FRAU HOLLE
- oder Das Reich der Mütter

von Margarete Lassi

Einleitung

Dies ist eine wahre Geschichte - oder ein Märchen, wie man will. Denn welche Geschichten könnten wohl wahrer sein, als Märchen? Warum bloss im allgemeinen Sprachgebrauch nicht ganz ehrlich gemeinte Flunkereien oft als Märchen bezeichnet werden? Ich weiss es nicht. Ich weiss nur: Es gibt so viele Wahrheiten, wie es Menschen auf der Erde gibt, denn jeder von ihnen hat seine eigene. Zu den liebsten Beschäftigungen der Menschen gehört es, einander ihre Wahrheiten gegenseitig um die Ohren zu hauen, dass es kracht. Überzeugen nennen sie das. Dabei kann man grob gesagt, drei Gruppen unterscheiden: die Einen missionieren, sie verbreiten die Wahrheit die Gottes . Die Anderen dienen auch einer Religion, die heisst Wissenschaft. Die Dritten aber führen Kriege, weil sie alle Anderen von einer Wahrheit überzeugen wollen, die Friede heisst. Ihr könnt euch aussuchen, welche davon die Schlimmste ist.

Dies soll aber keine Abhandlung über die Wahrheit werden, dafür sind andere zuständig, sondern ein Märchen. Also hört:


1. KAPITEL


Auf meinen Wegen durch das Land der Seele traf ich jüngst eine alte Bekannte. Ihr kennt sie unter verschiedenen Namen: Perchta, Perahta, Holda, Holde oder Holle. Sie ist übrigens für den Schnee zuständig und lässt Euch ausrichten, dass sie Eure Beschwerden über die letzten, schneearmen Winter wohl erhalten hat. Sie leide aber etwas unter Personalmangel, weil nur mehr so wenig Mädchen das ehrbare Handwerk des Spinnens erlernen wollten. Obwohl neulich eine Nachwuchskraft auf anderem Wege als dem altbekannten zu ihr gelangt sei. Wie, das hat sie mir ausführlich erzählt.

Am Rande einer grossen Stadt, welche, ist nicht so wichtig, da die Städte einander immer mehr und mehr gleichen, zumindest die der reichen Länder, lebt eine Familie. Vater, Mutter, zwei Kinder. Die typische Durchschnittsfamilie also. Obwohl, ganz so durchschnittlich ist sie nicht. Es handelt sich nämlich um eine noch "unzerbrochene" Familie, das heisst, der Vater ist der richtige Vater beider Kinder, keine Trennung, keine Scheidung, keine ernsthaften Krisen, jedenfalls bis ihnen das zugestossen ist, wovon dieses Märchen erzählt. Das ist selten geworden heutzutage und sogar ein wenig verdächtig. Früher nämlich, in der Entstehungszeit der meisten Märchen, da zerbrachen Familien zwar auch häufig, doch das hatte andere Gründe. Habt Ihr Euch schon einmal gefragt, warum in so vielen Märchen Stiefmütter vorkommen? Ja? Hier ist meine Antwort, eine unter mehreren möglichen, Ihr wisst schon, die Geschichte mit den vielen Wahrheiten! Also, die Sache ist die, dass die Kunst der Geburtshilfe damals sehr im Argen lag. Die Weisen Frauen waren, wenn sie nicht verbrannt worden waren, doch sehr in Misskredit geraten, alles Weibliche galt sowieso als äusserst verdächtig und minderwertig. Also waren die armen Gebärenden auf die Kunst der Herren Ärzte angewiesen. Die waren in Geburtshilfe wesentlich weniger gut unterrichtet als ihre diskreditierten Vorgängerinnen. Ausserdem verrichteten sie ihr Handwerk unter Decken und anderen Sichtbehinderungen, der Ehrbarkeit wegen, versteht sich. Diese Zustände führten dazu, dass es sehr viele Witwer in jüngeren Jahren gab.
Was also tut nun so ein Mann, der noch kräftig im Saft steht, vielleicht noch mit ein oder mehreren unversorgten Kindern? Er begibt sich erneut auf Brautschau und zeugt in weiterer Folge mit der neuen Frau wiederum Nachwuchs. Schon ist der Krisenherd angefacht. Man stelle sich vor, die Zweitfrau empfindet sich als zweite Wahl und versucht nun mit allen Mitteln Nummer Eins zu werden, sie und ihr Nachwuchs natürlich. Ein Nährboden für alle Arten von Aschenputteln, Schneewittchen, Goldmarien, und was an armen, degradierten Geschöpfen noch unsere Märchenbücher bevölkert.

Besagte Familie also, die unserer Geschichte, lebte und lebt auch heute noch, in einem Häuschen mit ordentlich gepflegtem Garten und Garage in einem der besseren Bezirke, aber nicht in einem der besten, wohlgemerkt. Sie gehörten der Mittelschicht an, und das Wort "mittel" passte auf alles, was sie betraf. Der Vater war im mittleren Management seiner Firma tätig, er verdiente mittelmässig, das Haus war mittelgross, ebenso er selbst und seine Frau, die Mutter seiner mittelmässig begabten Kinder. Das heisst, so mittelmässig begabt waren sie eigentlich nicht, nur lagen ihre eigentlichen Begabungen nicht dort, wo ihre Eltern sie suchten. Das traf vor allem auf das jüngere der beiden Mädchen zu, Maria mit Namen, Mariechen gerufen. Die Ältere, Anna, entsprach schon eher den Erwartungen ihrer Eltern, oder genauer gesagt, denen ihrer Mutter. Der Vater der Beiden stellte nicht so spezielle Anforderungen an seine Töchter. Sie sollten in der Schule gut mitkommen, sich in den Rahmen der Familie und deren Umfeld gut einfügen, gesund sein, keine Drogen nehmen und einen akzeptablen Freundeskreis haben. Was zusammengefasst also bedeutet, sie sollten keine Schwierigkeiten machen, damit er sich ohne Störung seiner Karriere widmen konnte, die sich in einer diffizielen Phase ihrer Entwicklung befand und seiner allergrössten Aufmerksamkeit bedurfte. Er war, wie gesagt, in mittleren Jahren und noch nicht an die Spitze des Unternehmens gelangt. Dort wollte er aber sein, wenn er die Jahre der Reife erreicht hatte. Dann, so hoffte er, würde auch sein Leben und das seiner Lieben aus der Mittelmässigkeit hinauswachsen in den strahlenden Glanz, der den Gipfel der Gesellschaft bestrahlt. Seine Frau, Helene, war damals ebenfalls gerade mit einem heiklen Abschnitt ihres Lebens befasst. In ihrer Jugend war sie eine begabte und auch erfolgreiche Schwimmerin gewesen. Zahlreiche Pokale in allen Grössen, überall im Haus verteilt, berichteten von diesem Abschnitt ihrer persönlichen Biographie und sollten besonders ihren Mann immer daran erinnern, was sie für ihn aufgegeben hatte. Als sie nämlich Gregor geheiratet hatte und bald darauf von ihrer ältesten Tochter entbunden worden war, stagnierte ihre Karriere, um nach der Geburt von Mariechen ganz zum Erliegen zu kommen. Helene widmete sich fortan ihrem Mann und den beiden Töchtern, freiwillig, wie sie jedem bereitwillig versicherte, der sie daraufhin ansprach oder auch nicht. Im Innersten hoffte sie, dass Gregor sie wegen ihres grossen Opfers, das sie am Altar ihrer Liebe dargebracht hatte, auf Händen tragen würde. Anfangs tat er das auch. Aber wer erträgt schon auf Dauer den Gedanken, dem Anderen für etwas ewige Dankbarkeit zu schulden, das er so dezidiert eigentlich nie verlangt hatte. Immerhin musste sie ja von Anfang an gewusst haben, was sie erwartete, wenn sie heitatete. Sie hätte sich ja auch anders entscheiden können, na eben! Nun war sie auch schon über die Jahre der prallen Jugendlichkeit hinaus und musste sich eingestehen, dass sie selbst sich wohl kaum mehr auf irgendeinem Gebiet profilieren würde. So ereilte die zwei kleinen Mädchen ein Geschick, das sie mit so manchen Anderen teilten. Sie sollten das erfüllen, was ihrer Mutter versagt geblieben war. Helene widmete sich mit Hingabe der sportlichen Karriere ihrer Töchter. Sie fuhr Anna, die Ältere, bereitwillig in frühester Morgenstunde zum Training, das noch vor dem Unterrichtsbeginn angesetzt war und am Nachmittag wieder. Später dann, als Anna das Sportgymnasium besuchte, hätte der Tagesablauf Helenes etwas weniger anstrengend sein können, denn das Training war in den Unterricht integriert.
Dann aber begann der gleiche Zirkus mit Mariechen von vorne. Ja, Helene hatte ihren Lebensinhalt gefunden, sie war unentbehrlich und sehr im Stress. Denn wer auf sich hielt und dazugehören wollte (wozu auch immer), hatte einfach im Stress zu sein. Sie erfüllte ihr Lebenswerk. Und dann noch der Haushalt und der Mann, der jede Aufforderung von Seiten Helenes, im Haushalt mitzuhelfen, indigniert ablehnte. Schliesslich ermöglichte er mit seinem schwierigen Job doch dies Alles, da könne er schon erwarten, dass das honoriert würde, na also! Mariechen machte ihr ausserdem Sorgen. Sie schien nicht so richtig zu würdigen, was ihre Mutter da auf sich nahm, um ihre sportliche Karriere zu fördern. Draussen spielen, auf Bäume klettern, halbe Tage einfach verträumen, das brachte einen doch nicht weiter im Leben, und weiterkommen musste man doch einfach, war das Wichtigste! Sie musste schliesslich einsehen, dass ihre Mutter wirklich nur das Beste für sie wollte!

