DAS GESCHENK DER FEE

Jedes Jahr in der warmen Zeit verursachen zahllose Baustellen in den Straßen Lärm und Staub und belästigen die Bewohner der Stadt. Dennoch nehmen sie es als notwendiges Übel hin. Der wahre Grund dafür wird von den Stadtvätern wohlweislich als großes Geheimnis bewahrt:

Früher nämlich, als die Menschen noch an Märchen glaubten, da besaß die immer schon etwas andere Stadt nahe der Donau eine Schutzfee. Pest, Feuersbrünste, Hochwasser und feindliche Heere hatte man mit ihrer Hilfe überstanden und abgewehrt. Doch nur die führenden Köpfe wußten darum.

Nun ist es aber alter Brauch unter den guten Geistern, die den Übermut des schwachen Menschengeschlechts kennen, eine begrenzte Anzahl von Wünschen zu erfüllen. So kam, trotz sparsamen Umgangs, der Tag des allerletzten Wunsches. Das zu einer Zeit, wo sich nicht nur in der Gemeindekasse die Mäuse zum Überwintern eingerichtet hatten.

Als die Unzufriedenheit der hungernden, frierenden Wiener bis ins Rathaus vorgedrungen war, lud der Bürgermeister seine Räte auf ein Fläschchen Wein zu sich. Der goldgelbe Rebensaft, der die wohltuende Wärme des vergangenen Sommers verbreitete, förderte die Entschlußfreudigkeit ungemein. Kaum hatte der Bürgermeister nach dem elften oder zwölften Glas festgestellt, daß etwas geschehen müsse, wurden sich die Herren darüber einig, die Fee um Hilfe anzurufen.

In diesem Moment erhellte sich der Himmel. Ein Regenbogen spannte sich über die Stadt, und zum letzten Mal ertönte die wohlklingende Stimme der Fee: "Ich habe euch in den Jahrhunderten liebgewonnen, ihr Wiener, und scheide ungern. Dennoch muß ich das Gesetz befolgen. Ich will euch aber ein Geschenk hinterlassen, welches euren Wunsch bei weitem übertrifft und euch auch in Hinkunft helfen wird, alle Fährnisse zu überstehen. Ihr findet es vergraben am Ende des Regenbogens. Lebet wohl!"

Jubel brach aus im Rathaus, und der Bürgermeister schickte in den Keller nach seinem besten Jahrgang. Unbemerkt brach darüber die Nacht herein.

Am nächsten Morgen war der Katzenjammer groß. Niemand unter den ehrenwerten Herren wußte zu sagen, wo der Regenbogen die Erde berührt hatte. Gerüstet mit Schaufeln und Spitzhacken machten sie sich auf, doch der einzige Erfolg ihrer ziellosen Suche war, daß das Volk am Verstand seiner Stadträte zweifelte und sie selbigen Tages ihrer Ämter enthob.

Wien hat auch ohne die Fee und ihr Geschenk diese und alle folgenden Krisen überstanden, wenn es auch manchmal eines vorausblickenden Schutzengels bedurft hätte, um Schlimmeres abzuwenden. Die heutigen Stadtväter aber lassen immer noch jedes Jahr im Sommer überall in Wien die Straßen aufgraben, in der Hoffnung, eines Tages doch auf den Schlüssel zur Lösung all ihrer Probleme zu stoßen.


Quelle: E-Mail-Zusendung von Gernot Schönfeldinger, 25. September 2001
© Gernot Schönfeldinger

Sagenhaft, des Wien
Der wahre Kern einer Stadt,
aufgeknackt und niedergeschrieben von einem,
der aus der Provinz auszog, um doch niemals ein Wiener zu werden.
Selbstverlag Schönfeldinger, Wien 1997.