Der Seneca-Riese

Unter den Senecas lebte einst ein furchtbarer Riese, der war größer als der höchste Eichenbaum und so stark, daß er die dickste Tanne zum Bogen nahm und die größten Fichten ausriß und sie als Pfeile gebrauchte. Dieser ging einst den Mississippi entlang und kam an einen endlosen See, in dem ein ungeheurer Vogel plätscherte, der sich die größte Mühe gab, ans Ufer zu kommen, was ihm aber nicht gelingen wollte. Da der Riese nun ein sehr gutmütiger Kerl war, so watete er gleich ins Wasser und zog den armen Vogel heraus.

Am Schwanz des Vogels hing aber eine ganze Menge kleiner weißer Männer, die zitterten und bebten, als ob sie lebendig gefressen werden sollten, und baten den Riesen mit den kläglichsten Mienen, sie doch wieder mit ihrem Vogel zurück ins Wasser gehen zu lassen.

Das war auch dem Riesen recht, und er setzte sie wieder hinein, wofür sie ihm aus Dankbarkeit eine kleine Muskete und Pulver schenkten und ihn die Kunst des Schießens lehrten. Damit ging er dann zu seinem Stamm zurück und ließ mit seiner Flinte einen solchen Donner los, daß alle auf die Erde fielen und ihn um Gottes willen baten, doch jenes schreckliche Ding wegzuwerfen, da er sonst alle Indianer töten würde. Das war aber doch zuviel von seiner Güte verlangt; er nahm daher seine Waffe und ging damit fort ins freie Feld, wo er niemandem mehr hinderlich war. Am anderen Tag fand man ihn tot auf einem Hügel liegen.

Die Senecas, die sich dadurch auf einmal ihres besten Beschützers beraubt sahen, weinten Ströme von Tränen und legten den Riesen in ein ozeantiefes Grab, das noch heute zu sehen sein soll.

Quelle: Karl Knortz, Märchen und Sagen der Indianer Nordamerikas, Jena 1871, Nr 52