Irgendwann schien Mariechen das auch endlich begriffen zu haben. Sie absolvierte widerspruchslos ihr Trainingspensum und gelangte bald in das Spitzenfeld ihrer Altersgruppe. Sie begann, mit ihrer grossen Schwester zu konkurrieren, die ihr als ständiges Vorbild vorgehalten wurde, wie dem Esel die Karotte. Naturgemäss war diese ihr immer um einen Schritt voraus. Durchschaute Mariechen nicht das Hase und Igel -Spiel ihrer ehrgeizigen Mutter? War sie es niemals leid, oder nahm sie die einzige Möglichkeit wahr, deren Anerkennung zu erringen? Wir wissen es nicht. Und Gregor schien es nicht zu interessieren. Sie funktionierte und bereitete keine Schwierigkeiten, also musste doch alles in Ordnung mit ihr sein, oder nicht? Niemand schien es zu bemerken, dass ihr kleines Gesicht freudlos und verbissen wurde. Früher einmal hatte sie es geliebt, fröhlich singend an einer ihrer bunt - phantasievollen Zeichnungen zu malen oder auf der Schaukel vor dem Haus kühne Höhenflüge zu erleben, bis in den Himmel, wie sie sagte. Sie hatte viel gelacht, geplaudert und sehr viel gelesen damals, in den längstverwehten Tagen ihrer frühen Kindheit, damals, als Training und Leistung noch nicht die Götter ihres kindlichen Reiches gewesen waren.

Endlich war auch sie dann in den Olymp ihrer grossen Schwester aufgenommen worden, und nun besuchte sie bereits die fünfte Klasse des Sportgymnasiums. Es bedarf keiner weiteren Erwähnung, dass sie dort als eine der ganz grossen Hoffnungen des Schwimmsportes galt. Ihre bevorzugte Sparte war der Delphinstil.

So wie jeden Morgen um halb sechs krähte ihr alter Kinderwecker, ein elektronischer Hahn. Sein blechernes und durchdringendes Organ war im ganzen Haus zu hören und bedeutete, bis spätestens halb sieben mit Morgentoilette und Frühstück fertig zu sein, Frühstück nach genau ausgearbeitetem Ernährungsplan für aufbauendes Training. Papa biss genussvoll in eine frische Semmel mit Honig, die beiden hoffnungsvollen Töchter kauten etwas weniger genussvoll an ihrem eiweissangereicherten Müsli, bissen in Vollkornbrot mit Kräutertopfen, gesund, jawohl, vorschriftsmässig, jawohl! Mama teilte schon aus Prinzip die Diät ihrer Töchter, sie wollte sie nicht demoralisieren, und ausserdem, die schlanke Linie! Danach, Küsschen, Küsschen für den Papi, Trainings - und Schulutensilien geschnappt - oh Gott, heute war Matheschularbeit - und bei der Seitner (so hiess die Matheprofessorin) konnte man nicht schummeln! Vorher stand aber noch Morgentraining auf dem Programm, täglich von sieben bis halb neun. "Mariechen, wo bleibst du denn, kannst du nicht am Abend deine Sachen fertig packen! Der Anna muss ich das nie sagen, warum kannst du dir kein Beispiel an ihr nehmen!" Aus, fertig, diesen Tag hasste sie schon, bevor er richtig begonnen hatte. Nun konnte sie auch noch ihr Skriptum nicht finden, und heute stand doch ihr Deutschreferat auf dem Programm!

Und um fünf die anstrengende Vorausscheidung für die Jugend - Europameisterschaften, uff! Manchmal hätte sich Mariechen gerne ausgeklinkt aus dem täglichen Programm. Oftmals träumte sie mit offenen Augen vor sich hin: ein lichter Wald, sie auf einem weissen Pferd, das sich mit einem Mal in die Lüfte erhebt, weit über die Wolken....unter sich lassend die Schule, den Leistungsdruck, die hochgesteckten Erwartungen der Mutter....."Maria, komm doch mal an die Tafel und leite die Formel hier ab!" Die Stimme der Realität liess dann ihr weisses Pferd abstürzen wie einen Stein. Dann hörte sie zu allem Überfluss noch häufig: "Du solltest dir das einmal von deiner Schwester erklären lassen! Wenn du nur in Mathematik annähernd so gut wärst, wie beim Schwimmen!" Heiliger Strohsack, wäre nur dieser Tag schon vorbei!

2. KAPITEL


Der Tag war nun schon fortgeschritten, aber noch nicht vorbei. Marie ass noch einen Müsliriegel und machte sich für das Schwimmtraining fertig. Irgendwie konnte sie heute nicht richtig warm werden! Nun ja, ihre Trainerin würde dem schon abhelfen. Zuletzt war ihr immer noch warm geworden, sehr warm. Sie mochte heute so gar nicht aus der heissen Dusche heraus, hier war es so angenehm! Es nützte nichts. "He Maria, beeil dich, alle warten schon! Du riskierst wieder einen Anpfiff von der "eisernen Jungfrau!" Ihre beste Freundin Angi hatte sie schon gesucht, die Liebe. Angi war ein wirklicher Lichtblick in ihrem Alltag. Die Beiden waren ein eingeschworenes Duo und teilten Freud und Leid. Vor allem aber stärkten sie einander den Rücken gegen die "eiserne Jungfrau", ihre Trainerin. Sie konnte schon sehr hart und streng mit ihren Schützlingen sein, und ihr asketisches Aussehen und ihre Ausstrahlung verrieten, dass sie diese Strenge wohl auch gegen sich selbst anwandte. Sie wusste, wie die Mädchen sie nannten und schien deswegen nicht beleidigt zu sein, nein, sie benützte ihr Eisenbeisser - Image, um die Mädchen zu immer höheren Leistungen zu treiben. Dabei war sie ein wirklich integrer und sonst auch freundlicher Mensch, und die Mädchen liebten sie in gewisser Weise, aber im Training kannte sie kein Erbarmen und duldete keine Schwäche.

Die Schwimmhalle war erfüllt von den Stimmen der jungen Sportlerinnen, vom vertrauten Geruch nach desinfizierenden Chemikalien und von vibrierender Spannung, verursacht durch die wichtigen Qualifikationsdurchgänge, die heute beginnen sollten. Nach ein paar Aufwärmlängen nahmen die Teilnehmerinnen Aufstellung auf den Podesten an der Schmalseite des Beckens. Es wurde fast schlagartig still. "Ich schaffe es, ich bin ganz ruhig und gelassen, ich weiss, dass ich siegen kann, ich fühle mich stark und werde mit jeder Runde stärker!" Automatisch schon liefen die mentalen Affirmationen durch ihre Gedanken, sie waren zum integrierenden Bestandteil ihres sportlichen Alltags und unentbehrlich für sie geworden. Maria wusste, ihre Kolleginnen neben ihr, nun Konkurrentinnen, die es zu besiegen galt, taten in diesem Augenblick genau das Gleiche. So waren sie alle sowohl getrennt durch ihre Konkurrenz, als auch verbunden durch gleiches Tun und den absoluten Willen zu siegen.

Das Signal zu Bereitmachen ertönte, acht junge Körper strafften sich bis zum Äussersten, um sich beim nächsten Signal abzustossen, zum stomlinienförmigen Fisch zu werden, die Gewässer dieses sterilen Meeres zu ihrem eigentlichen Element zu machen und als erste anzukommen am Ziel der Wünsche, welches auch gleichzeitig der Ausgangspunkt dieser rasanten Reise war. Nun war kein Platz mehr für Gedanken. Die trainierten Körper folgten ihrer Bestimmung.
Acht Delphine glitten fast lautlos entlang der vorgegebenen Bahnen dem ersehnten Sieg entgegen. Maria bewegte sich, zwischen den elastischen Wänden aus Wasser, kraftvoll und schnell wie immer, alles ging gut. Sie setzte sich an die Spitze, wie man es auch von ihr erwartet hatte und spulte Länge um Länge ab, wie ein Uhrwerk. Zwei Längen lagen noch vor ihr, die würde sie spielend schaffen, das spürte sie.

Ein Blitz aus gleissendem Licht erhellte die Innenseite ihrer Augenlider, ihre Bewegungen schienen sich mit einem Mal zur Zeitlupe zu verlangsamen, und dann stand alles still, das Wasser, die Zeit, ihr Atem.

Alle hatten die Podeste erreicht. Eine nach der Anderen hatte mit den Händen die glatte Wand der verkachelten Würfel angeschlagen. Einer blieb leer. Marias. Ungläubiges Erstaunen zuerst, dann Panik; es musste etwas passiert sein! Alles tauchte und suchte aufgeregt. Irgendwo da unten musste sie sein. Es galt, keine Zeit zu verlieren.

Maria sank und sank. Wie tief das Trainingsbecken war, unglaublich! Warm und weich umfing und trug das kristallklare Wasser ihren Körper. Sie überliess sich dem sanften Abwärtsgleiten mit entspannten Gliedern. Hier konnte und musste sie nichts tun, absolut nichts. Ihr war, als spräche das Wasser zu ihr und forderte sie auf, es zu geniessen, sich hinzugeben an das liebevolle Umfangenwerden durch das vertraute Element, das sich so ganz und gar neuartig verhielt.

Das Tiefersinken schien kein Ende zu nehmen. Maria schwebte durch eine Art Schacht oder einen unendlich tiefen Brunnen. Er musste wohl bis zum Mittelpunkt der Erde reichen, so tief, so furchtbar tief ging er hinein in den Leib der Erde. Seltsam, eigentlich hätte sie erwartet, dass es so tief im Erdinneren dunkel sein müsse, aber es war hell, anders als das gewohnte weisse Licht der Deckenleuchten in ihrer Schule, auch nicht wie ein strahlender Sonnentag, sondern irgendwie warm und lebendig. Lebendes Licht, nie hatte sie gewusst, dass es so etwas gab!

Inzwischen hatte man Marias Körper gefunden und schnellstens an die Oberfläche geholt. Blass und kalt lag sie auf dem gekachelten Boden. Die Trainerin hielt ihr Ohr an den Mund Marias und horchte nach ihrem Atem. Da war nichts. Kein Hauch. Auch der Herzschlag hatte ausgesetzt, sie fand nichts, was dem gleichmässigen Takt, der Leben bedeutet, ähnelte.

