Die Krähe.
In einem königlichen Schlosse lebten drei Schwestern. Alle drei
waren hübsch und jung, die jüngste war aber von allen die gutherzigste.
Nicht weit, etwa eine halbe Meile entfernt, stand ein zweites, schon zerfallenes
Schloß, und dabei war ein köstlicher Garten. Hier ging die
jüngste Prinzessin gern spazieren.
Einmal ging sie die Lindenallee auf und ab, da hüpfte aus einem Rosengesträuch
eine schwarze Krähe hervor. Sie war ganz zerfetzt und blutig, sodaß
die gute Prinzessin Mitleid mit ihr hatte. Kaum sah das die Krähe,
als sie in diese Worte ausbrach:
"Ich bin keine Krähe, ich bin ein verzauberter Prinz und muß
meine jungen Jahre so im Elend zubringen. Wenn Du's wolltest, o Prinzessin,
Du könntest mich wohl retten. Sei für immer meine Gefährtin,
trenne Dich von Deinen Lieben und komme zu mir in dieses Schloß.
Ein Zimmer ist noch wohnlich, drin steht ein goldenes Bett. Einsam wirst
Du hier leben. Doch vergiß nicht: was Du in der Nacht auch siehst
und hörst, - nie darfst Du ein Angstgeschrei erheben; denn wenn Du
nur ein einziges Mal schreist, sind meine Qualen verdoppelt."
Die gütige Prinzessin verließ Vater und Mutter und bewohnte
in dem einsamen Schlosse das Zimmer mit dem goldenen Bett. Am ersten Abend
konnte sie nicht einschlafen. Um Mitternacht hörte sie, daß
etwas geschlichen kam. Die Tür öffnete sich sperrweit, und ein
Heer böser Geister stürmte herein. Die Teufel zündeten
auf dem Herde ein großes Feuer an, darauf kochten sie Wasser in
einem großen Kessel. Dann kamen sie mit Lärm und Geschrei zum
Bette, rissen das zitternde Mädchen heraus und schleppten es zum
Kessel.
Sie starb beinah vor Furcht, doch gab sie keinen Laut von sich. Da krähte
plötzlich der Hahn, und alles verschwand. Und da erschien die Krähe
und hüpfte vor Freude im Zimmer umher. Sie dankte der Prinzessin
für ihren Mut, denn schon waren die Qualen des armen Tierchens bedeutend
vermindert.
Die eine der älteren Schwestern hatte das alles erfahren, und aus
Neugier kam sie die jüngste besuchen. Hier drang sie solange mit
Bitten in sie, bis das gute Kind ihr endlich erlaubte, eine Nacht mit
ihr im goldenen Bette zuzubringen. Als aber um Mitternacht die bösen
Geister erschienen, schrie die Ältere laut vor Angst, und sogleich
ertönte ein schmerzliches Gezwitscher. Von nun ab nahm die Jüngste
keine ihrer Schwestern mehr zu Gaste.
Sie lebte einsam und litt die schrecklichste Angst vor den Geistern der
Nacht. Aber plötzlich kam die Krähe, dankte ihr für ihre
Ausdauer und sagte, ihre Leiden seien schon bedeutend vermindert.
So waren zwei Jahre vergangen, da sprach die Krähe zur Prinzessin:
"In einem Jahre ist meine Strafzeit vorbei. Ehe ich jedoch meine
wahre Gestalt wiedererlange, mußt Du in die weite Welt und als Magd
dienen."
Die junge Prinzessin diente nun ein ganzes Jahr lang, und obgleich sie
jung und hübsch war, entging sie doch den Nachstellungen der Bösewichte.
Eines Abends spann sie Flachs und war schon ganz müde. Da vernahm
sie frohes Rufen, und herein trat ein schöner Jüngling, kniete
nieder vor ihr und küßte ihre arbeitsmüden weißen
Händchen.
"Ich bin es," rief er aus, "ich bin der Prinz, den Du durch
Deine Güte von furchtbaren Qualen befreit hast, als ich noch in Gestalt
einer schwarzen Krähe umherwandelte. Komm nun mit auf mein Schloß.
Wie glücklich wollen wir da miteinander leben!"
Und sie zog mit nach dem Schlosse, wo sie solchen Schrecken erlebt hatte.
Hundert Jahre lebt' sie drinnen, hundert freudenvolle Jahre.
Quelle: Kasimir Wladislaw Woycicki, Polnische Volkssagen und Märchen. Friedrich Heinrich Lewestam, Berlin, 1839