DIE HÖLLEN-TRAMWAY

An kalten, verregneten Tagen, wenn der Smog unbarmherzig seinen giftigen grauen Mantel über den Wiener Nachmittagsverkehr breitet, dann kann es geschehen, daß unvermutet eine Tramway in rasender Fahrt den Nebel zerteilt, wie schwebend an den erschauernden Passanten vorübersausend, um lautlos, wie sie gekommen ist, im Dunst zu entschwinden.

So manchen älteren Wienerinnen und Wienern entlockt der Anblick der hohlwangigen Passagiere hinter den Fenstern den Ausruf: "Jessas! Die Höllen-Tramway!", während sie hastig ihre ermäßigten Seniorenfahrscheine hervorkramen und mit zittrigen Fingern umschließen.

Wenn man sich daraufhin neugierig erkundigt, oder einfach an einen gesprächsfreudigen Mitmenschen gerät, der ungebeten aber ausführlich zu erzählen weiß, welche Bewandtnis es damit habe, dann kann man folgende Geschichte hören:

Vor vielen Jahren faßten die Verantwortlichen der Verkehrsbetriebe der Stadt einen verhängnisvollen Entschluß, der nicht nur das Aussterben eines ganzen ehrlichen Berufsstandes zur Folge hatte: Gelbschlitzige Automaten traten plötzlich an die Stelle der Straßenbahnschaffner, die den Wienern ein von alters her vertrautes Bild des ordnungsschaffenden Respekts gewesen waren. Nun aber verließ man sich auf das, was einen stets verläßt, wenn man sich darauf verlassen hat: Auf die Vernunft und die Ehrlichkeit der Menschen. Nicht allein, daß zuvor nie gekannte rücksichtslose Rempeleien in und vor den Wagen stattfanden. Schwache, sparsame und aufsässige Naturen fühlten sich durch die gesichtslosen Automaten dazu verleitet, ihnen in boshafter Absicht die Fahrscheine - einzige Grundlage ihrer Existenz - vorzuenthalten.

Zur selben Zeit hatte der zuständige Teufel seinen jährlichen Besuch in Wien abgestattet. Mit Freude vernahm man in der Hölle den Bericht über den fortschreitenden Sittenverfall, der endlich auch in die Trutzburg Tramway eingedrungen sei.

Wie es der Zufall wollte, gab es im Höllenreich einen ehrgeizigen Ur-Ur-Enkel von Beelzebubs Großmutter, der lange schon darauf harrte, sein Meisterstück zu liefern, um sich einen vollwertigen Teufel nennen zu dürfen. Bim, den die Menschen später den Schwarzen Kontrollor nennen sollten, wurde beauftragt, das schaffnerlose Volk der Wiener in seinen bösen Taten zu unterstützen. Mit der Aussicht auf Ehre und Ansehen machte er sich ans Werk und förderte eifrig die kleinbürgerliche Knausrigkeit und den Obrigkeitstrotz in ihrem Ringen mit Angst und schlechtem Gewissen. Als teuflischer Gedanke setzte Bim sich im Bewußtsein der Menschen fest und verleitete so manchen grundehrlichen Zeitgenossen zu dieser winzigen Unredlichkeit. Da einmal keinmal und folglich zweimal nur einmal ist, gerieten viele in Bims Teufelskreis.

Dann, wenn einem notorischen Schwarzfahrer das letzte Stündlein schlug, war Bim mit seiner Tramway aus den höllischen Werkstätten zur Stelle. Grausig hallte es durch die Straßen, wenn er vor die Unglücklichen hintrat und sprach: "Fahrscheinkontrolle!" Die schwarzen Flecken auf der Seele waren ein Freiausweis für die Fahrt in die ewige Finsternis.

Die lähmende Furcht währte aber nicht lange unter den Wienern. Kluge Köpfe ersannen eine List, die sie vor der teuflischen Versuchung bewahren sollte. Zu Tausenden plünderten sie ihre Sparstrümpfe, ihre Konten, nahmen Kredite oder beerbten Verwandte, gingen hin und kauften - Automobile. Umgeben von schützendem Metall fühlten sie sich gewappnet, selbst den Mächten der Hölle zu trotzen.

Und es gelang: Unter Feuer und Schwefel versank Bim in der Erde und ward nicht mehr gesehen. Doch seine Rache war fürchterlich. Immer dann, wenn sich die Wiener sicher glaubten, sandte er zur Warnung seine Tramway auf den Weg, und alle, die in ihren Autos saßen, schickten ein Dankgebet zu Carl Benz, und jene, die an den Haltestellen warteten, wünschten sich an deren Stelle und suchten am nächsten Tag eine Fahrschule auf. Viel Wasser ist seither die Donau hinabgeflossen, und kaum jemand in Wien kennt heute noch diese Geschichte. Auto fahren ist den Bewohnern dieser Stadt längst schon zu Tradition und Gewohnheit geworden, ja sogar der einst gefürchtete Name des Schwarzen Kontrollors ist als Kosename auf die Tramways übergegangen.

Bim selbst hat sich anderen Sündern zugewandt. Nur hin und wieder, wenn die giftschwangeren Wolken über dem nassen Asphalt hängenbleiben, dann besteigt er seine Tramway, fährt eine Runde über den Ring und genießt es zuzusehen, wie sich die Wiener ganz von selbst schon das Leben zur Hölle machen.

Quelle: E-Mail Zusendung von Gernot Schönfeldinger, 25. September 2001
© Gernot Schönfeldinger

Sagenhaft, des Wien
Der wahre Kern einer Stadt,
aufgeknackt und niedergeschrieben von einem,
der aus der Provinz auszog, um doch niemals ein Wiener zu werden.
Selbstverlag Schönfeldinger, Wien 1997.