Maria fragte sich, warum sie noch nicht erstickt war. So lange konnte man die Luft niemals anhalten, auch nicht, wenn man im Tauchen geübt war wie sie. Ausserdem, es fehlten die vertrauten Anzeichen von Atemnot, die einen zwangen, schleunigst wieder aufzutauchen. Und absolut kein Druck auf den Ohren! Nur müde wurde sie langsam, angenehm schläfrig. Bevor es nun endlich doch dunkel wurde vor ihren Augen, leuchtete noch einmal ein Gedanke wie ein Blitz in ihr auf, zuckte vorüber, verglühte und erlosch: "Ob ich wohl sterbe, ob sich so das Sterben anfühlt?"

"Sie ist klinisch tot!" stellte die Eiserne Jungfrau mit mühsam verhaltener Panik in der Stimme fest. Gleich darauf leitete sie alles in die Wege, was ihre Ausbildung für diesen Fall vorsah: Herzmassage, Mund zu Mundbeatmung, Rettung verständigen, Eltern anrufen. Sie war ein Vollprofi und tat, was zu tun war, ohne Verzögerung. Dennoch war nun das eingetroffen, was nie hätte eintreffen dürfen und wovor sie sich in einem verborgenen Winkel ihres Herzens immer gefürchtet hatte. Sie handelte wie in einem schrecklichen Alptraum.
Eins, zwei, drei, vier, fünf - Atemspende - eins, zwei, drei - Herzmassage, wieder und wieder, wie eine Maschine. Alle Geräusche um sie her wirkten merkwürdig gedämpft. Alles fühlte sich an, wie in Watte gepackt und es war ihr, als stünde sie neben sich selbst und beobachtete ihre eigenen Bemühungen.

Maria schlug die Augen auf. Langsam tauchten schemenhaft aus dem verschwommenen Halbdunkel um sie her vertraute Gegenstände auf. Da war eine Ladenkommode, schon etwas fleckig und zerkratzt, darauf sass ein offensichtlich sehr geliebter Teddybär. Sein Fell war an einigen Stellen reichlich zerschlissen. Ein Vorhang bauschte sich im Wind. Das Muster schien ihr irgendwie vertraut: Rundliche Kühe spazierten gemächlich grasend über eine hellgrüne Wiese mit Apfelbäumen, Blumen und pickenden Hühnern. Und sie? Sie lag in einem Bett, ja, es war ein Kinderbett, und sie erkannte mit einem Mal., wo sie war. Sie lag in ihrem Zimmer, in ihrem alten Kinderzimmer, das sie mit ihrer Schwester Anna geteilt hatte, als sie noch klein war! Aber war sie nicht eigentlich......älter.....wie alt? sechzehn oder? Wie war das möglich, was war denn nur geschehen mit ihr? Da war doch dieser Schwimmbewerb gewesen, sie hatte geführt und dann.....dann war sie in einer Art Brunnen immer tiefer gesunken. Dies musste ein verrückter Traum sein, oder hatte sie das Andere, ihr Leben als Leistungssportlerin, nur geträumt und erwachte jetzt in ihrem wirklichen Leben? Alles war so verwirrend!

Die leise Melodie eines Wiegenliedes drang durch ihre angestrengten Gedanken und bekräftigte sie in der Gewissheit, dass dies hier die Wirklichkeit sein musste. Die Melodie kam von ihrer alten Spieluhr: "Schlafe, mein Prinzchen, schlaf ein...." Schlagartig war es wieder da, das Geborgensein ohne Forderungen, ohne etwas dafür leisten zu sollen, einfach und warm, nur Aufgehoben sein ohne Wenn und Aber. Jetzt plötzlich wurden die verschwommenen Umrisse klar, die Formen plastisch, die Eindrücke authentisch. Sie war hier, und hier war ihre Wirklichkeit. Mariechen drückte ihre geliebte Puppe Mimi fest an sich und schob wie selbverständlich ihren linken Daumen in den Mund. Diese Bewegung war ihr so vertraut wie das Atmen. Mama schalt sie oft deswegen. Sie sagte immer: "ein grosses Mädchen lutscht nicht mehr am Daumen!" Aber Mama war nicht im Zimmer und konnte ihre kleine Angewohnheit nicht sehen. Als die Melodie der Spieluhr verklang, war sie bereits eingeschlafen.

Mariechen erwachte mit der Melodie des Schlafliedes in den Ohren. Ihr war, als sei sie eben erst eingeschlafen. Es war der tiefe, erholsame Schlaf des Kleinkindes gewesen, eine der wunderbaren Segnungen dieses Lebensabschnittes. Auf dem Nachttisch stand ihr neuer Wecker. Er hatte die Form eines Hahnes und konnte wirklich krähen. Sie war sehr stolz auf ihn, weil er ihren neuen Status bekräftigte, der sie auswies als eine, die schon die Uhr lesen konnte. Wie Anna, wie ihre tüchtige, grosse Schwester! Wo war Anna? Mariechen konnte weder ihre Schwester sehen, noch deren Bett. Aber wieso denn, Anna wohnte doch bei ihr im Zimmer! Wieder beschlich Mariechen ein unbestimmtes Gefühl der Unwirklichkeit. Woher stammte diese Erinnerung denn? Vielleicht auch aus ihrem Traumleben? Die Türe öffnete sich, herein kam Mama. Ja, natürlich, es war Zeit zum Aufstehen! Sie beugte sich über das Bett ihrer kleinen Tochter und lächelte liebevoll.

Helene beugte sich über ihre Tochter, die in einem Intensivbett lag, angeschlossen an Schläuche und Messinstrumente. Über einen Oszillator flimmerte die Lebenslinie ihres Kindes, immer in Zacken, auf und ab. "Lieber Gott, mach, dass dieses Auf und Ab nicht aufhört, dass dieses Gebirge nicht mit einem Mal eingeebnet wird, zur Wüste, zum Tod!" Wann hatte sie zum letzten Mal gebetet? Schon seit Ewigkeiten nicht.
"Nur dieses eine Mal, lieber Gott, ich verspreche Dir.....was eigentlich? Egal, alles, was Du von mir verlangst! Nur mach, dass mein kleines Mädchen lebt!" Gregor war eilends aus der Firma hergekommen, als er den Anruf erhalten hatte. Sein Gesicht war blass und eingefallen. Er lief wie ein gefangenes Tier auf und ab. Der Arzt hatte ihnen gesagt, dass man nur abwarten könne. Atmung und Kreislauf waren stabilisiert worden und wurden jetzt durch die Geräte laufend überprüft. Die Untersuchung ergab, dass Maria einen Gehirnschlag erlitten hatte. Sie lag im Koma, und keiner wusste, wann und ob sie wieder zu sich kommen würde. Das Haus des Körpers erfüllte seine Pflicht und wartete getreulich auf seine Bewohnerin, die auf unbestimmte Zeit oder aber für immer verreist war. Der Arzt hatte ihnen auf einfühlsame Weise klargemacht, das es besser sei, nun heimzugehen. Sie konnten hier nichts mehr tun. Ausserdem sollten sie ihre Kräfte schonen, vielleicht würden sie sie noch brauchen. Alles, was man für Maria tun konnte, würde getan werden, und sie sei in guter Obhut. Also waren die Eltern schweren Herzens gegangen. Die folgende Zeit konnte hart genug werden.

Gleich am nächsten Tag war Helene zeitig am Morgen schon wieder am Bett ihres Kindes. Ihre Verpflichtungen, all das Vielerlei ihres geschäftigen Alltags, was war nun damit? Es war unversehens unwichtig geworden und nahm ganz plötzlich den Platz in der Hierarchie ihres Lebens ein, der ihm von Rechts wegen zustand. Hier lag es, ihr Kind und sah so sehr verletzlich und hilfebedürftig aus! Lange verdrängte und vergessene Erinnerungen stiegen in ihr auf, an die Zeit, als ihre Kinder klein gewesen waren, an das Glück und die Wärme ihrer weichen, duftenden Babykörper, an die Zärtlichkeit, die ihr Lächeln in ihr ausgelöst hatte. Was war nur passiert mit ihnen allen! Was hatte sie dies alles vergessen gemacht, so dass sie später nur mehr Leistung als vergötterten Maxime in ihrer aller Leben hatte gelten lassen! Auch der Beziehung zu Gregor hatte sie diesen Stempel aufgedrückt. Sie waren zu einem Team geworden, das gemeinsam kämpfte. Wofür? Ach ja, für gesellschaftlichen Aufstieg und Erfolg! Aber beider Herz war leer geworden dabei, und sie hatten am eigentlichen Sinn von Liebe und Familie vorbeigelebt. Schlagartig fühlte sie in diesem Moment ihr Scheitern und wünschte, noch einmal von vorne beginnen zu können. Vielleicht war es zu spät dazu. Aber auch darüber konnte sie jetzt nicht nachdenken, ihr Kind brauchte sie.

Der Arzt hatte ihr geraten, mit Maria zu sprechen, viel zu sprechen. Vielleicht erreichte ein Wort, ein Gefühl, vom richtigenWort ausgelöst, ihr Bewusstsein an seinem Aufenthaltsort, wo immer das auch sein mochte! Mit ungeübter Zärtlichkeit strich Helene ihrer Tochter über die Stirn. Sie erzählte ihr von den längst vergangenen Tagen ihrer Kleinmädchenzeit, von dem Wecker in Form eines Hahnes, auf den sie so stolz gewesen war, vom Teich mit den Schwänen, wo sie das erste Mal Bekanntschaft mit dem kühlen Nass gemacht hatte, lange bevor Wasser zu ihrer täglichen Pflicht geworden war. Marie hatte das Wasser geliebt damals. Helene musste lächeln bei der Erinnerung an das kleine, pummelige Kind, das sich trotzig geweigert hatte, aus dem Teich zu kommen, obwohl seine Lippen bereits einen erheblichen Blauton angenommen hatten. Es hatte seine Plastikente fest an sich gedrückt, das kleine Gesicht zu einer widerstrebenden Grimasse verzogen und heftig mit seinen rundlichen Beinchen im seichten Wasser gestrampft, dass es spritzte: "Nein, nein, Miechen will nicht, Miechen will noch wimmen!" Davon erzählte Helene ihrer Tochter. Sie erzählte es aber gleichzeitig auch sich selbst und erlebte alle die Szenen wieder. Auch die Gefühle, die sie damals bewegt hatten, kamen zurück, stiegen aus den Tiefen des Vergessens auf, wo sie lange brachgelegen hatten und liessen ihr Gesicht wieder weich und jung werden. Dafür allerdings hatte sie jetzt keine Augen.

