter.

Er gelangte in eine zweite Stadt. Der Hunger quälte ihn. Was sollte er tun ? Es gab keinen anderen Rat, als das Pferd zu verkaufen. - Dann ging er weiter, immer weiter, solange, bis er alles Geld wieder ausgegeben hatte. Hungrig war er, konnte aber niemanden um etwas bitten. Da kam er in einen Wald. Hier strömt ihm der Duft von Äpfeln entgegen. Der Graf geht weiter und sucht. Bald erblickt er einen runden, ebenen Platz; in der Mitte steht ein Apfelbaum, und auf dem Apfelbaum hängen wunderschöne Äpfel. Der Graf wollte sich einige abpflücken, - da spricht plötzlich etwas zu ihm: "Rühr sie nicht an, denn du hast sie nicht gepflanzt l" - Der Graf erschrickt, fängt an zu beten, steht dann auf und will wieder die Hand nach den Äpfeln ausstrecken. Von neuem vernimmt er die Worte: "Rühr sie nicht an, denn du hast sie nicht gepflanzt l" - Der Graf wollte nun weitergehen; doch sein Hunger war riesengroß und er dachte bei sich: "Ich will's noch einmal probieren!" Er kniete nieder, betete lange, erhob sich dann und griff wieder nach den Äpfeln. Jetzt hörte er keine Stimme mehr. Er pflückte sich so viel Äpfel ab wie er wollte, aß sich satt und ging dann weiter. Hinter dem Walde begegnet er einem alten Manne, der auf dem Wege kniet. Der Alte spricht zum Grafen: "Was tust du hier, was suchst du, Graf?" Der Graf antwortet: "Ich wußte nicht, was Not ist und bin deshalb in die Welt gegangen, um sie zu suchen; und wirklich hab ich sie gefunden ! 0, wahr ist es, die Not ist furchtbar! Ich weiß mir keinen Rat mit ihr!" Darauf sagt der Alte: "Ich könnte dir einen guten Rat geben, doch weiß ich nicht, ob du mit ihm einverstanden sein wirst." - "In alles willige ich ein, denn in meine Heimat kann ich doch nicht zurückkehren, und die Not setzt mir schon fürchterlich zu." - Da sagt zu ihm der Alte: "In dieser Stadt wohnt ein König; der hat drei verzauberte Töchter. Er würde, ich weiß nicht was dafür geben, wenn sich ein kühner Mensch fände, der seine Töchter befreien könnte. Alle drei verlassen um Mitternacht den Palast, nehmen eine Menge Schuhe mit und kehren erst mit der Morgenröte zurück. Könnte sie jemand behüten und beobachten, was sie in der Nacht tun, dann würde er ihr Erlöser sein. Gehe zu dem König, einige dich mit ihm und komm dann zu mir; ich will dir raten, was du tun sollst." -

Der Graf begab sich zum König und erklärte ihm, er sei bereit, seine Töchter zu behüten und zu beobachten. Der König sprach darauf: "Gut! wenn du sie erhütest, dann sollst du diejenige Königstochter erhalten, die dir am meisten gefällt, und mit ihr die Hälfte des Königreiches; kannst du es aber nicht, dann verlierst du den Kopf. Jetzt geh und richte dich für die Nacht." Der Graf ging zu dem alten Manne. Dieser belehrte ihn, was er tun soll. Er gab dem Grafen auch Schuhe und einen Mantel mit und sagte ihm, es würde ihm das in der Nacht von Nutzen sein.

Am Abend führte man den Grafen in die Gemächer der Königstöchter und ließ ihn dort allein. Er legte sich auf ein Bett nieder und begann bald zu schnarchen. Die Königstöchter erschienen vor ihm mit guten Speisen und mit Wein, begannen ihn zu bewirten, dann forderten sie ihn zum Tanz auf und gaben sich alle mögliche Mühe, ihn zum Aufstehen zu verlocken. Doch er stellte sich so, als ob er ganz fest schliefe und drehte sich nicht einmal auf die andere Seite. Es wurde 11 Uhr, die Königstöchter begannen sich vorzubereiten. Der Graf schielte ein wenig durch die Augenlider hindurch und hätte sich beinahe verraten. Alle drei Königstöchter waren so schön wie Hirschkühe^ die schönste von ihnen war aber die jüngste. Es schlägt zwölf. Die Königstöchter schleichen tup, tup an dem Bett vorüber, jede mit einem Bündel Schuhe auf dem Rücken. Sobald sie draußen waren, zog der Graf seine Schuhe an, mit denen man bei jedem Schritt eine Meile zurücklegt, warf sich den Mantel um, der ihn jedem Menschen unsichtbar machte, und setzte ihnen nach. Die Königstöchter fahren so schnell, was nur die Pferde laufen können und der Graf folgt ihnen Schritt für Schritt. Fahren sie schneller, so schreitet auch er schneller aus.

