NOCH EIN MÄRCHEN VOM FROSCHKÖNIG
Noch ehe die Teichrosenblätter sich aus
dem winterklaren Wasser heraufrollen an die Oberfläche, kommen die
Frösche. Immer kehren sie zum Laichen dahin zurück, wo sie selbst
einst entstanden sind, wenn nicht der Mensch sich herausnimmt, Jungfrösche
an einem weit entfernten See oder Teich oder Fluss einzusammeln und in
seinen Garten zu tragen. Aber natürlich kommen die Urahnen aller
Gartenteich - Frosch - Populationen von irgendwo daher.
Immer sind es zuerst
nur zwei oder drei oder vier Frösche, die ihre Köpfchen aus
dem noch märzkalten Wasser heben. Der Mensch, der seinen Garten durchstreift
und vorfrühlingshafte Veränderungen nach langer Winterstarre
der Natur sucht, nimmt sie nur wahr, wenn er genau hinsieht. Aber er sieht
so genau hin, wie er es vermag, denn er hat ja den Gang durch seinen Garten
angetreten, um Neues zu entdecken.
Am meisten hat immer
meine Schwester gesehen. Die Schneeglöckchen hatte sie längst
schon entdeckt, als sie nichts als kleine grüne Punkte waren, Krokusse
zeigten sich ihr deutlich, vielleicht schon Spitzen von Tulpen und Osterglocken,
die sich von unten durch das liegen gebliebene Laub durchbohrt hatten.
Und wenn der Mensch genau horcht, vernimmt er leises Gequake. Auch das
hörte meine Schwester immer zuerst. Es wird lauter, je mehr Frösche
auftauchen und ihre weißen Kehlsäcke aufblasen. Dann sieht
der beobachtende Mensch viele von ihnen das Tier mit den zwei Rücken
bilden und weiß: Sehr bald wird er die ersten Klumpen Laich finden,
Ballen von zusammenhängenden Gallertkugeln, einigen Hunderten, mit
jeweils genau in der Mitte einem kleinen schwarzen Punkt. Für die
Frösche war's das schon. Sie treiben keinerlei Brutpflege und wandern
bald wieder ab. Nur die Jährlinge tauchen dann und wann auf, etwa
zwei Zentimeter groß. Sie sind noch in der Nähe geblieben.
Die schwarzen Punkte
in den Gallertkugeln verändern sich schnell, wachsen, krümmen
sich, bilden die Andeutung eines Kopfes aus und einen Schwanz. Nach weniger
als drei Wochen beginnt das Gallert sich aufzulösen, und in seiner
Mitte sammelt sich ein schwarzes Gewimmel von Kaulquappen. Doch nicht
lange, dann rudert jede Quappe allein durchs Wasser.
Auf der Oberfläche des Wassers liegen inzwischen die ersten Teichrosenblätter,
von so reinem Grün, wie eine frisch aus der Schale gesprungene Kastanie
ein reines Braun zeigt. Noch gibt es keine Läuse und keine verrottenden
gelben Stellen an den Blättern, und die Spitzen der ersten Knospen
sind zu erkennen und wachsen zur Wasseroberfläche herauf. Da werden
sie dann wächsern weiß oder rosa oder rot liegen wie Kunstblumen
und ihre Blätter nur entfalten, wenn sie die Sonne aufnehmen können.
Die meisten Kaulquappen erreichen nicht einmal das Stadium, in dem ihnen
die Hinterbeine wachsen. Selbst wenn sie nicht von Fischen verschluckt
werden oder von fischenden Reihern oder manchmal von durchreisenden fischenden
Störchen, überleben sie nicht, und ihre winzigen Leichen sinken
auf den Grund des Teiches. Manche stranden auch in kleinen Wassermulden
auf den Teichrosenblättern, und der Gartenteichfreund kann sie retten
oder es lassen und sich sagen, dass es ihrer Tausende ja ohnehin nach
der Ökonomie der Natur nur gibt, weil wenige das Erwachsenenalter
der Frösche erreichen werden.