Mariechen streckte lachend die Arme nach ihrer Mutter aus, die sie gleich darauf aus ihrem Bettchen hob und liebevoll wiegte. Alles war weich an ihr und roch so unbeschreiblich süss, wie Honigsemmel, eine der Lieblingsspeisen Mariechens. "Na, was wollen wir beide denn heute unternehmen, willst du schaukeln oder zum Teich mit den Schwänen gehen, oder beides?" fragte Mama. Mariechen konnte sich nicht erinnern, ihre Mutter jemals so rund, so glatt und weich, so unbeschwert erlebt zu haben. Weg waren die scharfen Linien, die sich von den Nasenflügeln bis zu den Mundwinkeln zogen und ihrem hübschen Gesicht einen grämlichen Zug verliehen. "Ja, Mama, ich möchte gerne zum Teich und baden auch und Schwäne füttern und....." schon standen sie an seinem Ufer. Ohne Übergang, ohne Vorbereitungen, ohne den geringsten Verzug. Das war seltsam. Das gab es nicht, konnte es nicht geben, das wusste Mariechen. Irgend etwas stimmte hier nicht, war nicht richtig, nicht wirklich. Unsicher blickte Mariechen ihre Mutter an, "Was hast du, mein Liebes, ist etwas nicht in Ordnung," fragte diese, als sie den zweifelnden Ausdruck in den Augen des Kindes sah. "Was ist das hier, wo wir sind, es ist so komisch?" "Was ist denn komisch, was meinst du?"
"Na alles. Wie beim Träumen. Träume ich, Mama?" Die Mutter lächelte belustigt und antwortete: "Nein, mein Kind, es ist alles ganz wirklich, aber vielleicht anders wirklich, als du es gewöhnt bist. Du bist doch hier, hier bei mir. Bin ich denn nicht wirklich? Du kannst mich hören, sehen und fühlen, da!" und wieder nahm sie Mariechen in die Arme, warm und weich, dass alle Fragen mit einem Schlag unwichtig wurden. Lange hielt sie das kleine Mädchen, bis es deutlich fühlen konnte, wie Zuwendung und bedingungslose, mütterliche Liebe, die es so lange vermisst hatte, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein, in diese Umarmung einflossen und alle seine inneren Reservoire auffüllten bis zum Rand. Es würde ihr niemals mehr daran mangeln. Sie trug von diesem Augenblick an die Liebe in sich und hatte nunmehr übergenug bekommen, so dass sie meinte, davon überzufliessen.

Es dauerte nicht lange, da bevölkerte sich das Ufer des kleinen Teiches. Es waren lauter Kinder, die da kamen. Da gab es grosse und kleine, dunkle und helle, saubere und schmutzige, zerlumpte und auch adrette Kinder. Mariechen bemerkte, dass vielen etwas fehlte. Dort, wo eigentlich etwas sein hätte müssen, gähnte ein dunkles Loch, und bei den meisten sass das dunkle Loch in der Brust, dort wo das Herz seinen Platz hatte. Ungläubig sah Mariechen einmal die Kinder an, dann wieder ihre Mutter. Sie sah, wie diese die Arme ausbreitete, als wolle sie alle auf einmal mit einer einzigen, umfassenden Geste umarmen. Die Kinder drängten sich an sie, jedes durfte zu ihr und wurde von ihr liebevoll in die Arme genommen. Die mit dem grössten Loch wurden am meisten geherzt. Empört wollte sie rufen: "He, das ist meine Mutter, die gehört mir, geht doch zu eurer eigenen!" Mama schien ihre Gedanken erraten zu haben und wandte sich ihr mit ernster Miene zu. Plötzlich wandelte ihr Gesicht sich zu dem einer älteren Frau, um dann wieder, ganz unvermittelt, erneut die vertrauten Züge ihrer Mutter anzunehmen. Nun war es aber genug mit allem Mummenschanz! Von einem Moment zum anderen spürte Maria sich wieder zum sechzehnjährigen Mädchen werden, mit dem vertrauten Körper und der Vernunft dieses Alters.

"Mutter, bitte erkläre mir, was dies hier soll! Wo, sind wir hier? Wer sind all diese Kinder? Bist du wirklich meine Mutter? Alles ist so verwirrend!" "Kind, wie kannst du nur daran zweifeln, dass ich deine Mutter bin! Du hast es doch gerade eben gespürt, du weisst es doch!" "Ja, aber..." Die fremden Kinder hatten sich im Kreis um die Beiden gesetzt und verhielten sich ganz seltsam still, unkindlich still. Ebenso unkindlich wirkte ihr Blick, der der meisten jedenfalls.
Erst jetzt fiel Maria auf, dass viele Gesichter unendliches Leid und auch Hunger ausdrückten, physischen Hunger, aber auch den, der durch Nahrung nicht gestillt werden kann, den nach Liebe und Geborgenheit. Eine Welle aus Mitleid überflutete ihr Gemüt, und Tränen liefen ihr über die Wangen. Eine weiche, dunkle Stimme, anders als die ihrer Mutter, sagte: "Ich glaube, du beginnst zu verstehen, Maria. Sieh mich an!" Maria wandte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam und sah die ältere Frau, die vorhin einen kurzen Augenblick nur, das Bild ihrer Mutter überlagert hatte. Sie war weisshaarig, füllig und trug eine altertümliche Rüschenhaube auf dem Kopf. "Frau Holle, du bist Frau Holle, ich kenne dich aus meinem alten Märchenbuch" rief Maria bestürzt aus.

"Erinnerst du dich an dein altes Märchenbuch? Am liebsten hast du die Geschichte von der Frau Holle gehört, die habe ich dir immer wieder vorlesen müssen. Dann hast du mich immer gefragt: "Mama, die Goldmarie, das bin ich, gelt?" Wir haben dich ja auch manchmal scherzhaft so genannt, weil du damals so goldblond warst. Später sind deine Haare dann dunkler geworden, so wie jetzt. Dann warst du aber auch eine Goldmarie, wegen deiner vielen Pokale." Helenes Stimme wurde brüchig vor Kummer, als sie eindringlich flehte: "Komm zurück, meine Goldmarie, ich bitte dich! Wir lieben dich auch ohne Siege, selbst wenn du behindert bleiben solltest!" Diese Vorstellung allerdings war sehr schwer zu ertragen, und Helene musste sich erst langsam herantasten an den Gedanken, von nun an vielleicht eine behinderte Tochter zu haben.

"Ich hätte nie gedacht, dass es dich wirklich gibt! Und dass du auch wirklich genau so aussiehst, wie im Märchen!" Und mit neuerlicher Verunsicherung in der Stimme, "oder ist das jetzt auch wieder so ein Trick...?" Das hier hatte einen doppelten Boden, das hatte Maria bereits vorher geahnt. Jetzt aber war es zur Gewissheit geworden. "Nun wollen wir doch einmal die Kinder hier fragen, was sie denken," schmunzelte Frau Holle und forderte gleich darauf die Kinder auf, dem neuen Mädchen zu sagen, wer sie sei. Als vielstimmige Antwort ertönte es aus unzähligen Kehlen:

"Du bist meine Mutter!" "Wieso sagen alle, dass du 'seine' Mutter bist, warum sagen sie nicht 'unsere' Mutter?" Frau Holle antwortete nicht gleich, sondern forderte Maria auf: "Ich merke schon, das wird ein ausführlicheres Gespräch. Wir wollen die Kinder einstweilen beschäftigen, warte!" Sie wandte sich an eines der Grösseren mit der Bitte, den Apfelbaum zu schütteln. Er war vorher noch nicht dagestanden, das wusste Maria mit Bestimmtheit. Seine Äpfel wären bereits reif, und sie sollten sie danach einsammeln, in einen grossen Korb, der auch ganz plötzlich unter dem Baum stand. "So,"erklärte sie zufrieden, "damit werden sie eine Weile zu tun haben." Und den Kindern rief sie freundlich nach: "Esst davon, bis euch der Bauch weh tut, es gibt genug für alle!"

"Weisst du noch, Kleines, wie du bei jedem rotbäckigen Apfel, den ich dir gab, wissen wolltest, ob er auch vom Apfelbaum der Frau Holle sei? Und wenn ich verneinte, dann hast du ihn eben nicht gegessen!" Helene musste lächeln, obwohl ihr das Herz schwer war. Es wurde jetzt langsam wieder Zeit, heimzugehen. Anna war zwar schon achzehn und stand knapp vor der Matura, aber sie brauchte auch noch ein wenig Aufmerksamkeit von ihrer Mutter. Ausserdem Gregor! Auch er bangte um Maria, musste aber in der Firma trotzdem seinen Mann stehen. Mit einer Weichheit, die sie lange nicht gefühlt hatte, dachte sie an ihren Mann. Ja, sie musste, wollte jetzt nach Hause, und sie würden in eine neue Gemeinsamkeit finden müssen, so oder so, nichts konnte bleiben, wie es war. Helene küsste Marias Gesicht zum Abschied, das kleingeworden und blass auf dem Kissen lag.
"Bis morgen, meine Kleine, schlaf gut und träum schön!" Ohne es zu bemerken, verwendete sie die Worte, die sie früher immer beim Zubettgehen zu ihren Kindern gesagt hatte.

"So, jetzt wollen wir einmal Klartext reden," mit entschlossener Miene machte Frau Holle es sich im Gras am Ufer des Teiches bequem und forderte Maria auf, sich neben sie zu setzen. " Also, warum jedes Kind mich seine Mutter nennt, dürfte doch wohl klar sein. Nämlich, weil ich die Mutter eines Jeden bin, so einfach ist das. Du hast mich doch auch in der Gestalt deiner leiblichen Mutter erlebt, nicht wahr?" So war es gewesen, zumindest am Anfang. Später war Maria dann etwas unsicher geworden, und das Aussehen von Frau Holle hatte sich in der schon beschriebenen Weise verändert. Die alte Frau fuhr fort: "Es gibt auch einen Grund dafür, dass du dich in der Umwelt deiner frühen Kindheit wiedergefunden hast. Es ist der: du hast dir diese Szenerie selbst geschaffen, weil du dir oftmals unbewusst gewünscht hast, noch einmal dorthin zurückkehren zu können." Das ging aber denn doch zu weit! Maria hatte doch nichts gemacht, ihr war vielmehr etwas geschehen! Empört wollte sie das auch erwidern, doch Holle fiel ihr ins Wort: " Ich weiss schon, das klingt ganz unglaublich für dich. Aber, es ist so. Ein Teil von dir hat das gemacht. Du bist dir seiner meistens nicht bewusst. Aber, sag selbst: Hättest du dir eine andere Umwelt ausgesucht, für deine Ankunft hier, wenn du es vorher geplant hättest, ich meine, bewusst geplant?" Maria musste diese Frage verneinen. Ganz genau dort hätte sie sich wiederfinden wollen. "Na siehst du. Und wer anders als deine Mutter hätte dir alles das geben können, das du so sehr vermisst hast?" Wieder sagte Holle die Wahrheit. Ja, Maria spürte, auch wenn ihr das alles reichlich märchenhaft vorkam, so war es doch wahr.

Erinnert Ihr Euch der kurzen Abhandlung über die Wahrheit am Anfang unserer Geschichte? Natürlich tut Ihr das. Und sicher habt Ihr wie ich, auch schon erlebt, dass man es einfach weiss und sich seiner Sache sicher ist, wenn man auf eine der grundlegenden Wahrheiten stösst. Man kann niemanden davon überzeugen und es auch nicht beweisen. Nichtsdestotrotz weiss man mit unumstösslicher Gewissheit: das ist w a h r! So ging es auch der Heldin unserer Geschichte. Ihr fragt mich, warum ich das weiss? Eben, weil ich ein Märchenerzähler bin, und im Märchen geht es immer um Wahrheit, deswegen!

Maria fragte: "Warum siehst du eigentlich so aus, wie in meinem Märchenbuch? Habe ich dir diese Gestalt auch selbst gegeben?" "Jetzt hast du's begriffen, glaube ich," seufzte die alte Frau erleichtert. "Wie siehst du aber dann wirklich aus, ich meine..." "Lächelnd fiel ihr Frau Holle ins Wort: "Ich weiss schon, was du meinst. Wie meine wahre Gestalt ist, nicht wahr? Du wirst schockiert sein, wenn ich dir das sage. Aber, eigentlich gibt es mich nicht wirklich." Grosses Erstaunen bei Maria. Ungläubig starrte sie auf die Erscheinung der Alten: "Aber, ich sehe dich doch, und du hast mich umarmt und alles das!" "Es ist nicht leicht, dir das verständlich zu machen, dass es etwas gibt und doch nicht gibt." Frau Holle suchte merklich nach Worten. " Die Meisten verstehen das nicht. Schau, die Menschen haben immer schon, seit urdenklichen Zeiten, den unsichtbaren Kräften eine Gestalt gegeben, ihre Gestalt. Sie sahen die Natur als Mutter. Das ist sie ja auch. Sie bringt euch alle hervor, nährt euch, hegt und erhält euch. Wenn ihr sterbt, das heisst, wenn euer Körper stirbt, zerfällt er in seine Bestandteile, dieselben, aus denen die Erde besteht. Ihr kehrt heim zur Mutter Erde, in ihren Leib; und sie gebiert euch erneut wieder. Deshalb siedelten die Menschen mein Reich in ihrer Vorstellung tief in der Erde an. Denn ich bin für die Menschen die Verkörperung der Mutter. Ich trage das Gesicht einer jeden Mutter, und das jeder Mutter spiegelt das Meine, verstehst du. In meiner Gestalt als Frau Holle bin ich für sie der Winter, da alles in meinem Leib schläft, also der Tod.
Als Perchta, das heisst die Strahlende, bin ich der Frühling, die Geburt. Ich habe viele Erscheinungen und bin doch immer die Eine. Mein Symbol ist der Apfel des Lebens und der Schnee des Todes. Mein Reich sind die Flüsse, Bäche und Seen, weil das Leben aus dem Wasser kommt. Zu mir gelangt man durch die tiefen Brunnen, so wie du. Dies alles sind Bilder, Schöpfungen des Geistes, so wirklich wie alles, was du berühren kannst und gleichzeitig auch so unwirklich."

"Ja, du bist es, Du bist die Mutter allen Lebens", ehrfürchtig ergriff Maria die Hand Frau Holles und küsste sie. "Das bin ich," antwortete diese schlicht, "Und du bist gesegnet, meine Tochter, weil du mich erkannt hast, mit dem Herzen erkannt, denn nur das zählt." " Mutter, in meinem ganzen Leben will ich nur mehr das Eine, ich will Dir dienen, hier oder anderswo. Sonst habe ich keinen Wunsch mehr!" Maria sprach diese Worte mit dem Ernst eines Bekenntnisses aus, und sie wusste mit unumstösslicher Sicherheit, dass dieses Bekenntnis in allen Welten gehört wurde und in allen Realitäten Geltung haben würde.
"So, dann wollen wir gleich damit beginnen!" Frau Holle brach damit den Ernst des Augenblicks, keine Minute zu früh, denn die Kinder würden bald mit ihrer Ernte fertig sein. Die meisten sassen schon, mit vollen Backen kauend, unter dem Apfelbaum. Maria wollte aber noch etwas wissen, es brannte ihr schon auf der Zunge, seit sie die Kinder das erste Mal hier bemerkt hatte. "Sag mir noch das Eine," bat sie, "wer sind die Kinder hier alle?" "Kannst du dir das nicht denken?" "Sind sie gestorben, so wie ich? Aber, warum kann ich keine Erwachsenen hier sehen?" "Weil dies alles Menschen sind, die in ihrer Kindheit so sehr verletzt wurden, dass sie nicht wirklich erwachsen werden konnten, auch, wenn sie im Körper eines Erwachsenen steckten. Sie kommen zu mir, damit ich alle ihre Verletzungen heilen und ihre Defizite auffüllen kann, und sie kommen in ihrer wahren, ihrer kindlichen Gestalt. Erst, wenn das schwarze Loch in ihrer Brust sich geschlossen hat und ein warmes Herz dort schlägt, können sie wiedergeboren werden. Sonst würden sie ihre Verletzungen weitergeben und ihrerseits wieder verletzen, und eure Welt würde zum schrecklichsten Ort des Universums. Aber, mehr davon ein andermal, sie kommen nämlich schon zurück."

Maria schien die Welt trotzdem immer noch schrecklich genug, mit allen ihren Kriegen und Nöten. War Frau Holle vielleicht ein wenig überfordert? Sie nahm sich vor, sie bei Gelegenheit danach zu fragen, vergass aber dann wieder darauf.

Später dann, die Zurückgebliebenen sassen beim Abendessen, keiner hatte viel Appetit, doch jeder zwang sich, ein paar Bissen hinunterzuwürgen. Die Stille zwischen ihnen war schwer von ungesprochenen Worten. Anna zog sich bald zurück. Helene küsste sie zärtlich, ohne zu fragen: "Hast du alles für morgen" und ähnliche sachliche Floskeln. Statt dessen sagte sie: Schlaf gut, Kleines, und sei nicht verzweifelt. Es wird alles gut werden, du wirst sehen, auf die eine oder andere Weise." Die warmen Worte lösten Annas zurückgehaltenen Schmerz, und sie weinte heftig in den Armen ihrer Mutter. Da brachen auch die Dämme in Gregors Innerstem. Er stöhnte gequält auf, um gleich darauf in ein trockenes Schluchzen auszubrechen. Gleich darauf umarmten ihn Helene und Anna, und so, einander haltend, fühlten sie trotz allen Schmerzes, wie ihre Zusammengehörigkeit sie wie ein festes Band umschloss. In dieser Nacht schliefen Gregor und Helene nach langer Zeit wieder so miteinander, wie es früher einmal oft gewesen war. Die Hingabe an den Anderen, die Herz und Geschlecht zu einer einzigen feurig - flüssigen Lava aus Verlangen zusammenschmolz, da war es wieder, trotz ihres schlechten Gewissens. Ihre Tochter lag im Koma, und sie hatte nichts Besseres zu tun, als sich mit ihrem Mann in den Laken zu wälzen wie eine....ja was denn eigentlich? Wie eine Frau, die das Leben feierte, wo der Tod an die Pforte klopfte, das war's.
Am nächsten Morgen, beim Frühstück, bot Anna sich an, den Nachmittag statt ihrer Mutter bei Maria zu verbringen. "Du musst dich auch ein wenig ausruhen, wer weiss, wie lange dieses Koma dauern wird," meinte sie "Das ist sehr lieb von dir, meine Grosse, später vielleicht, wenn es notwendig sein sollte." Sie strich ihrer Tochter zärtlich über die Wange. "Aber dies hier ist meine Angelegenheit, denn ich habe Maria dorthin geschickt, wo sie jetzt ist." "Aber Mutter, du konntest doch nicht wissen...!" "Still, Kind, es ist nun einmal so, ich weiss es." Den verwunderten Ausdruck in Annas Augen sah Helene nicht, denn sie war gerade dabei, sich eine Semmel mit Honig zu bestreichen. "Da, gönn' dir auch einmal eine, ich weiss doch, wie gerne du sie magst," forderte sie Anna auf. "Aber Mutter, mein Diätplan...!" Ihre verwunderte Miene wandelte sich in Unverständnis und Staunen. "Ja, ja, dein Diätplan, ich weiss schon! Mariechen musste auch immer auf ihr Lieblingsfrühstück verzichten und wozu? Jetzt liegt sie dort in ihrem blinkenden, sterilen Chromsarg und hat gar nichts davon!" Helenes Stimme war dabei immer lauter geworden. Die letzten Worte schrie sie mit wutverzerrtem Gesicht heraus, wobei sie mit der Faust auf den Tisch schlug, dass Geschirr und Besteck hüpften. In die Stille hinein, die darauf folgte, sagte sie, nun wieder mit ruhiger und gefasster Stimme: "Verzeiht, ihr Beiden, die Wut gilt nicht euch, nur mir, mir allein. Ich habe alles vermurkst, mein Leben und eures. Irgendwie ist es mir gelungen, das all die Jahre vor mir selbst geheimzuhalten. Das arme Mädel hat müssen fast sterben, oder vielleicht stirbt sie ja auch wirklich, wo liegt der Unterschied? Ich sehe keinen, ob sie jetzt dort aufgebahrt noch einige Jahre dahinvegetiert oder gleich stirbt...." "Nun geh' einmal nicht so hart mit dir ins Gericht," versuchte Gregor einzulenken, "schliesslich hast du es ja doch gut gemeint mit dem Sport und alldem!" "Ja, ja" Helene lachte bitter auf, "das Gegenteil von gut ist gut gemeint. Dabei bin ich mir nicht einmal sicher, ob es das überhaupt war. Ich glaube, in Wirklichkeit habe ich das alles nur für mich getan, für mein Ego, das hab ich gefüttert und gemästet. Was aber für die Kinder wirklich gut gewesen wäre,... na, ja, es war mir wohl nicht so ein grosses Anliegen."

