Monika (Ein Märchen)

Sie hatte die Zeremonie des täglichen Morgens hinter sich gebracht: Die Familie war außer Haus! Von der Knochenarbeit des Aufweckens, Anziehens und der Frühstückbereitung bis zur Katastrophenbereinigung. Zwei Kinder machen nun mal Flecken, mindestens eine volle Tasse kippt um und fette Finger auf der frischen Bluse sind Alltag. Der Ehemann wurde sehr früh abgeholt, aber dieser Nachwuchs! Dem Einen fehlt noch schnell ein Aufgabenstückchen, der Anderen ein Buch und der linke Schuh. Das Bad sieht aus wie der Atlantikstrand nach Flut, der Frühstückstisch wie ein Schlachtfeld. Nie wieder das Damasttischtuch, wenigstens nicht ohne Schutzdecke! Man lernt nie aus! Das Wachs von der Kerze wird bleiben. Aber IHM zuliebe wollte sie etwas Festlichkeit in den Morgen bringen! Ist es doch der Hochzeitstag, der neunte, wie die roten Rosen in der guten Vase künden. Er hat ihn nicht vergessen, den Tag. Mit dankbaren Augen wurde ein kleines Päckchen überreicht, sie würde es dann nach der Hektik öffnen, jetzt war wahrlich keine Zeit dazu. Der Filius schmiert noch schnell mit dem Marmeladenbrot über die neue Tapete, der Tochter flutscht die Seife aus den eiligen Fingern durch das Bad in den Vorraum. Ein Gurgeln und Plätschern, es rinnt und tropft. Endlich sitzen beide im Vorraum, finden im Chaos des Morgens Schuhe und Schultaschen, streiten noch kurz mit- und gegeneinander, sprühen sich noch wilde Blicke zu, ‘Auf Wiedersehn’ - und die Tür zittert in Schloss und Rahmen.

Dann war’s vollbracht. Himmlische Stille breitet sich aus, Monika auch. Wie schon oft steht ihr alles bis über den Haaransatz, Mann, Kinder, Durcheinander und Schmutz. Gerne würde sie alles . . .! Aber sie lässt alles, wie es ist und holt Zeitung und Kaffee an ihrem Lieblingsplatz am Sofa bei der Fensternische. Komisch, der Kaffee ist kalt. Sie eilt noch schnell zur Maschine - aber die heizt nicht mehr, obwohl nicht abgeschaltet wurde. Dennoch drückt sie auf die Aus-Taste und stellt die Hausfrauensendung per Radio ein. Kein Ton aus dem Gerät - „Sicherung, klar.“ Auf zum Kästchen im Vorraum - alles in Ordnung. „Komisch, Gerät kaputt, wird teuer.“

Dann kommt das Hausfrauenviertelstündchen - nicht einmal das Telefon schnattert. Anschließend räumt sie seufzend den Stall - wie sie es nennt - wieder zur Wohnung um. Der Geschirrspüler ist voll, ein Druck und - nichts. „Zum Teufel“ und so. Gereizt beginnt sie händisch abzuwaschen, dreht das Wasser auf und - nichts. Jetzt beginnt etwas langsam in ihr zu kochen. Monika fegt durch die Wohnung und räumt auf, ordnet, was zu ordnen ist und zerrt den Staubsauger aus einem Versteck, steckt ein, schaltet an und - nichts. Jetzt überlegt sie logisch und setzt sich gezwungen neben das Telefontischchen. Die Nummern befinden sich fein säuberlich und geordnet im Verzeichnis - sein Werk - Gott sei Dank. Installateur, unter I, Elektriker, unter E, los geht`s. Sie hebt den Hörer ab, wählt und - nichts. Das gibt`s doch nicht! Schnell zieht sie sich an und geht zum Lift, Stock VI, zu ihrer Freundin. Der Lift macht keinen Mucks, sogar die Tür klemmt etwas. Sie ist froh, als sie wieder im Stiegenhaus steht und klettert wütend die Stiegen hoch, 124 Stufen zählt Monika, um sich zu beruhigen. Dann drückt sie den Klingelknopf und - nichts. Entnervt klopft sie ziemlich heftig an der Tür. - „Hallo, lasst doch meine Pforte ganz! Ach du bist es! Geht meine Klingel nicht?“ Ihre Freundin probiert, ein dezenter Gong erfüllt die Wohneinheit. - „Kannst du nicht läuten? Na, komm herein. Wo brennt es?“ Monika erzählt von ihrem Unglück und wird natürlich zum Telefon gebeten. „Natürlich kannst du von mir aus telefonieren! Aber dass der Lift nicht funktioniert! Habe ihn eben benützt!“ Monika bemerkt, dass sie die Telefonnummern vergessen hat, Lift geht noch immer nicht, 124 Stufen abwärts - aber sie hat den Wohnungsschlüssel in der Aufregung vergessen. 124 Stufen nach oben. „Ich brauch’ auch einen Aufsperrdienst, weil ...usw.“. Ihre Freundin - Gloria heißt sie - gibt glucksende Lachlaute von sich, ‘wie ein Fisch bei Niedrigwasser’. „Da hast du die Nummer von meinem Schlosswart, ist mir auch schon passiert. “Die Gepeinigte, jetzt schon Hochrot als Gesichtsfarbe tragend, geht zum Telefon, hebt den Hörer ab, wählt und - nichts. Ihr entsetzter Gesichtsausdruck alarmiert Gloria. „Hände weg“ Greif’ nichts an bei mir! Ich mach’ das für dich!“ Sie schlendert lässig zum Apparat, hebt ab, wählt. „Na also, alles in Ordnung!“ Ihr Installateur und Elektriker bekommen ebenfalls gleich Aufträge und Monika humpelt wieder langsam nach unten, 124 Stufen lang.

