DIE BLINDE PRINZESSIN

Es war einmal ein König, der hatte eine Tochter, die war so schön, daß alle Leute sie bewunderten. Trotz ihrer außergewöhnlichen Schönheit wollte sie kein Prinz — aus keinem Lande — zur Frau nehmen, denn sie war schon seit ihrer Kindheit blind. Die Leute erzählten, die Königstochter sei bestimmt von der bösen Hexe, die im Lande hauste, verwunschen, denn der König hatte vor siebzehn Jahren die Tochter dieser gefürchteten Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrennen lassen. Die Königstochter war damals drei Jahre alt und erblindete sofort nach dem Tod der jungen Hexe. Im selben Moment verschwand spurlos auch der älteste und getreueste Diener des Königs. Niemand kannte jedoch den Grund dieses Verschwindens. Der König war sehr traurig, da seine Tochter, die jetzt schon zwanzig Jahre alt war, von keinem Arzt im ganzen Lande geheilt werden konnte. Da die Ärzte des Landes seine Tochter nur plagten, aber ihr das Augenlicht nicht zurückgeben konnten, wurde der König böse und ließ keinen Arzt mehr ins Schloß. Als er aber sah, daß seine Tochter den ganzen Tag ihr Unglück beweinte, machte er einen Appell an alle Ärzte aus allen Ländern und versprach, daß derjenige, der seine Tochter sehend mache, das halbe Königreich und die Tochter zur Frau bekäme. Wer aber sie zu heilen versuche und keinen Erfolg habe, würde am Galgen aufgehängt.

Die berühmtesten Ärzte der Welt kamen herbei und versuchten ihr Glück. Aber nicht einem gelang es, die Königstochter wieder sehend zu machen. Alle die es versuchten, wurden — wie abgemacht — am Galgen aufgehängt. Als die anderen Ärzte sahen, daß so viele ihr Leben lassen mußten, verging ihnen die Lust, es auch zu versuchen. Die Königstochter, die Hoffnung hatte, glücklich zu werden, weinte nun wieder, denn kein Arzt betrat nunmehr das Königsschloß. Damit die Königstochter ihr Unglück ein wenig vergesse, führte sie der König mit seiner Kutsche spazieren. Als sie an die Waldwiese kamen, wo der Schweinehirt des Schlosses die Schweine hütete, machten sie halt. Die Königstochter stieg auch aus der Kutsche und interessierte sich sogleich nach den Schweinen, denn sie hatte noch nie in ihrem Leben eins gesehen. Sie betastete sie mit großer Freude und fragte ihren Vater, ob die Schweine auch Augen haben. „Ja, sie haben auch Augen", antwortete der König ganz traurig, „aber sie sind anders als unsere."

Nun wollte die Prinzessin auch den Schweinehirt kennen lernen. Er war ein prächtiger Junge, hatte blaue Augen, blondes Haar und war so alt wie sie. Sie betastete mit ihren zarten, weißen Händen seine Wangen, streichelte seinen blonden Schöpf und sagte: „Jetzt weiß ich, wie du aussiehst, ich kann mir genau vorstellen. Nicht ein Königssohn — von allen, die bei mir waren und die ich betastete, war so schön wie du!" und lachte. Der König war froh, daß er seine Tochter wieder lachen sah, und gab dem jungen Schweinehirt aus Freude eine Goldmünze. „Vater", sagte die Königstochter, „wenn du unseren Schweinehirt mit königlicher Kleidung anziehen würdest, würde er der schönste Prinz sein!" Der König aber wollte von dem nichts wissen und sagte bloß, damit er seiner Tochter die Freude nicht nehme: „Ja, mein Kind, du hast recht, er ist ja nicht häßlich..." Beim Verabschieden versprach die Königstochter, daß sie bald wieder käme, denn sie fühle sich hier zwischen den Schweinen sehr gut.