Gregor war irgendwie unangenehm berührt von der plötzlichen Selbsterkenntnis seiner Frau. Ihre Problematik berührte sich mit seiner, und das hiess, dass er sein Leben wohl oder übel auch überdenken würde müssen, jedenfalls war ihrer aller gewohnter Alltag aus dem Gleis, sehr aus dem Gleis. Nichts würde so bleiben wie es einmal war, das wusste und befürchtete er. Er war nun einmal einer jener Menschen, die, wenn sie sich einmal im im gewohnten Einerlei häuslich eingerichtet hatten, Veränderungen mieden, auch wenn diese neue Lebenschancen verheissen mochten.

Helene hatte Marias Haarbürste und ihre Gesichtscreme mitgebracht, auch einen Rest des Maiglöckchenparfüms, dass sie vor vielen Jahren immer benutzt hatte. Heute bevorzugte sie dezentere Düfte. Mariechen pflegte ihr Näschen dann immer in Helenes Halsgrube zu stecken und ganz intensiv an der Haut ihrer Mutter zu schnüffeln. Sie hatte den Geruch so sehr geliebt! Helene hatte einmal gelesen, dass der Geruchssinn die am tiefsten verankerte Empfindung des Menschen sei. Vielleicht geschah das Wunder, und der vertraute Duft würde ihre Tochter an ihrem Ort im Irgendwo erreichen. Sie hatte beschlossen, nichts unversucht zu lassen. Vorsichtig begann sie, das honigblonde Haar Marias zu bürsten, dabei sang sie ein Lied, dessen Text ihr schon fast entfallen war: "Aber heidschi, bumbeidschi, schlaf langa, dei Muata die is ja ausganga...." Früher einmal hatte sie dieses Lied jeden Abend für ihre Töchter singen müssen, wenn sie sie zu Bett brachte.


Frau Holle versammelte die Kinderschar um sich und inspizierte sie genau. "Komm her, Maria, siehst du, einige von ihnen sind sehr schmutzig. Wir müssen sie gründlich säubern!" Sie gab Maria eine weiche Bürste und einen Lappen, dann hiess sie das Mädchen, den Kindern beim Auskleiden behilflich zu sein, worauf sie alle in den Teich steigen liess. Unzählige, kleine Häufchen aus bunten Kinderkleidern blieben am Ufer zurück. Erst jetzt fiel Maria auf, dass hässliche, grauschwarze Flecken die kleinen Körper verunzierten. Sie gab sich alle Mühe mit ihrer Beseitigung, rieb und rieb, bis die Haut der Kinder so rot wurde wie die Äpfel, die sie gerade eben geerntet hatten. Frau Holle selbst liess es sich nicht nehmen, persönlich Hand anzulegen. Es war ein hartes Stück Arbeit, und trotzdem war einigen Flecken nicht beizukommen. So viel sie auch wuschen und rieben, mindestens ein Grauschimmer blieb immer noch an der Haut vieler Kinder zurück. Ein kleiner Junge fiel Maria ganz besonders auf. Er weigerte sich nämlich, sich auszuziehen und begann auch noch zu weinen, als Maria ihm dabei helfen wollte. Als sie versuchte, ihn in die Arme zu nehmen und zu trösten, verkrampfte sich sein kleiner, schmächtigenr Körper, als könne er die Berührung nicht ertragen. So versuchte sie, ihn mitsamt seinen Kleidern zu säubern, so gut es eben ging. Endlich war die Prozedur beendet. Frau Holle rieb die Haut der Kleinen liebevoll mit einer duftenden Lotion ein. Dabei sang sie sanft und zärtlich ein Lied, dessen Melodie Maria so seltsam bekannt vorkam. Sie konnte sich aber nicht mehr genau der die Worte entsinnen, es war irgend etwas mit 'heidschi und schlafen' oder so. Da war auch der Duft dieser Lotion, süss irgendwie und lang vertraut. Woher nur? Jedenfalls hatte sie das Gefühl, sich an irgend etwas erinnern zu sollen, sie kam und kam aber nicht dahinter, woran. Etwas, ein schattenhaftes Bild, eine Szene ihres Lebens, wartete im Halbdunkel ihrer Vergangenheit, ohne sich ihr zu erkennen zu geben. Als alles vorüber war, liefen die Kinder zu den netten, kleinen Häuschen, die plötzlich aus dem Nichts erschienen waren. Sie sollten sich nun ausruhen. Das war etwas, worauf Frau Holle äussersten Wert legte, dass ihre kleinen Gäste genug assen und ruhten. Wie in einem Sanatorium, dachte Maria.

"Das sind schon ganz arme Geschöpfe, sie brauchen sehr viel Zartgefühl, weisst du," liess sich Frau Holle vernehmen. Sie räusperte sich, als wisse sie nicht genau, wie sie mit dem, was sie zu sagen hatte, beginnen sollte. "Du bist ja noch sehr jung,....nun ja, es wird dir sicher nicht verborgen geblieben sein,...wie soll ich es sagen,....nun, dass in der Welt der Menschen nicht alles so ist, wie es sein soll. Kinder bekommen oft nicht die Zuwendung, die sie brauchen. Manche von ihnen aber kriegen eine besondere Art von Zuwendung, eine, die sie am allerwenigsten brauchen können.....Also, was soll die Herumrederei.....du bist ja auch kein kleines Kind mehr." Maria dämmerte es langsam. Sie las Zeitung und sah auch fern. Sie lebte ja schliesslich nicht hinter dem Mond. "Meinst du, das alles sind missbrauchte Kinder?" fragte sie entsetzt, "so viele!" Erleichtert seufzte Frau Holle: "Ja, du hast schnell begriffen, Gott sei Dank! Es war mir nämlich ein bisschen peinlich. Trotzdem muss ich es etwas genauer eingrenzen: dies hier waren nur die sexuell missbrauchten Kinder. Es gibt auch noch genug anderen Missbrauch, z.B. Kinder, die zum Soldatsein, Töten und Kämpfen gezwungen werden. Man tötet ihr Gemüt zuerst, indem man sie demütigt, sexuell missbraucht oder bei Folterungen zusehen lässt. Später werden sie selbst dazu gezwungen, die ärgsten Greueltaten an Nahestehenden zu begehen. Daraus führt dann in diesem Leben kein Weg mehr für sie zurück. Immer mehr solcher armer Seelenkrüppel steigen in letzter Zeit bei mir an Land. Dann gibt es die kleinen, dienstbaren Mädchen, Asiatinnen meist. Sie werden von ihren bettelarmen Familien in die grossen Städte verkauft, um dort reichen Touristen ihre Männlichkeit zu bestätigen, damit diese, zurückgekehrt in ihren eigenen armseligen Alltag, vor den anderen männlichen Zombies damit prahlen können.

Dann wären da noch die Strassenkinder, überall in den grossen Stadtwüsten zu finden, Abfall und Ausschuss vom ersten Atemzug an, den sie der schmutzigen Luft um sie herum abringen. Damit aber noch nicht genug. Da sind noch die Kinder, die zu Sklavenarbeit gezwungen und ausgebeutet werden, und die Kinder, deren Lebensraum durch ständige Kämpfe, Bürger-und sonstige Kriege verwüstet sind. Die meisten von ihnen kommen zu mir, weil sie ganz einfach verhungern, oder durch den ständigen Hunger so geschwächt sind, dass sie jeder Krankheit erliegen. Ich sage dir, da gibt es Greuel in allen Abstufungen. Ich kann dir gar nicht alles aufzählen. Man glaubt es ja gar nicht, was Kindern alles angetan wird, bei euch da oben! Zuletzt sind da noch die Kinder, die den Lebenstraum ihrer Eltern erfüllen müssen, so wie du. Erschrocken wandte Marie sich der alten Frau zu. "Du meinst also, dass ich auch missbraucht worden bin?" "Ja," antwortete diese, "in gewisser Weise schon, wenn du auch nicht so tief verwundet worden bist, wie diese Kleinen." Sie deutete in Richtung der Kinder, die Maria gerade gewaschen hatte. "Sind sie alle an ihrem Missbrauch gestorben, weil sie hierher zu dir gekommen sind?" "Manche schon, das sind die grausamsten und unappetitlichsten Fälle, darüber kann nicht einmal ich in angemessener Weise sprechen. Manche aber haben ihre Verletzung ihr Leben lang mitgeschleppt und sich niemandem anvertrauen können. Sie sind nach ihrem Tod hierher gekommen, um ihr Kindheits - Ich in meineHände zu legen. In einigen ist auch nur ein Teil ihrer selbst gestorben, ein ganz wichtiger Teil, der nämlich, der fühlt und liebt und auch Liebe empfangen kann. Sie haben ihn zu mir gesandt, während sie da 'oben'," sie deutete mit einer unbestimmten Geste in die Luft, "recht und schlecht weiter existieren, so wie du übrigens auch." "Ich bin gar nicht richtig tot, meinst du das? Von mir soll auch nur ein Teil hier sein? Wieso habe ich dann einen Körper, kann fühlen, hören und das alles?" "Das ist eben so, das wirst du irgendwann verstehen. Aber höre, das ist nämlich ganz wichtig, und du musst dir das gut merken!