Die sind unter denen zu finden, die es schaffen, das Wasser als alleiniges
Lebenselement zu verlassen. Sie haben dann ihren Schwanz abgeworfen und
hüpfen auf vier Beinen über den nassen Rasen. Auch in diesem
Stadium ist ihr Leben alles andere als sicher. Der Rasenmäher kann
sie erfassen oder wiederum der Reiher, der sich beuteträchtige Plätze
gut merkt. Welcher Jungfrosch aber seinen ersten Frühling und Sommer
und Herbst überlebt und dann noch einen sicheren Platz zum Überwintern
findet, der hat gute Chancen, wegzuwandern, nicht allzu weit zuerst, und
wiederzukommen und eines Tages als ausgewachsener Frosch auf einem Teichrosenblatt
zu sitzen.
So etwa spielt sich das Leben der Gartenteichfrösche offensichtlich
ab. So kann es der aufmerksame Mensch beobachten. Aber die Frösche
haben noch ein geheimeres Leben, wie die Märchenerzähler immer
wussten.
Davon habe ich schon als Kind etwas erfahren. Ein wenig kann es ahnen,
wer sich einmal mit dem Gesicht aufs Wasser eines Teiches legt. Der sieht
nicht nur die Wasserläufer auf der Oberfläche und die Wasserschnecken,
die unter ihr hängen, sondern auch die Käfer, die mit froschähnlichen
Bewegungen im Wasser schwimmen, er sieht eine ganze Unter - Wasser - Wunder
- Welt. Wenn aber ein Kind, das eine besondere Botschaft erhalten hat,
den Kopf so lange ins Wasser getaucht hält, bis es glaubt, es nicht
mehr aushalten zu können, dann kann es zum Unter - Wasser - Atmer
werden und kann mit den Tieren und Pflanzen sprechen. Aber das gelingt
nur, wenn es das glaubt, weil ein anderes Kind ihm das gesagt hat.
Nicht alle Frösche wandern nach dem Laichen wieder ab, sondern manchmal
bleibt einer zurück. Wer da bleibt, Frosch oder Fröschin, hat
sich entschieden, dass er ein Froschkönig werden will oder sie eine
Froschkönigin, und das ganze Köpfchen glänzt dann golden.
Sehen kann das aber nur das Kind, das darauf vertraut hat, es werde im
Wasser atmen können. Diese Fähigkeit kann es sein Leben lang
behalten, kann sie aber nur ausüben, wenn es allein ist. Noch als
Kind muss es einem anderen Kind das Geheimnis weitersagen und nur einem,
und es darf das erst dann tun, wenn es zwölf Jahre alt geworden ist.
Wenn es sich daran nicht hält, so verliert es die Gabe, im Wasser
zu atmen und die Sprache der Tiere und der Pflanzen zu verstehen und den
Froschkönig zu sehen und mehr noch: überhaupt anderes zu sehen
als die Oberfläche der Dinge. Doch gibt es in der Nähe fast
aller Laichplätze der Frösche Kinder, die ihre Sprache verstehen,
und auch Erwachsene. Die Kinder haben es natürlich leichter damit
als die Erwachsenen, denn sie können noch an so etwas glauben wie:
Du wirst im Wasser atmen können und die Sprachen der Natur verstehen
und den Froschkönig sehen. Einfach ist das freilich auch für
die Kinder nicht. Beide, Kinder und Erwachsene, dürfen aber nur miteinander
darüber sprechen, also mit den anderen, die in das Geheimnis eingeweiht
sind, und mit dem einen oder der einen, dem sie es weitersagen. Sie erkennen
sich an einem winzigen goldenen Fleck im rechten Auge.
Mir hatte es ein Nachbarsjunge gesagt, ein Raubein, das ich vom Kindergarten
her kannte und dem ich deshalb zuerst solche Märchenverheißung
überhaupt nicht glauben wollte. Aber über den Fleck in seinem
Auge hatte ich mich schon eine Weile gewundert, und auf dieses Zeichen
hin wollte ich sie doch prüfen, diese seltsame Verheißung.
Zum Glück hieß ja die Vorschrift, dass ich allein sein sollte
dabei. Ich stellte mir vor, wie er sonst mich auslachen würde, