Der Hummelkönig


von Reinhard Güll

Vor weit über hundert Jahren lebte ein Junge mit seinen Großeltern in einer süddeutschen Kleinstadt. Die Großeltern besaßen einen Kolonialwarenladen – einen Supermarkt der damaligen Zeit. Von wohlriechenden Gewürzen aus fernen Ländern über Seife, Reis und Mehl bis hin zu süßen Bonbons und Schokolade gab es hier alles zu kaufen. Freitags wurde ein Fass mit Heringen von der Nordsee in den Laden geliefert. Die Fische waren sehr preiswert und wurden deshalb von den ärmeren Menschen gerne als Wochenendspeise gekauft. Oft war das Fass schon am frühen Nachmittag leer. Heringe schmeckten damals zwar genau so gut wie heute, aber zu den Delikatessen zählten sie noch nicht. Auch Gemüse- und Blumensämereien konnten im Laden der Großeltern erworben werden. Häufig saß der Junge in einem dunklen Winkel des Ladens und hörte den freundlichen Plaudereien des Großvaters mit der Kundschaft zu, oder er schaute sich den dicken Stapel Neuruppiner Bilderbogen an, auf denen von seltenen Tieren und Pflanzen, fremdartigen Menschen und ungewöhnlichen Ereignissen berichtet wurde. Der kleine Junge war sehr einsam. Im ganzen Stadtviertel war er das einzige Kind. Im Frühling durfte er sich aus den verschiedenen Blumensamen des Ladens eine kleine Tüte aussuchen, die ihm die Großmutter für sein eigenes Beet im Garten schenkte. Er wählte Löwenmäulchensamen.

Am nächsten Morgen legte der Junge im Garten hinter dem Laden sein Beet an, in das er den Löwenmäulchensamen pflanzte. Täglich schaute er morgens nach seinem Löwenmaulbeet, jätete Unkraut und goss, wenn es lange nicht mehr geregnet hatte. Diese Pflege seines Blumenbeets ließ ihn wenigstens vorübergehend seine Einsamkeit unter den Erwachsenen vergessen. Die Erwachsenen hatten derweil andere Sorgen. Seit einigen Jahren wuchsen im ganzen Land keine Bohnen und Erbsen mehr. Bohnen und Erbsen waren aber wichtige Nahrungsmittel für Kinder. Somit waren die fehlenden Bohnen und Erbsen auch der Grund für die nicht vorhandenen Spielkameraden des kleinen Jungen. Die Leute sagten sich nämlich: „Wozu sollen wir Kinder aufziehen, wenn wir ihnen keine Bohnen und Erbsen zum Essen geben können. Sie werden krank, sterben und lassen uns noch trauriger zurück, als wir es jetzt schon sind.“ Kein Mensch wusste, warum es nicht mehr gelang, die begehrten Hülsenfrüchte anzubauen.

Schon bald konnte der kleine Junge sich an seinen farbenprächtigen Löwenmäulchen erfreuen. Rot, weiß, gelb und rosa erblühten sie auf dem Gartenbeet hinter dem Laden. Alle Menschen, die vorbei kamen, blieben stehen und bewunderten die wunderschönen Blumen des kleinen Jungen. Es blieb aber nicht beim Erblühen der Löwenmäulchen, auch andere wunderbare Dinge ereigneten sich in der nächsten Zeit. Einige Tage nach dem Erblühen der anspruchslosen Blumen kamen dicke Hummeln mit viel Gebrumm angeflogen, setzten sich auf die Blüten und tranken von ihrem Nektar. Die Hummeln hatten eine besondere Gabe. Sie konnten sprechen. Der Einzige, der sie verstand, war der kleine Junge. „Warum bist Du so allein?“ fragten sie den kleinen Jungen. Der Junge erzählte ihnen, dass es keine anderen Kinder mehr gäbe, weil die Menschen keine Erbsen und Bohnen mehr anbauen konnten. „Erbsen und Bohnen sind eng verwandt mit den Löwenmäulchen. Hätten die Menschen alle drei Pflanzen zur gleichen Zeit angebaut, so wären wir auch gekommen und hätten sie bestäubt, damit sie gewachsen wären. Löwenmäulchennektar ist für uns das, was für die Menschen Eis und Pudding sind, der Nachtisch. Erbsen- und Bohnennektar dagegen sind unsere Hauptspeisen. Die Menschen mögen auch nicht nur Hauptgerichte essen, sie freuen sich genauso wie wir auf den Nachtisch. Weil wir keinen Nachtisch mehr erhielten, haben wir auch alles andere verschmäht!“ erklärten die Hummeln. Zum Schluss gaben sie dem Jungen den Rat, auch Erbsen und Bohnen im Garten auszusäen. Er tat, was ihm die Hummeln geraten hatten und hatte damit Erfolg. Zuckersüße Erbsen und dicke rote Bohnen waren in Hülle und Fülle im Frühherbst im Garten der Großeltern zu sehen. Alle Leute, die vorüber gingen, waren sehr erstaunt über die unerwartete Bohnen- und Erbsenpracht. Sie fragten den kleinen Jungen um Rat. Er empfahl ihnen, so vorzugehen, wie er es von seinen Freunden den Hummeln gehört hatte. Schon nach kurzer Zeit gab es wieder genügend Erbsen und Bohnen im ganzen Land und nach ein paar Jahren auch wieder genügend Kinder. Nie mehr musste der kleine Junge traurig alleine spielen, denn jetzt hatte er genügend Freunde. Aus Dankbarkeit für seinen guten Rat wurde er von allen Menschen seitdem nur noch der Hummelkönig genannt.


Quelle: E-Mail-Zusendung 16. April 2007 von Reinhard Güll aus Lauffen am Neckar.