Sie gelangten zu einem gläsernen Palast. Aus den Fenstern strahlt Licht, Musik spielt, Rufe und Gesänge erschallen. Eigentümlich zugestutzte Kavaliere führen die Königstöchter am Arm in den Palast hinauf. Der Graf folgt ihnen Schritt für Schritt nach. Er blickt sich in dem Saale um und sieht an Stelle von Lampen ringsherum Totenköpfe stehen mit funkelnden Augen. Der Fußboden ist ganz mit scharfen Rasiermessern gepflastert. Der Graf erschrickt zuerst furchtbar, beruhigt sich aber und wartet ab, was weiter geschieht. Da fangen die Königstöchter auf den Rasiermessern zu tanzen und mit den Füßen zu stampfen an, so daß es einem in den Augen schwirrte. Jedesmal, wenn sie um den Saal herumgetanzt hatten, zogen sie ihre Schuhe aus und warfen sie zum Fenster hinaus. Dem Grafen gelang es, unsichtbar gemacht durch den Mantel, wieder hinauszukommen, denn er hatte von dem Anblicke genug. Draußen hob er sich ein Paar von den Schuhen der Königstöchter auf und ging in den Garten. Dort hingen an jedem Baume goldene Äpfel, Birnen und Pflaumen. Der Graf pflückte sich von jeder Sorte eine Frucht ab. Als das Vergnügen in dem Palaste sich seinem Ende näherte, kehrte er schnell in das Königsschloß zurück und legte sich wieder in sein Bett. Die Körigstöchter erscheinen auch bald und sehen ihn auf dem Bette liegen. Sie beginnen ihn auszulachen und freuen sich, daß sie ihn angeführt haben. Der Graf jedoch lachte sie im stillen noch mehr aus.

In der Frühe ließ der König den Grafen zu sich führen und fragte ihn, ob er die Töchter erhütet hätte. - "Ja, ich habe sie erhütet !" - "Nun, dann gib mir irgend welche Zeichen!" - Der Graf zog einen goldenen Apfel, eine goldene Birne und Pflaume und ein Paar zerschnittene Schuhe hervor. Die Königstöchter erbleichten und die erste von ihnen sagt: "Ich will bis zu den Knien zu Stein werden, wenn das wahr ist." Und sie wurde bis zu den Knien zu Stein. - Darauf sagt die zweite: "Ich will bis zum Gürtel zu Stein werden, wenn das wahr ist!" Und sie wurde bis zum Gürtel zu Stein. - Die dritte sagt: "Ich will ganz zu Stein werden, wenn das wahr ist l" Und sie wurde ganz zu Stein. - Man brauchte drei Särge und legte die Königstöchter hinein. Der König spricht darauf zum Grafen: "Da du sie zu ihren Lebzeiten bewachen konntest, so mußt du sie auch jetzt nach dem Tode drei Tage lang in der Kirche bewachen. Gelingt es dir, so erhältst du die Hälfte meines Königreiches, gelingt es dir aber nicht, so ist dein Kopf verloren."

