Die Grotten im Schwarzen Berge.
Der Schwarze Berg in Galizien hat viele geheimnisvolle Löcher und
Grotten. Ein schmaler Fußweg geht durch Unkraut und dickes Gebüsch.
Wenn die Dämmerung anfängt, ist hier kein Mensch mehr zu sehen.
Denn gleich nach Sonnenuntergang hört man im Innern des Berges unheimliches
Brausen und Kettengeklirr, und mitten in der Nacht erblickt man im Scheine
des Mondlichtes die Geister erschlagener Räuber, die früher
hier gehaust und in den umliegenden Dörfern Tod und Schrecken verbreitet
haben. Schweigend tritt alsdann ein Zug von zwölf riesenhaften weißen
Gestalten aus dem Berge hervor. Einen offenen Sarg tragen sie auf ihren
Schultern. Sie steigen damit auf den Gipfel des Berges und verschwinden
im Nebel. Dann beginnen auch die Schädel der Gemordeten, die unter
den Steinen umherliegen, einen fürchterlichen Totentanz.
In den Grotten des Berges liegen noch heute unermeßliche Reichtümer,
- die Schätze, die die Räuber den Wanderern geraubt oder aus
Kirchen und Häusern fortgeschleppt haben. Doch nur selten ist die
Tür zu den Grotten zu finden, obwohl manchmal Gespenster in Pilgergestalt
im Eingang verschwinden. -
Einmal sah ein junger Bauer, der am Steinbruch eine Buche fällen
wollte, wie ein Pilger langsamen Schrittes durch den Wald daherkam. Der
Bauer versteckte sich hinter einen dicken Baum, und der Pilger ging achtlos
an ihm vorbei ins Innere des Berges. Leise folgte ihm der pfiffige Bursche,
und da sah er, daß der Pilger an einer kleinen Tür stehen blieb,
die noch niemand aus dem Dorfe bemerkt hatte. Der Pilger klopfte an und
sprach mit leiser Stimme: "Türlein, tu dich auf!" Sogleich
öffnete sich die Tür. Dann sprach er wieder: "Türlein,
tu dich zu!" und die Türe schloß sich. Der Bauer zitterte
vor Angst, doch vergaß er nicht, die Stelle mit abgerissenen Zweigen
zu bezeichnen.
Von nun an konnte er weder essen noch schlafen. Etwas Geheimnisvolles
zog ihn immer fort; er wollte erfahren, was in den Grotten sei.
Am Sonnabend fastete er den ganzen Tag, und am Sonntag ging er zeitig
früh mit einem kleinen Kreuze in der Hand zu dem bezeichneten Orte.
Er klapperte vor Angst mit den Zähnen; trat an die Tür und horchte
lange; doch drinnen war alles still. Endlich klopfte er stark an und rief,
halb ohne Besinnung: "Türlein, tu dich auf!"
Die Tür sprang auf, und er trat in ein finsteres Gewölbe. Fast
willenlos sprach er nun: "Türlein, tu dich zu!" und die
Tür sprang wieder ins Schloß. Er ging weiter und kam in einen
großen hellen Saal.
Im Saale standen ungeheure Fässer mit weißen Silbertalern und
roten Goldgulden angefüllt. Dann standen auch mächtige Kisten
da mit echten Perlen und Edelsteinen. Auf silbernen Tischen lagen große
Haufen von goldenen Kreuzen und schönen Heiligenbildern. Der Bauer
bekreuzte sich vor all den Herrlichkeiten, doch konnte er sich nicht enthalten,
etwas davon einzustecken, denn er dachte an seine Frau und an seine kleinen
Kinder, die schon beinahe nackt gingen.
Er ließ also die Angst fahren, langte in ein Faß und nahm
sich etwas von dem Silbergelde. Schnell griff er dann an seinen Kopf und
war beruhigt, als dieser noch an seinem Platze stand. Nun nahm er noch
eine Handvoll kleinen Silbergeldes; dann schob er sich zitternd zur Tür.
"Komm wieder!" rief eine Stimme aus dem Innern des Berges. Dem
Armen wurde schwindlig, alles kreiste rund um ihn her, und kaum vermochte
er noch zu sagen "Türlein, tu dich auf!" Sogleich öffnete
sich die Tür, und mit erleichtertem Herzen eilte der Bauer hinaus.
Zu Hause erzählte er nichts von seinen Schätzen. Doch ging er
in die Kirche und gab einen Teil für die Armen. Am nächsten
Tage ging er in die Stadt und kaufte Lebensmittel und Kleider für
Frau und Kinder, und er erzählte ihnen dann, er habe unter den Wurzeln
der gefällten Buche einen alten Taler und einige Gulden gefunden.
Am Sonntag darauf ging er schon mit weniger Furcht in die Grotte und nahm
schon etwas mehr Geld aus dem Fasse. "Komm wieder!" rief ihm
die Stimme nach, und er kam am nächsten Sonntag wieder und füllte
nun seine Taschen bis zum Rande.
