Onwi Bämondang

Ein kleiner Knabe lebte mit seiner Schwester in einem unwirtlichen Land. Da er selten anderweitige Gesellschaft aufsuchte, so hielt ihn jedermann für medizinen. Er hieß Onwi Bämondang, d. h. "einer, der einen Ball am Hals trägt".

Als er recht groß geworden war und Pfeil und Bogen tüchtig zu führen wußte, wollte er gerne einmal das benachbarte Dorf besuchen, um das Leben und Treiben der roten Krieger etwas näher kennenzulernen. Er ließ sich daher von seiner Schwester mehrere Paar Mokassins machen, füllte seinen Köcher mit den spitzesten Pfeilen, hängte sich dann noch einen Sack voll Lebensmittel um und machte sich auf die Reise.

Bald sah er einen halbzerfallenen Wigwam vor sich, in dem eine alte Frau am Feuer saß und ihn folgendermaßen anredete: "Mein Sohn, ich glaube, du bist auch einer von denjenigen, die das gefährliche Dorf, von dem noch keiner zurückgekehrt ist, besuchen wollen. Wenn deine Schutzgeister nicht mächtiger sind als die deiner Vorgänger, so wirst du sicher ihr Los teilen. Vor allen Dingen mußt du dich mit vielen Knochen für den Osebäguknun (Medizintanz) versehen; ohne diese kannst du auf gar keinen Erfolg rechnen. Sobald du ins Dorf kommst, wirst du einen großen Medizinbaum sehen, auf dem eine kleine Hütte angebracht ist, die von den zwei Töchtern des Chiefs bewohnt wird. Jener Baum hat keine Rinde und ist mit Fett eingeschmiert, damit ihn niemand besteigen kann. Dort müssen deine Schutzgeister zeigen, was sie vermögen."

Darauf gab sie ihm einige Knochen, und Onwi Bämondang setzte seine Reise fort. Bald war er in dem besagten Dorf und stand vor dem Medizinbaum, der sich immer hin und her bewegte, so daß er ihn nicht anfassen konnte. Onwi Bämondang verwandelte sich daher in ein Eichhörnchen und kletterte als solches behend hinauf. Aber je höher er kletterte, desto größer wurde der Baum, und Onwi Bämondang kam zuletzt dabei so sehr außer Atem, daß er einen seiner Knochen in den Stamm stecken mußte, um sich ein wenig auszuruhen. Dies wiederholte er so oft, bis er alle seine Knochen verbraucht hatte. Jedesmal, wenn er dachte, er habe die geheimnisvolle Hütte erreicht, schoß der Baum wieder schnell nach einer anderen Seite in die Höhe.

Onwi Bämondang war dadurch bereits so hoch gekommen, daß er die Erde gänzlich aus den Augen verloren hatte; aber ehe er sich vollständig verlorengab, sammelte er noch einmal seine Kräfte, um den letzten Sprung zu wagen.

Der Medizinbaum war indessen so hoch gewachsen, daß er bis an die Himmelsdecke reichte. Da er natürlich nicht weiter konnte, so kletterte Onwi Bämondang in die Hütte und fragte die beiden Schwestern nach ihren Namen. Die eine hieß Äsäbi oder "die Hintensitzende", und die andere Negänäbi oder "die Vornsitzende". Wenn er zur ersteren sprach, so wurde der Medizinbaum kleiner, und sprach er zur anderen, so wuchs er wieder. Deshalb sprach er auch nur zu Äsäbi, wodurch der Baum so sehr zusammenschrumpfte, daß zuletzt beinahe gar nichts mehr von ihm zu sehen war.

Nun nahm Onwi Bämondang seine Keule, schlug die beiden Mädchen in tausend Fetzen und machte sich dann so schnell wie möglich aus dem Staub.

Kurz danach merkte der alte Chief, daß seine Töchter ermordet worden waren. "Das hat niemand anderer getan", sagte sein Sohn zu ihm, "als der Knabe, der den Ball am Hals trägt; ich werde ihm nacheilen und den Tod meiner Schwestern rächen."

"Wer es auch getan hat", entgegnete der Vater, " soviel ist gewiß: Er steht unter dem Schutz eines großen Manitu, der dir zu schaffen machen wird. Wenn du gehst, so rühre auf deinem Weg keine Frucht an, denn wenn du etwas ißt, ehe du Blut gesehen hast, wird dich dein Schutzgeist verlassen."

Darauf schied Mudschikihwis. Onwi Bämondang, der ihn kommen sah, kletterte schnell auf den höchsten Baum in seiner Nähe und schoß einige magische Pfeile auf ihn ab, die Mudschikihwis jedoch nicht davon abhalten konnten, seine Verfolgung fortzusetzen. Bald war er bei ihm; doch Onwi Bämondang verwandelte sich schnell in einen halbverfaulten Hirsch und ließ seine medizinenen Mokassins, die er von seiner Schwester bekommen hatte, allein bis ans Ende der Welt laufen.

Mudschikihwis sah den stinkenden Hirsch vor sich; da aber die Spuren des Mörders noch weitergingen, so lief er ebenfalls weiter und kam zuletzt auch ans Ende der Welt, wo die leeren Mokassins standen. Jetzt sah er ein, daß ihn die Schuhe genarrt hatten, und er nahm sich vor, in Zukunft klüger zu sein. Gleich lief er wieder zu dem toten Hirsch zurück und sah, daß die eigentlichen Fußstapfen Onwi Bämondangs nach einer ganz entgegengesetzten Richtung zeigten. Obwohl er bereits sehr müde und hungrig war, setzte er die Verfolgung doch fort.

Als Onwi Bämondang merkte, daß ihm Mudschikihwis wieder auf den Fersen war, verwandelte er sich in einen alten Mann, der so schwach war, daß er die Hütte nicht mehr verlassen konnte und sich seine Bedürfnisse von zwei wunderschönen Mädchen herbeiholen lassen mußte. Rund um seine Hütte blühten und dufteten die herrlichsten Blumen, die je ein menschliches Auge gesehen hatte, und von den Bäumen ertönten die lieblichsten Lieder unzähliger Singvögel.

Doch Mudschikihwis war inzwischen so müde und matt geworden, daß er sich nur noch mühsam weiterschleppen konnte und froh war, als er wieder einmal eine menschliche Wohnung erblickte. Nun gingen ihm die beiden Töchter entgegen, luden ihn freundlichst in ihre Hütte ein und kochten ihm Mais und Fleisch. Da ihm das Gebot seines Vaters längst aus dem Gedächtnis entschwunden war, so aß er sich gehörig satt und legte sich auf eine weiche Bärenhaut. Als er nun so recht fest schlief, nahm Onwi Bämondang seine frühere Gestalt wieder an und riß den magischen Ball von seinem Hals, der sich augenblicklich in eine mächtige Keule verwandelte und Mudschikihwis von selbst erschlug.

Danach kehrte Onwi Bämondang wieder zu seiner Schwester zurück.

Quelle: Karl Knortz, Märchen und Sagen der Indianer Nordamerikas, Jena 1871, Nr 48