Das Mädchen das den Esel hält

Von Irene Bosshard

Wie ihr alle wisst, bringt der Nikolaus die feinen Sachen auf dem Rücken eines Esels zu den braven Kindern. Wenn dann der Nikolaus in die warme Stube zu den Familien geht, so bleibt der kleine Esel draussen und muss warten. Da der Esel aber sehr neugierig und aufgeweckt war, passierte es dem Nikolaus öfters, dass er aus dem Haus kam und keinen Esel weit und breit zu sehen war. Das Eselein fühlte sich einsam, ihm war langweilig geworden und es war auf der Suche nach Gesellschaft. Oder ein feiner Duft nach sonnengedörrtem Heu in einer Scheune, eingelagerten Möhren in einem Keller oder nach saftigen Äpfeln waren in des Eseleins empfindsamen Nüstern gestiegen. So machte sich der Nikolaus jeweils seufzend auf die Suche nach seinem pflichtvergessenen Gefährten. Auch das Anbinden half wenig, den bekanntlich sind Esel intelligente Tiere, und unser kleiner Freund hier war ein besonders gelehriges Exemplar. So war es für den Esel ein Leichtes den Knoten sanft zu lösen und davon zu huschen. Der liebe Esel meinte es auf keinen Fall böse, aber so lange Zeit einsam und bocksteif an einem Ort zu stehen war nichts für ihn. Wenn der Nikolaus ihn schalte, so lies er betrübt die flauschigen, langen Ohren hängen, machte ein bekümmertes Gesicht und scharrte traurig mit dem Vorderhuf. Der gutherzige Nikolaus konnte natürlich bei diesem Anblick des Zerknirschten keinen weiteren Groll hegen und alles blieb wie gehabt. Da begab es sich einmal das ein kleines Bettelmädchen, das weder ein Heim für seinen zarten Leib noch ein Zuhause für sein gutes Herz hatte, den kleinen Esel alleine stehen sah. Dieser war fest entschlossen, diesmal den geliebten Nikolaus nicht zu enttäuschen. Krampfhaft blickte das Grautier auf den Boden und versuchte die Einsamkeit und die Langeweile zu ignorieren. Das Mädchen kam herzu, streichelte und herzte den süssen Esel und so verging die Zeit bis zur Rückkehr des Nikolauses wie im Fluge. Das Bettelmädchen aber versteckte sich rasch, da es grosse Scheu vor dem weissen Bart und der roten Kutte hatte. Versteckt folgte es den Zweien und jedes Mal wenn der Nikolaus in einem Haus verschwand, huschte das Mädchen herzu und vertrieb dem Eselchen die Zeit. So brauchte der Nikolaus nie mehr nach seinem Eselchen zu suchen. Da es jedoch jedes Mal verschwand, bevor der Nikolaus auf die Strasse trat, merkte er gar nicht dass er eine kleine Wohltäterin hatte. Wohl bemerkte er dass der kleine Esel jetzt immer brav zur Stelle war, dachte sich jedoch seine ermahnenden Worte seien endlich auf fruchtbaren Boden gefallen. So tat das kleine Bettelmädchen Gutes ohne das es der Nikolaus bemerkte. Aber da alles was wir tun, ob gut oder schlecht eines Tages zu uns zurück kommt, war es auch so dass wenig später das kleine Bettelmädchen ein liebevolles Zuhause fand. In Gedanken und im Herzen blieb es jedoch dem Eselchen verbunden und so wartete das Eselchen seit jener Zeit meistens brav und geduldig bis der Nikolaus seine Besuche in den warmen Stuben beendet hatte.

© E-Mail-Zusendung von Irene Bosshard aus der Schweiz, 10. März 2005, die dieses Märchen um Weihnachten 2004 geschrieben hat.
© Irene Bosshard