Vom Werwolf.
1.
Man feierte das Erntefest. Auf einem blumigen Hügel am Ufer der
Weichsel tanzte das junge Volk. Fässer mit Bier und Schnaps standen
da, denn auch die Alten wollten fröhlich sein. Mitten im lautesten
Jubel machte plötzlich ein lauter Schrei die Musik und die fröhlichen
Lieder verstummen. Man hörte auf zu tanzen. Alle drängten dahin,
woher der Lärm zu kommen schien. Und sie mußten etwas Schreckliches
sehen: ein Werwolf hatte das schönste Mädchen des Dorfes gefaßt
und schleppte es im Rachen fort.
Die jungen Männer eilten ihm nach, und bald war das Untier eingeholt.
Aber dieses ließ seine Beute auf die Erde fallen, stellte sich voll
Wut davor und erwartete den Angriff. Die armen Burschen wußten sich
nicht zu helfen; einige liefen nach Hause um ihre Flinten, andere traten
furchtsam ganz zurück. Als der Werwolf das sah, hob er schnell das
Mädchen wieder auf und rannte in vollem Lauf dem Walde zu.
Fünfzig Jahre später war auf demselben Hügel die Jugend
des Dorfes wieder zu fröhlichem Spiel versammelt. Da sahen sie einen
eisgrauen Alten herankommen und baten ihn, an ihrer Fröhlichkeit
teilzunehmen. Er aber setzte sich schweigend nieder und leerte traurig
das Glas mit Schnaps, welches man ihm reichte. Einer der Bauern, der fast
ebenso alt war, ging zu dem Fremden hin und fing an mit ihm zu reden.
Jener sah ihm lange ins Gesicht, endlich rief er mit Tränen: "Was,
Du bist es, mein lieber Stephan?"
Und sogleich erkannte der Bauer seinen älteren Bruder, der vor fünfzig
Jahren auf rätselhafte Weise verschwunden war. Erstaunt umringten
ihn alle, und nun erfuhren sie, wie eine böse Hexe ihn in einen Werwolf
verwandelt und er dann das Mädchen beim Erntefest geraubt habe, wie
es aber ein Jahr darauf vor Kummer im Walde gestorben sei.
"Von da an," fuhr er fort, "warf ich mich mit Heißhunger
auf alle Menschen. Wen ich nur packen konnte, den fraß ich auf,
und die Blutspuren hab ich noch immer nicht verwischen können."
Hierbei zeigte er seine Hände, - sie waren ganz mit Blut bespritzt.
Und er sprach weiter: "Vier Jahre irre ich nun wieder in Menschengestalt
umher. Ach, ich wollte Euch noch einmal sehen, Euch und das Dorf, wo ich
geboren bin. Dann, - o meine lieben Freunde! - dann fliehet vor mir, dann
werd' ich wieder ein Werwolf wie vorher!"
Kaum hat er das gesagt, so springt er plötzlich, in einen Wolf verwandelt,
auf schnellen Beinen davon, heult gräßlich und verschwindet
für immer im Walde.
2.
Eine Hexe verliebte sich einmal in einen jungen Burschen, doch es gelang
ihr nicht, seine Gegenliebe zu erwecken. Endlich schwur das böse
Weib, an ihm furchtbare Rache zu nehmen.
Bald darauf traf sie den hübschen Knecht und sagte spottend: "O
warte nur! Sobald Du in den Wald gehst, verwandelst Du Dich beim ersten
Schlage Deiner Axt in einen grausamen Werwolf!"
Aber der leichtsinnige Bursche achtete der Drohung nur wenig, spannte
seine Ochsen vor den Wagen und fuhr ins Holz. Kaum hatte er die Axt zum
ersten Schlage erhoben, als sie seiner kraftlosen Hand entfiel. Ganz erschrocken
besieht er sich, - seine Hände haben sich schon in Wolfsklauen verwandelt.
Besinnungslos rennt er im Walde umher. Er kommt zu einer Quelle und sieht
nun mit Grausen: er ist von Kopf zu Fuß ein wirklicher Wolf geworden.
Nur paar Lappen seiner Kleider hängen ihm noch am Leibe.
Er eilt zu seinen Ochsen hin; aber diese geraten bei seinem Anblick in
Furcht und laufen fort. Noch eins will er versuchen: seine bekannte Stimme
soll ihnen freundlich Stillstand gebieten. Doch ach! statt eines menschlichen
Wortes kommt rauhes Wolfsgeheul aus seiner Kehle. Nun muß er einsehen,
daß der Hexe Drohungswort an ihm erfüllt sei.
