Der Geistermönch auf der Stamser Alm

Schon seit dem vergangenen Sommer waren dem Pater Prior die Veränderungen aufgefallen, die mit dem jungen Frater Cölestin vorgegangen waren. Blass war er in den letzten Monaten geworden und spitz stach seine Nase aus dem beängstigend mageren Gesicht. Nicht nur, dass seine Haut die Farbe einer frischgeschabten Tonsur angenommen hatte, auch sein ganzes Verhalten gab dem Prior Anlass zur Sorge. Frater Cölestin zeigte kaum mehr Appetit, zog sich fast vollständig in geistliche Kontemplationen zurück und schien die Welt um sich kaum mehr wahrzunehmen. Mit einem Seufzer erinnerte sich der Prior an die Professfeier eines Mitbruders, bei der Frater Cölestin noch ausgiebig geschmaust hatte. Wildfleisch, gebratener Kapaun und Indian waren aufgetischt gewesen, gesottene Zungen, Würste, feinstes Obst aus dem Süden, Torten und Kaffee hatten sich die Konventsbrüder des Stiftes nach dem Motto „Gottes Reichtum ist groß und es geziemt sich, ihn zu genießen“ schmecken lassen. Weitum war ja die Klosterküche bekannt dafür, auch in schlechten Zeiten mit reichen Tafeln aufwarten zu können, waren doch der Wildbestand in den weitläufigen Stiftswaldungen und die zum Stift gehörenden Seen und Teiche ein Garant für Gaumenfreuden.

Stamser Alm © Hannes Weinberger

Stamser Alm und Kapelle Mariae Heimsuchung
1748 vollendet, Rokokobau
© Hannes Weinberger

Hätte der Prior des Stamser Klosters das Geheimnis nicht gekannt, das seinem Mitbruder Cölestin das Leben schwer machte, aber dem Beichtgeheimnis unterlag, wäre er in Verkennung der Situation hoch erfreut über die in sich gekehrte, weltabgewandte und scheinbar gottgefällige Art Cölestins gewesen.

In Verantwortung als Beichtvater für seinen schutzbefohlenen jungen Frater zerbrach sich der Prior den Kopf, wie er in seinem Mitbruder wieder die Lebensfreude wecken könnte und gelangte nach vielerlei Überlegungen zum Schluss, Frater Cölestin den Sommer über auf die Stamser Alm in das stiftseigene Sommerfrischhaus zu schicken, damit er in der Ruhe der Bergwelt zu sich zurück finden könne.

Häufig verbrachten Angehörige des Konventes in den Sommermonaten einige Zeit auf der Alm um Forschungen oder künstlerischen Arbeiten nachzugehen, gab es doch in den Reihen der Mönche immer wieder Naturwissenschafter und auch schöpferische Menschen.

Es traf sich, dass eine Gruppe von Holzknechten in den Hochwald musste, denen sich der Frater Cölestin anschließen konnte und die seine wenigen Habseligkeiten trugen, die der Mönch für die nächsten Wochen benötigte. Sehr ernst verabschiedete sich der Prior von Cölestin, nicht ohne gute Ratschläge und auch mit seinem Segen.

Wochen waren vergangen und scheinbar nebensächlich erkundigte sich der Prior beim Alm- und Jagdpersonal nach Frater Cölestin. Beunruhigendes hatte er hören müssen – den Berichten zufolge nahm der junge Mönch am Almgeschehen keinerlei Anteil, sprach kaum ein Wort mit den Sennern und Hirten, sondern verbrachte einen Großteil der Zeit in der Kapelle mit Gebeten und Bußübungen. Auch der Pfistermeister, der auf der Alm nach dem rechten gesehen hatte, wusste nichts anderes zu berichten, jedoch keimte beim Prior immer noch die Hoffnung, dass bis zum Herbst eine Wandlung eintreten würde. Er sollte jedoch eines Besseren belehrt werden.

Kurz nach Michaeli – die Älpler rüsteten sich schon zum Abfahren ins Tal - kam schreckensbleich einer der älteren Hirten mit der Nachricht ins Stift, Frater Cölestin sei an einem Fensterkreuz im oberen Stock des Almhauses erhängt aufgefunden worden und löste damit je nach Naturell Verzweiflung und Trauer oder apathische Niedergeschlagenheit aus. Die Frage nach dem Warum dieser Tat beschäftigte natürlich die Mönche, von denen einige der Meinung waren, der Teufel habe sich des Unglücklichen bemächtigt und ihn zu dieser Tat getrieben, während wiederum andere die Dämonen dieser wilden Berggegend in Verdacht hatten, Frater Cölestin gewaltsam erdrosselt zu haben, um auf diese Weise dem Konvent Schaden beizufügen. Tief betroffen war der Prior, da er als Einziger den wahren Sachverhalt kannte, aber weder darüber sprechen wollte noch konnte.

Der Herbst war ins Land gezogen – die Aufregung im Kloster hatte sich gelegt, aber Betroffenheit und Trauer waren geblieben und langsam sickerten Gerüchte um den Tod Frater Cölestins durch. Aus unglücklicher Liebe sei er ins Kloster gegangen, seine Verlobte im Bayrischen habe einen anderen geheiratet und ihm damit das Herz gebrochen – so hieß es.

Keine Ruhe fand die Seele des armen Cölestin. Seit damals kann man in Vollmondnächten zur Geisterstunde im oberen Stock des Almhauses gangauf und gangab das Tappen von Schritten vernehmen, dazu das halblaute Gemurmel eines Brevierbetenden.

©Hannes Weinberger

Quelle: E-Mail-Zusendung von Hannes Weinberger, 12. Februar 2006.