Tschibi
oder die zwei fettessenden Geister

Hoch oben am Michigansee in einer waldigen, wilden Gegend stand einsam ein netter Wigwam, den ein biederer Jäger mit seiner braunen Gattin bewohnte. Da ihre kleine Hütte wenigstens sieben Sonnenuntergänge von der nächsten entfernt war, so blieb das glückliche Ehepaar stets von unlieben Nachbarn verschont und lebte recht zufrieden. Da es ringsum Wild jeder Art in Hülle und Fülle gab und er ein sicherer Schütze war, so hatten beide vollauf zu essen und Pelze genug, um sich schöne und warme Kleider zu machen.

Als einst an einem Abend der Jäger nicht zur gewöhnlichen Zeit nach Hause gekommen war, erschienen zwei fremde Frauen vor seinem Wigwam und begehrten Einlaß. Trotzdem ihr ganzes Wesen einen unheimlichen Charakter trug, wurden sie doch eingelassen. Sie setzten sich scheu und zurückhaltend in eine dunkle Ecke, verhüllten ihre Gesichter und sprachen kein Wort.

Soweit die Frau bemerken konnte, waren sie hohläugig und fleischlos. Sie zitterte und bebte vor Furcht, und eine heisere Stimme raunte ihr zu: "Barmherziger Gott, das sind ja zwei Skelette, in Lumpen gehüllt!"

Sie sah sich um, konnte aber niemand erblicken.

Endlich kam nun ihr Gemahl mit einem fetten Hirsch nach Hause. Augenblicklich fielen die beiden Geister darüber her, rissen dem Tier alles Fett aus dem Leib und verschlangen es gierig. Der Jäger verhielt sich ganz ruhig, denn er glaubte, die beiden Fremden seien ausgehungert und könnten ihrem Drang nicht widerstehen.

Aber am folgenden Tag ging es ebenso und am dritten auch, so daß der Jäger gar nicht wußte, was er eigentlich von diesen seltsamen Gästen denken sollte. Sonst waren sie ganz still und benahmen sich auch sehr bescheiden; sie lachten und scherzten nicht, gaben überhaupt kein Sterbenswörtchen von sich. Am Abend gingen sie jedesmal aus, suchten dürres Holz für den anderen Tag und legten sich dann wieder geräuschlos auf ihre bestimmten Schlafplätze nahe am Feuer.

Wieder einmal kam der Jäger mit einem fetten Hirsch nach Hause, dem ebenfalls wieder alles Fett herausgerissen wurde. In der Nacht darauf fingen aber die Fremden an zu wehklagen und jämmerlich zu stöhnen und zu seufzen, so daß der gutmütige Mann aufwachte und fragte: "Warum klagt ihr denn so? Haben wir euch vielleicht beleidigt oder euch nicht genug Speise gereicht?"

"O nein", erwiderten sie, "wir sind mit seltener Höflichkeit behandelt worden und weinen nicht deshalb. Aber wir müssen fort, denn der Herr der Toten, aus dessen Land wir kommen, hat uns nur erlaubt, neunzig Tage auf der Erde zu wandeln, um die Menschen zu prüfen. Ihr habt eure Probe gut bestanden; denn ihr habt uns nicht gezürnt, als wir das viele Fett vor euren Augen verschlangen."

Darauf schieden sie, und der Segen, den sie hinterließen, bestand in langem Leben, in Frieden, Gesundheit und zahlreicher Nachkommenschaft.

Quelle: Karl Knortz, Märchen und Sagen der Indianer Nordamerikas, Jena 1871, Nr 30