Doch auch in der Wolfsgestalt war es ihm unmöglich, sich von seinem
heimatlichen Dorfe ganz zu trennen; er blieb immer in der Gegend. Nie
konnt' er sich an rohes Fleisch gewöhnen, und der Gedanke nur an
Menschenfleisch erregte Grausen in ihm. Deshalb begann er die Hirten und
Schnitter zu schrecken und sie von der Arbeit zu verjagen; dann fraß
er ihnen gierig Milch und Brot und ihre andern Speisen auf.
Nachdem der arme Wolf schon viele Jahre auf diese Weise zugebracht hatte,
empfand er einmal einen mächtigen Drang zum Schlafen. Er warf sich
also auf eine Wiese und schlief ein. Wie groß war seine Verwunderung,
als er sich beim Erwachen wieder in einen Menschen verwandelt sah!
In seiner Freude dachte er nicht daran, daß er ganz unbekleidet
war, und so schnell wie möglich lief er nach seiner lieben Hütte.
Aber kein Glück ist dauerhaft, sagt das Sprichwort. Das mußte
auch unser Knecht erfahren: seine Eltern waren gestorben, Katharina, seine
Geliebte, hatte sich einen andern genommen, und schon vier Kinder balgten
sich vor ihrer Hütte. Seine Freunde waren entweder gestorben oder
in fremde Länder gezogen.
Der arme Bauer trug alle diese Nachrichten mit festem Mute, aber ihm blutete
das Herz dabei. Im Schweiße seines Angesichts bearbeitete er sein
kleines Feld, und wenn er am Sonntag mit den andern Männern im Gasthause
saß, so erzählte er ihnen sein Leiden und sein Unglück,
in das ihn die Rache der verschmähten Zauberin gestürzt hatte.
3.
Ein Bauer war sieben ganze Jahre Werwolf gewesen. Als nun seine Zeit
um war, wurde er wieder in einen Menschen verwandelt. Nackt und hungrig
lief er den ganzen Tag seinem Hause zu. Dort wohnte seine Frau mit seinen
Kindern. Am späten Abend endlich kam er an und klopfte an die verschlossene
Tür.
"Wer da?" so rief es aus der Hütte, und der Bauer erkannte
die Stimme seiner Frau.
"Ich bin's! Dein Mann! Dein lieber Mann! Geschwind mach auf!"
"Alle guten Geister loben den Herrn! Um Gottes willen, Mann, steh
auf!" rief das erschrockene Weib; und der Bauer sah seinen alten
Knecht herauskommen, der unterdessen seine Frau geheiratet hatte und Herr
vom Hause geworden war. Der Knecht hielt eine große Mistgabel in
der Hand und wollte den rechtmäßigen Besitzer damit vertreiben.
Erzürnt über die Treulosigkeit seiner Frau, rief der Bauer schmerzlich
aus: "O, warum bin ich kein Werwolf mehr, wie würd' ich gleich
das böse Weib bestrafen!"
Kaum hat er so gesprochen, so wird der frevelhafte Wunsch erfüllt.
Von neuem ist er in einen Wolf verwandelt, und wütend stürzt
er sich auf seine Frau und wirft sie um mitsamt dem Kinde, das aus der
zweiten Ehe war und an der Mutter Brust lag. Das Kindlein fraß er
auf, und auch die Frau zerbiß er tödlich.
Auf der Unglücklichen Geschrei liefen bald die Nachbarn zusammen
und warfen sich vereint auf das reißende Tier. Es vermochte sich
nicht lange zu widersetzen. Die Bauern erhoben ein Freudengeschrei. Als
sie aber beim Lichte eines Kienholzes das Untier näher beschauten,
da erkannten sie zu ihrem Schrecken, daß der Landmann getötet
dalag, der vor sieben Jahren spurlos verschwunden war und von dem wohl
mancher erzählt hatte, er sei in einen Werwolf verwandelt. Nun war
menschliche Hilfe für ihn zu spät, und auch die Bäuerin
starb bald darauf an ihren Wunden.
Quelle: Kasimir Wladislaw Woycicki, Polnische Volkssagen und Märchen. Friedrich Heinrich Lewestam, Berlin, 1839