Als nun die Kutsche mit den seltsamen Gästen davongefahren war, setzte sich der Schweinehirt auf einen großen Stein, der am Rande eines Baches stand, und dachte an die schöne und gutherzige Königstochter, die so freundlich zu ihm war. Es wurde schon dunkel und noch immer saß er auf diesem Stein und konnte die Gedanken von der schönen Königstochter nicht wegbringen. Erst als der Mond aufging, sprang er vom Stein, hob beide Arme in die Höhe und sagte laut: „Oh, warum bin ich kein Königssohn?! Ich würde diese schöne Prinzessin bestimmt zur Frau nehmen, wenn sie auch blind ist!" „Wenn du mich erlöst, sage ich dir, wie du die Königstochter zur Frau bekommen kannst!" sagte eine Stimme, die sich so anhörte, als ob sie von weit käme. Der Schweinehirt schaute erstaunt nach allen Seiten, konnte aber niemanden erblicken. „Wer bist du und von wo sprichst du?" fragte der Schweinehirt. „Ich bin der Diener des Königs, der vor siebzehn Jahren verschwunden ist, und spreche hier aus diesem Stein." „Wie kommst du in den Stein?" „Ich bin von der bösen Hexe verwunschen, weil ich nicht nach ihrem Gefallen handelte. Weil der König die Tochter der Hexe verbrennen ließ, wollte sie sich rächen und verlangte von mir, daß ich die Tochter des Königs, die damals drei Jahre alt war, zu ihr in den Wald bringe, denn sie wollte auch a-us ihr eine Hexe machen. Da ich es aber nicht übers Herz bringen konnte, ihren Wunsch zu erfüllen, verwünschte sie uns beide. Ich mußte in den Stein, und die Königstochter wurde blind." „Ich werde von der Schmiede einen großen Hammer holen und versuchen, den Stein zu zerschlagen." „Oh, nur das nicht! Das größte Unglück könnte dir passieren", sagte er aufgeregt und setzte hinzu: „Du alleine schaffst es nicht, nur mit Hilfe der Königstochter kann ich befreit werden. Das habe ich alles erfahren, denn eines Nachts saß die alte Hexe auf diesem Stein und kicherte: 'So, jetzt hab ich dem König gezeigt, was ich kann... Umsonst kommen die Ärzte zu seiner Tochter, niemand kann sie heilen, hi, hi, hü Wenn jemand nur wüßte, wie einfach es ist, sie wieder sehend zu machen!' .Augen küssen!" sagte der Papagei, der auf der Schulter der Hexe saß. ,Pst! Pappel doch nicht?, sagte die Hexe böse und fuhr fort: ,Den Schuft in diesem Steinblock kann auch niemand befreien, außer der Königstochter. Sie müßte aber zuerst sehen, doch sehen wird sie nie! Hi, hi, hi! Sie müßte nur bei Mondschein das Spiegelbild des Steines im Wasser sehen, und der Stein würde sich sofort öffnen!' Als sie dann wegging, sagte sie noch: .Keiner auf der Welt weiß, wie man mir die Kraft nehmen kann! Hi, hi, hi!" .Peitsche Füße haun!' sagte der Papagei. ,Pst, Dummjan!' sagte die Hexe wieder böse und ging davon. Ich glaube, man muß der Hexe mit der Peitsche über die Beine schlagen", sagte der Diener im Steine, „damit sie uns nicht wieder verwünschen kann, wenn wir mal befreit sind. Aber zuerst geh zur Königstochter, küsse sie auf beide Augen, und wenn sie wieder sieht, komme mit ihr bei Mondschein hier ans Wasser und laß sie das Spiegelbild des Steines betrachten. Vergiß aber nicht, die Peitsche mitzubringen!"

Der Schweinehirt stand sprachlos da und wollte seinen Ohren nicht glauben. Er trieb sogleich die Schweine in den Stall und eilte zum Königsschloß. Als der König ihn sah, fragte er nach seinem Kommen. „Ich will die Prinzessin wieder sehend machen!" „Du?" sagte der König und begann zu lachen. „Ja, ich", sagte der Schweinehirt, „und ich bin auch sicher, daß es mir gelingen wird!" „Rede doch keine Dummheiten! Hier waren berühmte Ärzte und konnten nichts machen, aber du... Willst du auch aufgehängt werden? Was mache ich dann ohne Schweinehirt?" „Exzellenz, lassen Sie mich doch bitte hinein! Sie werden sehen, daß ich sie heile!" Er bettelte so lange, bis der König nachgab und sagte: „Na gut, wenn du sterben willst, dann komm!" und führte ihn zur Prinzessin. Als sie an die Kammertür kamen, sagte der Schweinehirt: „Aber wenn ich mache, daß sie wieder sieht, bekomme ich sie zur Frau..." „Ja, ja", gab der König zurück und lachte. „Und sogar das halbe Königreich bekommst du", fügte er hinzu. „Gut", sagte der Schweinehirt, „aber ich muß alleine sein. Anders kann ich sie nicht heilen."

Als der Schweinehirt in die Kammer trat, sah er die Prinzessin im Bett liegen. Leise trat er an ihr Bett und küßte sie auf beide Augen, die sie geschlossen hielt. Sofort schlug sie die Augen auf und schaute starr auf den Schweinehirt, der aus Spannung wie eine Statue vor ihr stand. Dann sprang sie auf, umschlang den Schweinehirt mit ihren Armen und rief laut: „Ich sehe, ich sehe!"

Der König, der draußen vor der Tür stand, hörte es und sprang wie ein Wilder in die Kammer. Und wirklich, seine Tochter sah. Das Glück war groß. Der König ließ sogleich dem Schweinehirten königliche Kleidung bringen, und in derselben Nacht fuhren sie noch mit der Kutsche zum verhexten Stein und befreiten den alten Diener. Die Hexe hatte von dem auch zu riechen bekommen und eilte herbei, aber der Schweinehirt im Prinzgewand, der die Peitsche bei sich hatte, schlug ihr eins über die Beine. Sie lief gleich davon, denn sie hatte die Macht für immer verloren.

Der Schweinehirt und die Königstochter feierten ein großes Hochzeitsfest und lebten glücklich miteinander bis an ihr Ende!

(Erzählt von Johann Hellmann aus Alexanderhausen, aufgezeichnet von Ferdinand Heim)

Quelle: Banater Volksgut, Erster Band, Märchen, Sagen und Schwänke, Herausgegeben von Walther Konschitzky und Hugo Hausl, Bukarest 1979, Seite 68