Kummervoll begab sich der Graf zu dem Alten und erzählte ihm alles. Der Alte sagt zu ihm: "Fürchte nichts! Laß um den Sarg der ältesten Königstochter zwei Reifen schmieden, die ungefähr zwei Zoll stark sind. Gegen Abend geh dann auf das Kirchenchor, laß dich dort zuschließen und nimm dir einen Stock mit." - Der Graf ging in die Kirche und tat wie ihm der Alte befohlen. Gegen Abend stieg er aufs Chor und ließ sich zuschließen. Es schlägt 11 Uhr, die Reifen platzen, der Sargdeckel springt auf, es erhebt sich die älteste Königstochter und sucht jemanden in der Kirche. Nach langem Suchen schaut sie zum Chor empor und ruft: "Aha! dort bist du, mein Vögelchen I" Sie ergreift eine Bank nach der anderen, schichtet sie übereinander und erreicht das Chor. Als sie schon fast oben war, stößt der Graf mit dem Stocke die Bänke um und sie fällt hinunter. In demselben Augenblick schlägt es zwölf. Die Königstochter muß in ihren Sarg zurück.

Am folgenden Morgen begab sich der Graf wiederum zu dem Alten, um ihn zu fragen, Was er weiter tun- soll. Der Alte spricht zu ihm: "Laß um den Sarg der mittleren Königstochter drei Reifen schmieden und versteck dich in der Sakristei. Dort ist eine Vertiefung, die mit Knochen gefüllt ist. Laß die Knochen herausnehmen, krieche dann in die Vertiefung mit dem Kopf nach unten und laß dich mit den Knochen zudecken."

Der Graf tat, wie ihm der Alte befohlen. Er kroch in die Vertiefung hinein und wurde mit den Knochen zugedeckt. Es schlägt elf, die Reifen platzen, der Sargdeckel springt auf, die mittlere Königstochter erhebt sich, sucht ihn. in der ganzen Kirche, kann ihn aber nirgends finden. Dann kommt sie in die Sakristei, beginnt die Knochen auseinander zu werfen und findet seine Füße. Sie will ihn herausziehen, beißt ihn aber nur in die Ferse, denn sie hat keine Zeit mehr. Die Uhr schlägt zwölf, sie muß in ihren Sarg zurück.

Am folgenden Morgen ging der Graf wiederum zu dem Alten. Der sprach zu ihm: "Laß dir ein Sieb machen, das sofort zu brennen anfängt, Wenn du es fortwirfst. Den Sarg der jüngsten Königstochter laß auf einen hohen Katafalk aufstellen, nimm das Sieb in die Hände, geh vor den Altar und bete. Sobald sie aufsteht, wird sie sich auf dich stürzen. Wirf dann schnell das Sieb gegen sie, und wenn es auf ihr verbrennt, so nimm sie bei der Hand und bete bis zum Morgen. Dann erhältst du die Königstochter und die Hälfte des Reiches." Der Graf Wußte nicht, auf welche Weise er sich dem guten Alten für die Hilfe dankbar erzeigen könnte. Doch der Alte sagte zu ihm: "Du hast für mich die Schuld bezahlt, als ich mich in der Sonne briet, ich mußte es dir vergelten. Jetzt sind wir quitt." Mit diesen Worten verschwand er.

Der Graf verwunderte sich sehr darüber, ging dann in die Kirche, nahm sich das Sieb und wartete kniend vor dem Altar. Es schlägt elf, der Sarg knarrt, der Deckel springt auf, die jüngste Königstochter erhebt sich und stürzt sich auf den Grafen. Er wirft das Sieb gegen sie, es verbrennt vollständig auf ihr, dann nimmt er sie bei der Hand und führt sie zum Altar. Früh morgens will der Organist die Kirche aufschließen; es gelingt ihm nicht. Da holt er den König. Dieser kommt, macht die Tür zur Hälfte auf - siehe, da verlassen viele Menschen die Kirche, die, sobald sie draußen ankommen, verlöschen. Zuletzt kommt der Graf mit der jüngsten Königstochter, gefolgt von den beiden älteren. Der König War darüber sehr erfreut und führte sie in den Palast. Dort veranstaltete er eine große Hochzeitsfeier, verheiratete den Grafen mit der jüngsten Tochter und schenkte ihm die Hälfte seines Reiches. Der Graf lebte glücklich mit der erlösten Königstochter und wurde nie mehr von Not heimgesucht.

Quelle: J. Piprek, Polnische Volksmärchen, Wien 1918, S. 11
Das Märchen stammt aus Krzeszowice, einem Dorf im Kreise Chrzanów in Galizien und ist erzählt im "Lud", Bd. VIII, 1902, S. 191