Jetzt war er schon ein reicher Bauer. Aber was sollte er machen mit dem
vielen Gelde? Zwei Zehntel von seinem ganzen Vermögen opferte er
für die Kirche und für die Armen, und was dann übrig blieb,
wollte er im Keller vergraben, als Notpfennig für die Zeit einer
Mißernte. Zuvor jedoch wünschte er sein Geld zu messen, denn
zählen konnte er nicht. Er ging also zu seinem Nachbar, einem schwerreichen
Manne, um von ihm einen Scheffel zu borgen. Dieser Nachbar war ein Geizhals.
Bei all seinem Reichtum litt er Hunger, mit dem Korn trieb er abscheulichen
Wucher, seine Arbeiter betrog er um den Tagelohn, und seinen Dienstboten
behielt er den Lohn zurück. Dabei hatte er weder Frau noch Kinder.
In jenem Scheffel waren große Ritzen, durch die der Geizhalz, wenn
er den armen Tagelöhnern ihren Roggen zumaß, den größten
Teil des Korns wieder auf seinen Haufen zurückfallen ließ.
In diesen Ritzen nun blieben einige kleine Silberstücke stecken,
die das Falkenauge des geizigen Nachbars bald entdeckte. Er suchte den
Bauer im Walde auf und fragte ihn, was er denn mit dem Scheffel gemessen
habe. "Haselnüsse!" antwortete stotternd der Gefragte.
Da schüttelte der Geizhals den Kopf, zeigte ihm die Silberstücke
und drohte mit dem Richter und mit dem Henker. Nach und nach entlockte
er dem andern das Geheimnis von den Schätzen in der Grotte.
Die ganze Woche dachte der Geizhals darüber nach, wie er den ganzen
Schatz auf einmal herausholen könnte. Dann wollte er Felder und Wälder,
Dörfer und Schlösser zusammenkaufen und endlich gar Graf oder
Fürst werden.
Dem jungen Bauern war es nicht ganz recht, daß sein neidischer Nachbar
die Grotten besuchte; aber schließlich versprach er, bis zur Tür
mitzugehen; - dort sollte er die von dem Wucherer gefüllten Säcke
in Empfang nehmen. Nachher wollten sie das ganze Geld teilen, ein Zehntel
der Kirche schenken und allen Armen im Dorfe neue Kleider kaufen. So war
ihre Verabredung.
Im Grunde des Herzens aber beschloß der Geizhals, den Bauern, wenn
er ihn nicht mehr nötig habe, in den tiefsten Abgrund hinabzustoßen,
die Kirche bloß mit einigen Silberlingen zu bedenken und sich um
die Armen garnicht zu kümmern.
Als der erwartete Sonntag gekommen war, machten sich die beiden auf den
Weg zu den Grotten. Der Geizhals schleppte eine Schaufel, ein mächtiges
Beil und einen großen Sack, und in diesem Sacke steckten wieder
hundert kleinere Säcke. Der Bauer warnte ihn immer wieder vor einer
solchen Habgier, - aber der Wuchrer ging fluchend und zähneknirschend
weiter. Nun waren sie an der Tür. Der junge Bauer blieb hier stehn,
doch wurde ihm schon ganz übel vor Furcht.
"Türlein, tu dich auf!" rief der Geizige mit tiefer, kräftiger
Stimme. Die Tür öffnete sich.
"Türlein tu dich zu!" rief er wieder, und die Tür
klappte zu. Kaum war er drinnen, da erblickte er die Fässer und Kisten
mit Geld und Edelsteine.
In aller Geschwindigkeit schätzte er diese Kostbarkeiten ab, und
dann begann er mit zitternder Hand die Säcke zu füllen.
Da kam aus dem Innern der Höhle ein großer schwarzer Hund mit
feurigen Augen langsamen Schrittes heran. Der erschrockene Wucherer bekam
einen heftigen Schwindel und ließ die Säcke fallen. Der Hund
fletschte ihm seine Zähne entgegen und heulte gräßlich:
"Was willst Du hier, Du Wuchrer?"
Von Schauder ergriffen fiel der Geizhals zu Boden und kroch auf allen
Vieren nach der Tür. Aber in seiner Angst vergaß er das richtige
Wort und schrie immer nur: "Türlein, tu dich zu!" und die
Tür blieb geschlossen.
Der junge Bauer draußen wartete mit klopfendem Herzen. Er horchte
an der Tür, - da hörte er ein dumpfes Geschrei und Gestöhn,
vermischt mit Hundegeheul. Bald darauf war's wieder ganz still. Eben fingen
die Glocken an zum Gottesdienst zu läuten. Er betete also ein Vaterunser,
bekreuzte sich und klopfte leise an die Tür, indem er die bekannten
Worte aussprach. Die Tür sprang auf. Er trat in die Grotte - und
schauderte zurück vor dem gräßlichen Anblick: der mit
Blut bespritzte Leichnam des Wuchrers lag auf den Säcken ausgestreckt,
und die Fässer und Kisten mit Gold, Silber und Edelgestein sanken
langsam hinab in die Tiefen der Erde.
Quelle: Kasimir Wladislaw Woycicki, Polnische Volkssagen und Märchen. Friedrich Heinrich Lewestam, Berlin, 1839