Die Handwerker kommen fast gleichzeitig an. Der Schlossfachmann tippt an die Klinke. „Aber es ist ja offen, gnädige Frau, die Türe war ja nur angelehnt! Besser schauen, Madame. Die Rechnung kommt per Post!“ Der Installateur verschwindet gleich in der Küche - Wasser rinnt; auch im Bad. „Besser schauen, Madame, die Rechnung kommt per Post!“ Natürlich funktionieren auch alle Elektrogeräte. „Besser schauen, gnädige Frau! Die Rechnung kommt per Post!“

Gloria war mit dem normal funktionierenden Lift schauen gekommen und ein grelles Gelächter der Schadenfreude weckte Monika aus ihrer Erstarrung. „Setz’ dich nieder, du technisches Wunder, ich koche für uns Kaffee!“ Dann redete Gloria derbe (lustige) Anzüglichkeiten und warf auch gleich den Geschirrspüler an. Willig tat dieser seine Arbeit, während sie ihre Freundin mit endlosem Geplapper entnervte. Der Kaffee tat beiden gut und die Dauerrednerin verschwand endlich.

Monika fegt nun durch die Wohnung, um das Versäumte einzuholen. Die Kinderzimmer sind schnell in Ordnung gebracht, jetzt fehlt noch der Feinschliff, Wäsche in die Waschmaschine, eingeschaltet und - nichts. Auch der Staubsauger gibt keinen Ton von sich und das Telefon ist tot. Aber der Geschirrspüler ist fertig. Sie öffnet ihn und ein Schwall Wasser flutet über den Fußboden. Weinend beseitigt die verzweifelte Frau die Bescherung und ist beschäftigt, bis die Kinder aus der Schule kommen. Das Essen! Sie hatte glatt darauf vergessen!

„Was ist los, Mutti! Du weinst ja!“ --- „Ist nicht schlimm, aber ihr dürft den Pizzadienst anrufen und euch bestellen, was ihr wollt!“ Mit Hurra macht der Nachwuchs von diesem Angebot Gebrauch und nach einer halben Stunde saßen sie um den gedeckten Tisch und brachten ihren gesunden Appetit zur Geltung. Mutti würgte an den Bissen, sie mochte Pizza nicht. Dann trug die Tochter das Geschirr in die Küche. - „Na da schaut’s aus! Wenn ich das machen würde! Soll ich dir abwaschen!“ Würgend kam ein ‘Bitte’ aus dem Hals Monikas und blitzartig waren Teller und Bestecke eingeräumt und der Automat nahm seine Arbeit auf. „Zum Hochzeitstag wasche ich für dich die Wäsche! Hui, schon gefüllt und hergerichtet! Nur mehr ein Knopfdruck! Brave Mutti!“ Wie Balsam tropften diese Worte in ihre Seele. Sie hasste es, auf andere angewiesen zu sein. Es war schwer, immer ‘BITTE’ sagen zu müssen.

Nachdenklich saß dann Monika bei ihrem heißen Tee, den der Herr Sohn für sie gerichtet hatte. Sogar das Wasser zum Händewaschen ließ sie sich auf- und zudrehen. Sie schickte die Kinder einkaufen und schnitt die Jausenbrote mit der Hand, musste deshalb einige Kritik einstecken. Aber die Schneidemaschine ließ sich von ihr nicht einmal aus dem Behälter ziehen. Die täglichen Kleiderreparaturen wurden heute händisch vorgenommen und einige Stichwunden zeugten von der ungewohnten Tätigkeit. Aber sie gab nicht auf. Die Kinder betrachteten sie verstört und verdammt mitleidig - fast so wie sonst den Vater.

Endlich wurde ihr Mann nach Hause gebracht. Vorsichtig schob sie den Rollstuhl in das Wohnzimmer und half ihm in seinen Sessel, rückte die Kissen zurecht, hob zärtlich seine Beine auf den Stützschemel. Er war den ganzen Tag im Rehabilitationszentrum gewesen und nun müder, als wenn er sonst an seinen Schreibtisch gekettet war. Ein Betrunkener hatte ihn vor vier Jahren mit dem Auto am Gehsteig erfasst und eine lebenslängliche Querschnittlähmung verursacht. Er arbeitete mit Gedanken und Einfällen, seine Arme und Hände halfen dabei. Oft war es lästig, dass er auf Andere angewiesen war. Es war schwer, immer ‘BITTE’ sagen zu müssen. Aber er gab nicht auf. Heute bereitete er das Abendmahl und bügelte sogar. Sie half ihm so gerne wie noch nie. Immer wieder schmiegte sie sich ganz eng an ihn und merkte wieder, dass Verstehen der einzige Weg zur Liebe ist.

Quelle: E-Mail-Zusendung von Heinz Benzenstadler, 15. August 2005