Diese Kinder nun, sie schämen sich und fühlen sich beschmutzt und schuldig. Nicht genug damit, dass ihnen diese Abscheulichkeiten angetan worden sind, nein, die armen Geschöpfe glauben auch noch, selbst irgend eine Art Schuld daran zu tragen! Stell dir nur diesen schreienden Wahnsinn vor! Deshalb auch die ganze Waschprozedur. In Wirklichkeit kann der Leib, mit dem sie sich hier aufhalten, natürlich niemals beschmutzt werden. Aber die Gedanken formen die Wirklichkeit, immer und in jedem Fall, deshalb die schmutzigen Flecken auf den kleinen, armen Körpern." Eindringlich sah Frau Holle Maria in die Augen, wie, um sich zu versichern, dass diese auch alles genau verstanden hatte. "Ich glaube, ich verstehe", sagte Maria versonnen, "wir helfen damit ihrer Vorstellung von sich selbst ein wenig auf die Beine, nicht wahr?" "Kluges Mädchen!" Der zufriedene Ton in Holles Stimme war nicht zu überhören.

Die Zeit verging. Es ist mir bewusst, dass ich damit einen Begriff verwende, der dort keine Bedeutung hat, oder jedenfalls eine andere als hier, aber, sosehr ich auch in meinem Wortschatz krame, ich finde keinen anderen. Also, 'die Zeit verging' ist ein Synonym für: Maria hatte das Gefühl, schon unendlich lange in Frau Holles Reich zu sein. Seltsam war hier auch, dass es keinerlei Jahreszeiten zu geben schien. Auch die Sonne war niemals zu sehen gewesen, obwohl ein helles, warmes Licht die ewig sommerliche Landschaft erhellte. Die Tage Marias waren erfüllt von der Pflege der vielen Kinder, und täglich kamen neue. Sie stiegen aus dem kleinen Teich an Land und wurden meistens von 'ihrer' Mutter empfangen. Viele aber gingen später anderswo hin, an einen neuen Ort der Andersweltgeographie, der ihnen nunmehr besser entsprach, wenn sich das Loch in ihrer Brust geschlossen hatte und die dunklen Flecken ihrer Seele endlich abgewaschen waren. Ihre Gestalt veränderte sich dann zu dem, was sie im Reich der Mütter geworden waren, zum Erwachsenen. Das waren die Einen.
Die Anderen entschlossen sich, es wieder mit dem irdischen Leben zu versuchen. Frau Holle hatte ihre Aufgabe gut an ihnen erfüllt und leistete ihnen nun Starthilfe, indem sie sie in den Teich hineinführte, aus dem sie sie einmal, verletzt und bedürftig, geholt hatte. Manche brauchten freilich einen kleinen Schubs. Das waren die Zaghafteren. Aber alle wussten, am anderen Ende würde wieder eine Mutter sie empfangen, vielleicht nicht so perfekt wie die, aus deren Reich sie gerade kamen, aber mit den besten Vorsätzen. Die Kinder, die gerade hier waren, spielten gerne eines ihrer Lieblingsspiele. Es hiess Schnee Machen und ging so: immer zwei und zwei fassten eine der grossen und dicken Tuchenten, von denen Frau Holle anscheinend unzählige besass und schüttelten sie, dass die Federn nur so flogen. Leider durfte man dieses Spiel nur spielen, wenn auf der Erde Winter zu sein hatte. Wenn man Kinder kennt, weiss man, dass es geradezu ein Zeichen von seelischer Gesundheit bei ihnen ist, dass sie die Vorschriften der Erwachsenen manchmal umgehen. Daher schmunzelte Frau Holle nur gütig, wenn sie bemerkte, dass die Betten auch zwischendurch manchmal ein wenig geschüttelt wurden und ein paar unvorschriftsmässige Federn flogen. Also bitte, wundert Euch nicht zu sehr über zeitweise Wetterkapriolen! Ihr könnt Euch dann damit trösten, dass wieder ein paar von den kleinen Schützlingen Frau Holles ihrer Gesundung entgegengehen.

Im Garten, gleich beim Häuschen Frau Holles, stand ein grosser, gemauerter Backofen. Es gehörte zu Marias täglichen Pflichten, ihn tüchtig zu heizen und die Brote, die Holle jeden Tag aufs Neue bereitete, einzuschieben. Es war nicht leicht und bedurfte schon einigen Geschickes, die Laibe auch wieder im richtigen Augenblick herauszuholen. Denn wenn sie verbrannten und ungeniessbar wurden, dann gab es an diesem Tag kein Brot für Frau Holles kleine Gäste. Was das für diejenigen unter ihnen hiess, die in ihrem kurzen Leben so viel Hunger hatten leiden müssen, kann sich jeder an fünf Fingern abzählen! War das Brot aber gut gelungen, dann nährte es, wie keine andere Speise sonst, Leib und Seele gleichermassen. Ihr könnt mir also glauben, Maria hatte alle Hände voll zu tun, und sie war wirklich todmüde, wenn sie am Ende des Tages in ihr weiches Bett sank. Dennoch, diese Müdigkeit war süss und befriedigend, denn sie rührte daher, dass das Mädchen seine Arbeit aus Liebe und Fürsorge für andere tat.

Trotzdem, manchmal überkam sie immer drängender das Gefühl, sich an irgend etwas erinnern zu müssen, so wie damals, beim Säubern der Kinder. Da war dieser Liedfetzen, er wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen. Manchmal ertappte sie sich dabei, wie sie, ohne sich dessen bewusst zu sein, immer wieder Dasselbe vor sich hinsang. Manchmal traf sie ein nachdenklich forschender Blick Frau Holles. "Einen Fünfer für ihre Gedanken", dachte Maria dann manchmal. Auch, wenn sie, wie jeden Tag, der Alten beim Reinigen der Kinder half, wenn sie die kleinen Körper mit der Lotion salbte, glaubte sie immer wieder, deren Duft von irgendwoher zu kennen. Immer dringlicher wurde das Gefühl: jetzt gleich, nur ein wenig fehlte noch, dann müsste ihr das Geheimnis offenbar werden! Sie musste Frau Holle fragen, vielleicht wusste sie, was das zu bedeuten hatte. Doch diese, darauf angesprochen, war ihr auch keine Hilfe. Sie hüllte sich in geheimnisvolles Schweigen und sagte höchstens: "Diese Aufgabe musst du alleine lösen, " oder "diesen Weg musst du selbst finden." "Sehr aufschlussreich, danke," pflegte Maria dann spitz zu erwidern. Das brachte sie auch nicht weiter.

Helene wirkte von Tag zu Tag mehr erschöpft. Gregor und Anna hätten sie gerne mehr unterstützt. Sie versuchten beide, Helene davon zu überzeugen, sich öfter einmal von ihnen am Krankenbett ablösen zu lassen. Immerhin lag Maria schon wochenlang im Koma. Helenes Reserven waren fast erschöpft, und wer weiss, wie lange diese Situation noch dauern würde! Jedoch, die Mutter wies alle diesbezüglichen Angebote zurück.
Es war und blieb ihre alleinige Aufgabe, sie hatte eine Schuld abzutragen, wie sie meinte. Mit der selben, verbissenen Hartnäckigkeit, mit welcher sie zuvor die Karriere ihrer Töchter gefördert hatte, sass sie nun Tag für Tag am Bett Marias und liess nichts unversucht, ihr Kind zurückzuholen aus dem Schattenreich des Todes. So war sie selbst im Begriff, zum Schatten zu werden, ohne es wahrzunehmen. Eine tödliche, winterliche Starre breitete sich über das kleine Reich der Familie aus. Wo zuerst alles nach Tauwetter der Gefühle ausgesehen hatte, drohte nun ein eisiger Hauch das neue Blühen zu ersticken. Alle Bemühungen waren fruchtlos geblieben, wie es schien, konnte Helene ihre Tochter nicht erreichen. Zuletzt erinnerte sie sich noch des kleinen, krähenden Dinges aus Marias Kinderzeit, des Hahnenweckers. Vielleicht hätte sie damit Erfolg. Wenn nicht, dann konnte es wohl nicht schaden, ein Weiteres zu versuchen.

Als Helene ins Krankenzimmer trat, in dem immer noch eine zarte Nuance des Maiglöckchenparfums die medizinischen Gerüche überlagerte, meinte sie, noch einen anderen Duft wahrzunehmen, so irgendwie säuerlich-süss, wie nach frischen Äpfeln. Und noch etwas Anderes,.......frischgebackenes Brot!.....Konnte das möglich sein? Gleich darauf kam sie zur Überzeugung, dass sie wohl so übermüdet sein müsse, dass sogar ihr Geruchssinn ihr dumme Streiche spielte. Nichtsdestotrotz war der Duft immer noch da. "Schwester, was riecht denn da so, irgendwie nach Äpfeln und Brot, merken Sie das auch?" fragte sie die eben eingetretene Pflegerin. Ein mitfühlender Blick der Schwester war die Antwort. Die arme Haut, das alles hatte sie wohl schon sehr mitgenommen!
Gegen Mittag dann, als etwas Ruhe im Krankenhausablauf eingekehrt war und nur mehr das Piepsen der Monitore die Stille des Raumes in gleichmässige Stücke aus Zeit zerhackte, nickte Helene am Bett ihres Kindes ein. Die Anspannung der letzten Tage forderte ihren Tribut. Zuletzt war ein friedliches Gefühl des Einverstandenseins über sie gekommen. Sie erkannte mit einem Mal, dass sie nichts mehr tun, nichts mehr beeinflussen und lenken konnte. Es würde geschehen, was immer geschehen musste. Sie, die ihr Leben und das ihrer Lieben gefördert und gemanagt hatte, so lange sie sich erinnern konnte, gab sich hin an eine Macht, deren Wege ihr nicht einsehbar waren. Das erste Mal seit vielen Tagen umhüllte sie die weiche und samtene Ruhe eines erholsamen Schlafes.

