Der Zeittöter

Es lebte einmal ein gar seltsamer Mann.
Jener Geselle trieb sein Unwesen, ohne einem Menschen oder einem Tier etwas anzutun. Jedoch tat er etwas weit über die Grenzen des menschlichen Verstandes gehendes: Er stahl nämlich die Zeit.
Vieles ließe sich davon ableiten.
Die Zeit sei kostbar.
Er handelte entgegen allgemeinen Regeln und lachte noch über sein Vorgehen.

Niemandem wäre seine Gabe aufgefallen, wenn nicht der alte Mähdrescher des Kaiser-Bauern ein knarrendes Geräusch von sich gegeben hätte.
Verdutzt hatte Kaiser sich die Ohren zugehalten und geschrien: "Nun ist das Licht aus seinen Motoren entwichen."
Alle wussten plötzlich, dass die Zeit vorbei war - und zwar jede Zeit.

Er schickte sich an, seinen Ahnen zuzurufen, dass sie Idioten gewesen seien.
Er verschränkte seine Hände und drohte der Luft, dass sie eine weiße Steppdecke sei, dessen Inhalt ohne Zweifel nicht nachgewiesen werden könne.
Er jubilierte, als er keine Antwort bekam und die Menschen auf den Straßen mit gleichgültigen Gesichtern sich einander nicht in die Quere kamen.
Sie hatten die Lust darauf verloren, einander anzublicken oder zu zwinkern.
Sie hatten keine Freude mehr an leichter Unterhaltung und deren Konsequenzen.
Zu dieser Nicht-Zeit wurden keine Kinder gezeugt; keine Revolutionen ausgeheckt und keine Kriege ausgefochten.

Es war geschehen, dass den Menschen die Zeit verlorengegangen war.
Sie dachten weder an gestern; noch an morgen; noch an heute.
Sie dachten weder an Erinnerungen; noch an Zukunftsvisionen; noch an die Kostbarkeiten des Augenblickes.
Sie waren leere Zündköpfe geworden, auf dessen Explosion der Zeittöter hoffte.
Er kam aus einer anderen Welt, die den weißen Bären als Wappentier auserkoren hatte (und zwar schon vor Jahrmillionen, als auf der uns gewohnten Welt gerade ein paar seltsame Tierchen in den Gewässern sprudelten) und er wollte schauen, was diese zweifüßigen Tiere zu seiner Unterhaltung tun könnten. Natürlich waren diese anderen Wesen weit intelligenter als der sog. Mensch. Sie waren ihm selbstverständlich in allen Belangen überlegen.

Der Eine hatte immer an die Zukunft gedacht, die keine Lorbeeren für ihn ernten würde. Der Andere hatte stets die Vergangenheit geheiligt, als es noch menschliche Werte gegeben hatte. Der zweite Andere hatte nur im Jetzt gelebt und dauernd vergessen, dass dieses Jetzt nie in einer Konservenbüchse Platz finden kann. Aus diesem Grunde hatte er sich als erster der Drei die Frage gestellt, was denn der Pfarrer in der Kirche gemeint hatte, als er sagte, dass wir den Nächsten so lieben sollten wie wir uns selbst lieben. Da ich mich selbst nicht liebe, kann ich den Nächsten umso weniger lieben, hatte er in seiner grenzenlosen Vernunftideologie zusammenrechnen können, und daraus resultierend brauche ich mich um nichts und niemanden zu kümmern, da ich ja nicht einmal mich selbst als nennenswert erachte. Denn erachtete ich mich als nennenswert, dann liebte ich mich; so ist aber keine Spur von Eigenliebe in mir.

Es war nicht unbedingt der Zeittöter gewesen, der jenes bewerkstelligt hatte.

Der in der Vergangenheit kramende heiligte sich selbst. Er setzte sich den toten Kühen Ägyptens gleich; philosophierte mit den nackten Maden des Nebenviertels und aß zu Abend gern Hausmannskost. Er war allein wie Melanie, die an einem weißen Abendkleid stickte und dafür Tag für Tag von ihrem ebenfalls allein mit ihr und ihren vier Töchtern lebenden Mann gelobt wurde. Er schlug sie dafür reif für das Krankenhaus, was aber in dieser Zeit nichtig war, da die Kirchturmuhren und überhaupt jegliche Uhr streikte.

Ein verzauberter Laubfrosch, der einmal ein Hirschkäfer gewesen war, nahm die Gestalt eines Menschen an und sollte sich als der Gegner des Zeittöters herausstellen.

Der die Zukunft visionierende sah sich bereits in seinem Sarg liegen und verfaulen. Er warf sich selbst eine rührselige Träne zu und machte sich ansonsten keine Sorgen. Das Planen war durch den Verlust der Zeit ausgelöscht worden.
Die Zeit verlief zwar; aber sie war tot.

Der zum Menschen gewordene einstmalige Hirschkäfer, der solange als Laubfrosch dahinvegetiert war, konnte als einziger Mensch der ganzen Welt die Sekunden zählen.

Nun mach mal, dachte sich der Zeittöter.
Er wusste von Spiralennebeln, dass der nächste Tag nicht erscheinen werde, wenn er sein Szepter in den Boden grübe. Und das tat er denn auch.

Allerorts grübelte niemand nach über die Geschehnisse.
Das von Zeit zu Zeit nichts geschieht auf der Welt waren sie gewohnt; alle möglichen Einrichtungen fallen häufig aus; das aber die Zeit selbst stillstehen könne? Die Gedanken waren nie in der Gegenwart gewesen, sondern von jeher irgendwo in den Dämmerungen der Astralsterne. Es sei gar keine große Sache, dass es die Kleinigkeit der Zeit nicht mehr gab.
Und so schickten sich alle daran, sich zu ertränken.
Ein gelber Apfel von der Größe eines Maulwurfskopfes erschien mit einem Mal am Himmelszelt und tief trieben die Wurzeln der Haselnussstauden.

Der Rettungsring der Erde zerbarst in Millionen Atombläschen. Selbst Rudi blieb davon keineswegs verschont.

Atem anhalten und nichts wie weg.

Da wurde der Zeittöter geköpft und aus seinem Hals wuchsen Veilchenblätter.

Die Zeit trat wieder in das Bewusstsein der Menschen; denn der Zeittöter hatte es ja nur auf Wesen abgesehen gehabt, die über Zeitbewusstsein verfügten.

Was ist nun mit Egon geschehen, wollte B. wissen? Für ihn habe ich dies alles aufgeschrieben und er hat mich trotzdem verlassen!

Jedoch die Zeit bereitet nicht bloß E. Schwierigkeiten. Das wäre eine zu leichte Ausrede. Nehmt Anleihe bei allen Menschenwesen und das Märchen kann ohne Stolz verschwinden, als ob es nie existiert hätte.
(Und auf das kommt es im Endeffekt ja immer an, wenn die Schwere der Zeit auf´s Korn genommen wird...)


© Jürgen Heimlich, per E-Mail zugesandt von Juergen Heimlich am 6. August 2002