Wing
oder der Schlafgott

Der indianische Schlafgott heißt in der Odjibwa-Sprache Wing. Er ist unsichtbar; ebenso auch die vielen ihm untergeordneten Geisterchen. Diese sind mit kleinen Kriegskeulen bewaffnet, womit sie den Leuten so lange auf die Stirn klopfen, bis sie sanft einschlafen. Sie halten sich gewöhnlich unter dem Bett auf; zuweilen setzen sie sich auch auf die Zeltstangen oder kriechen dem Jäger in die Pfeife, und wenn sich dieser dann einmal hinsetzt, um ein bißchen auszuruhen, so fliegen sie leise heraus und klopfen ihn in Schlaf. Wenn ihnen dies glücklich gelungen ist, lassen sie das Wild vorüberziehen, und der Jäger kann dann, wenn er ausgeschlafen hat, ohne Beute nach Hause gehen.

Sonst jedoch sind die Wings im allgemeinen freundlicher Natur und treiben ihr Handwerk hauptsächlich aus dem Grund, um dem menschlichen Körper Zeit zu verschaffen, neue Kräfte zu sammeln.

Da sie, wie vorhin bemerkt, unsichtbar sind, so ist man über ihre eigentliche Gestalt völlig im unklaren. Der indianische Münchhausen, Ei-a-gu, "themarvellous story teller", erzählte einst folgende Geschichte über sie:

"Als ich mir vor vielen Jahren auf der Jagd einmal beinahe die Beine abgelaufen hatte, ohne irgend etwas Eßbares vor den Bogen zu bekommen, hatte ich auch noch das unbeschreibliche Malheur, meine beiden Hunde zu verlieren. Es waren dies die treuesten und liebsten Tiere, die ich je besessen habe, und ihr plötzlicher und unerklärlicher Verlust brachte mich beinahe zur Verzweiflung. Ich pfiff mir fast die Kehle aus dem Hals, aber keiner hörte mich, und keiner kam. Nach langem Suchen fand ich sie endlich in festem Schlaf neben einem Baum liegen, und ich merkte, daß sie unvorsichtigerweise in die Nähe von Wings Wohnung geraten waren. Die Macht des Schlafgottes war so stark, daß es mich heillose Mühe kostete, die treuen Tiere aufzuwecken; ja ich wäre beinahe selbst dabei eingeschlafen. Der alte Wing saß auf einem dünnen Zweig; er sah aus wie ein riesiger Moskito, hatte segelgroße Flügel, und das Murmeln seiner tiefen Baßstimme glich einem entfernten Niagara."

Wing ist auch zu gleicher Zeit das Symbol der Dummheit. Wenn ein Redner steckenbleibt oder dummes Zeug schwatzt, so heißt es, Wing sei in seiner Nähe.

Wenn die Kinder gähnen, sagen die Mütter: "Wing hat sie berührt", und sie bringen sie schnell zu Bett.

Quelle: Karl Knortz, Märchen und Sagen der Indianer Nordamerikas, Jena 1871, Nr 44