Der Geruch nach Äpfeln und Brot wurde stärker. Helene versuchte die Augen zu öffnen, um die Quelle des Geruches zu ergründen, doch ihre Augenlider waren schwer wie Blei. Sie hatte die Empfindung, wunderbar warm und weich dahinzutreiben, gewiegt von einem lebendigen Ozean, während eine sanfte Frauenstimme ein Lied aus fernen Tagen sang. Ihr war so wohl, wie in den Armen ihrer Mutter, einst vor Ewigkeiten. Hier wollte sie bleiben und ausruhen von ihrer Mühsal, ihrem Wollen und Streben. Hier war es gut sein.

Nachdem Maria ihre täglichen Pflichten erfüllt hatte, ging sie gerne noch am Teich spazieren. Seerosen wuchsen hier, und Binsen säumten das flache Ufer. Wieder sang sie das Lied, von dem ihr nicht einfallen wollte, woher sie es kannte. Fast wäre sie über etwas gestolpert, etwas, was nicht hier sein sollte, ein Mensch, ein erwachsener Mensch, eine Frau! Ihr Körper war offenbar von dem leichten Wellengang ans Ufer gespült worden und lag halb im Wasser. Sie hatte die Augen geschlossen und schien zu schlafen. Maria erkannte das Gesicht. "Maaammaaa!" Ihr Schrei hallte durch Frau Holles Reich wie der Ton einer riesigen Glocke und liess seine Bewohner erstaunt aufhorchen. "Wie konnte ich nur so lange vergessen, wohin ich gehöre!"

Mit einem Schlag war alles wieder da, ihr Leben da 'oben', zog an ihrem inneren Auge vorbei wie ein Film in Zeitraffertempo.
Sie wusste jetzt, woher die rätselhaften Erinnerungsfetzen stammten, das Lied, der Geruch! Aber wie sah ihre Mutter denn nur aus! Ihr Gesicht war so sehr von Kummer und Gram gezeichnet, wie Maria es nie zuvor an ihr wahrgenommen hatte! Oh, arme Mama! Was tat sie denn nur hier? Kein Mensch war je in seiner erwachsenen Gestalt an diese Gestade geraten! Hatte sie sogar hier nach ihr gesucht? Da schlug Helene die Augen auf und sah direkt........in die Augen ihres Kindes. Ja, es war Mariechen! Nur anders, mit einem Ausdruck von Wissen, Verstehen und noch etwas........Verzeihen und Erbarmen. Dieser Blick aus den Augen ihrer Tochter löschte in einem Moment alles aus, die Schuld, das Bedauern, erlöste sie mit seiner Wärme aus Müdigkeit und Starre. Er sprach mit unhörbarer Stimme direkt zu ihrem Herzen: "Sieh her, ich lebe, denn der Tod ist nur ein Traum, und du sollst auch wieder leben!" Helene schloss erneut die Augen und gab sich hin an den Frieden, der sie jetzt erfüllte wie ein lebendiger Fluss. Er trug sie zurück in ihre Welt, die Welt der Lebenden.

Frau Holle wusste schon, als sie Maria kommen sah, dass das Mädchen ihr Lebewohl sagen würde. Dieses Lebewohl sprach aus ihren Augen, ihren Gebärden, ihren Bewegungen, und es war gut und richtig so. "Ich sehe,"sprach sie, "du hast deinen Entschluss getroffen. Nun hat deine Mutter dich endlich doch gefunden, nachdem sie so lange nach dir gesucht hat!" Sprachlos vor Erstaunen sah Maria der Alten ins Gesicht. Dann aber fiel es ihr mit einem Mal wie Schuppen von den Augen. Natürlich, so war es, warum hatte sie das nicht gleich erkannt!" "Nun, mein Kind, jetzt verstehst du, nicht wahr? Alles hier, der Teich, die Äpfel, das Brot im Backofen, das Lied und das Parfum; ja sogar mein Aussehen, waren Botschaften, die deine Mutter an dich ausgesendet hat. An diesem zarten, doch starken Faden hat sie dich festgehalten wie an einer Angelschnur, damit du ihr nicht vollends entgleitest in die Anderwelt, um hier, im Reich der Mütter zu bleiben. Und als das alles nicht genützt hat, kam sie sogar selber hierher, um dich zu holen, die tapfere Frau. Ich meine, sie verdient, nein, ihr alle verdient eine zweite Chance. Du, mein Kind, wirst sie ihr und deiner Familie bringen, willst du?" Maria konnte nur nicken, so überwältigt war sie von der Welle aus Zuneigung für ihre Familie, die sie plötzlich überflutete. "Ich habe noch eine Bitte an dich, Maria, sie ist sehr wichtig." Frau Holles Stimme war eindringlich und sehr ernst: " Die Menschen müssen endlich begreifen, dass dies hier keine Reparaturwerkstätte für Seelen ist. Immer schicken sie mir hier herunter, was sie in ihrer schrecklichen Borniertheit und Dummheit angerichtet haben. Sie sind wie Kinder, die ein Spielzeug kaputt machen und es der Mutter geben, dass sie es wieder heil macht. Ihr Menschen könnt aber doch nicht immer Kinder bleiben! Werdet endlich erwachsen und schaut über eure Nasenspitze hinaus! Erkennt doch endlich, dass nur Güte, Liebe und Erbarmen eure Welt am Leben erhalten. Übernehmt endlich die Verantwortung für euch selbst! Wirst du den Menschen da oben das ausrichten, Maria? Es wird aber nicht leicht für dich werden, das sage ich dir gleich. Du hast ein hartes Stück Arbeit vor dir! Aber du sollst nicht ohne Hilfe bleiben. Zum Abschied sollst du von mir eine Gabe erhalten. Bediene dich ihrer mit Herz und Klugheit, dann wird sie dir und allen Anderen zum Guten gereichen." Frau Holle führte Maria zum Ufer des Teiches. Dort umarmte sie das Mädchen noch einmal. Dann bückte sie sich und legte ihre Hand zuerst auf Marias Füsse mit den Worten: "Wo immer du auch hingehst," auf ihr Herz: "was immer du auch fühlst," auf den Mund: ".....und sprichst," auf die Stirn: "......... denkst," die Hände: "....und tust," tu' es in meinem Namen, mit meiner Liebe und meiner Kraft. Sei gesegnet, Goldmarie!" Maria sah sich in lebendig pulsierendes, goldenes Licht getaucht, das auch ihr Inneres erfüllte. Dann nahm Frau Holle sie an der Hand und geleitete sie hinein in den Teich, immer tiefer, bis das Wasser über ihrem Kopf zusammenschlug.

Im selben Augenblick hörte Maria ein lautes, blechernes "Kickerikiiiiiii" und wieder "Kickerikiiiiii" und noch ein letztes Mal"Kickerikiiiii". Nanu, es war wohl Zeit, aufzustehen! Als sie die Augen aufschlug, fand sie sich nicht zurecht. Wo war sie denn jetzt schon wieder! Ihre Mutter war im Sitzen eingeschlafen und lag vornübergebeugt auf dem Bett. Sonst war niemand im Raum. Der Wecker hatte auch ihre Mutter aus dem Schlaf geschreckt. Ihr erster Blick fiel in die weit geöffneten Augen ihrer Tochter, aber ihr Blick schien aus weiter Ferne zurückzukehren. Endlich begriff sie: "Mariechen, meine Goldmarie, sie ist wieder da!" Das Krankenzimmer füllte sich auf diesen Schrei hin mit Personal. Schwestern, Ärzte und Pfleger eilten herbei, Geschäftigkeit brach aus. Das alles berührte Helene nicht. Es lief an ihr ab wie Regen an einer Scheibe. Ihr Kind war zurückgekehrt aus dem Land, von dem die Mutter einen kurzen, flüchtigen Eindruck erhaschen hatte können. Er hatte genügt, um zu ermessen, was ihrer Tochter geschehen war. Es gab zwischen ihnen nichts zu fragen, nichts zu erzählen, beide wussten, was sie wussten.


NACHWORT

Suchtet Ihr heute nach den Eltern Marias, fändet Ihr sie immer noch in dem kleinen Häuschen am Stadtrand. Es fiele Euch sofort auf, ohne dass Ihr lange danach zu suchen brauchtet. Der kleine Garten ist nämlich jetzt etwas weniger gepflegt, hier und da darf sich schon einmal ein wenig sogenanntes Unkraut hervorwagen, und der Rasen ist ein bisschen weniger akkurat geschnitten. Sie nehmen es jetzt damit nicht mehr so ganz genau. Ganz allgemein gesagt, gibt es heute bei ihnen von fast allem ein bisschen weniger: weniger Leistung, weniger Karriere, weniger Stress, aber dafür
viel mehr Lebensfreude.

Gregor hat die dünne Luft am obersten Ende der Karriereleiter nicht zu schnuppern bekommen, weil...siehe oben. Helene hat eine Selbsthilfe-Gruppe für Angehörige komatöser Patienten gegründet und findet darin Befriedigung, anderen in ihrer Situation zu helfen. Die brave Anna hat Sportmedizin studiert und arbeitet an einer Spezialklinik. Inzwischen hat sie ihre Eltern zu glücklichen Grosseltern gemacht. Unsere Goldmarie, ja, einige Zeit brauchte sie schon zur Rehabilitation, so ein Gehirnschlag ist ja kein Schnupfen. Dann aber....Sie holte alles auf, und nach ihrer Matura studierte sie Medizin. Sie wurde Kinderärztin und ist jetzt gerade dabei, eine Ausbildung in Psychotherapie zu machen. Denn ihr eigentliches Gebiet, dem sie sich mit allen Gaben widmet, die Frau Holle ihr geschenkt hat, ist die Seele, sind die Seelen der unschuldigen Kinder, die so wie sie selbst auch, eine zweite Chance im Leben bekommen sollen.

Ja, und damit meine Geschichte auch ein richtiges Märchen wird, endet sie so, wie alle Märchen enden: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

Quelle: E-Mail Zusendung von Merlin und Morgane Märchenerzähler, Märchenzauber - Die Mistel, aus dem Waldviertel, 5. Jänner 2003.