DER ÜBERWUNDENE RIESE

Ein Mann hatte drei Söhne, die schickte er mit den Schafen aus und gebot ihnen, niemandem zu antworten, der sie bei Nacht anrufen würde. Es traf sich aber, dass sie eines Nachts rufen hörten: "Ihr Jünglinge!" Da sagte der Jüngste: "Lasst uns antworten!" Der Älteste aber erinnerte an das Verbot des Vaters und wollte es nicht zulassen. Über eine Weile riefs zum zweitenmal: "Ihr Jünglinge!" Darauf sprach der Mittlere: "Lasst uns antworten!" Da gab der Älteste auch nach, und als es zum drittenmal rief, antworteten alle drei: "Hier sind wir!" Alsbald sahen sie einen Riesen herbeikommen, der rief ihnen schon von ferne zu: "Suchet euren fettesten Hammel aus und bratet ihn für mich, denn ich habe grossen Hunger." Bebend gehorchten sie und brieten den fettesten Hammel am Feuer. Im Nu hatte ihn der Riese verschlungen. Darauf sagte er: "Folget mir nach!" Und führte sie samt ihrer Herde in einen ummauerten Hof, scbloss das Tor und legte ein kopfdickes Schloss daran. Dann schritt er vor ihnen her seiner Wohnung zu, und sie mussten ihm folgen und die Herde im Hof zurücklassen. Als sie in die Wohnung des Riesen eintraten, sagte der Älteste: "Guten abend!" Und der Riese sagte: "Gut wirst du sein für heute abend" Darauf grüsste der Mittlere: "Guten abend!" Und der Riese erwiderte: "Gut wirst du sein für morgen abend." Zuletzt grüsste der Jüngste: "Guten abend!" Und der Riese dankte: "Gut wirst du sein für übermorgen abend." Dann machte er ein gewaltiges Feuer an, hing einen grossen Kessel darüber und begab sich zur Ruhe, indem er ihnen befahl, ihn zu wecken, wenn das Wasser sieden werde. Zur bestimmten Zeit weckten ihn die Brüder. Da fasste er den Ältesten, warf ihn in den Kessel und frass ihn auf. Dann stellte er Wasser bei und legte sich abermals mit dem Befehl, ihn zu wecken, wenn das Wasser sieden werde. Der Jüngste aber nahm das auf dem Wasser schwimmende Fett seines Bruders und steckte es bei. Und der Riese schlief bis zum zweiten Abend. Da fing das Wasser an zu sieden und die Brüder weckten ihn. Hastig fasste er den Mittleren, warf ihn in den Kessel und frass ihn auf. Dann legte er sich wieder mit dem Befehl, ihn zu wecken, wenn das Wasser sieden werde. Mittlerweile fand der Jüngste einen, Dreifuss in der Küche, nahm das Fett seines Bruders, briet es am Feuer und warf es dem Riesen samt dem Dreifuss ins Gesicht, also dass es ihn an beiden Augen blendete. Wütend sprang der Biese auf und stürzte gegen ihn, um ihn zu fassen. Aber der Jüngling wich ihm aus und warf von den Nüssen, die er in seiner Gluge (Tornister) hatte, eine nach der ändern zu Boden,und leitete den Biesen dadurch irre. Als er der Türe nahe kam, warf er eine ganze Handvoll Nüsse gegen dieselbe. Da fuhr der Riese an die Türe, um ihn zu packen, erfasste aber die Klinke und riss die Türe auf. Der Jüngling sprang flugs hinaus auf den Hof, schlachtete einen Widder und kroch in dessen Fell. Der Riese, welcher die List nicht ahnte, öffnete das Tor und liess die Schafe einzeln hinaus, indem er meinte, des Jünglings im Hofe dann um so leichter habhaft werden zu können. Der aber schlüpfte als Widder mit hinaus und rief dem Riesen höhnisch zu: "Jetzt kannst du mir nichts mehr anhaben!" Da sprach der Riese wie versöhnt: "Stehe, Jüngling, und lass dir ein Wörtchen sagen." Der Jüngling aber traute ihm nicht und wollte entfliehen. Da rief ihm der Riese nach: "Stehe und nimm diesen Ring von meinem kleinen Finger zum Andenken." Der Jüngling liess sich betören, nahm den Ring und steckte ihn an. Da rief der Ring: "Hieher, Blinder, hieher!" Der Jüngling sprang aus Leibeskräften; aber der Riese kam ihm immer näher. Schon streckte er den Arm nach seinem Nacken aus, als der Jüngling ein Gewässer erreichte. Flugs hieb er den Finger ab und warf ihn in die Flut. Der Ring aber rief noch immer fort: "Hieher, Blinder, hieher!" Da sprang der Riese ihm nach ins Wasser — und ertrank.


Quelle: Rumänische Märchen und Sagen aus Siebenbürgen, gesammelt und ins Deutsche übertragen von Franz Obert, Hermannstadt 1925, Nr. 9, Seite 17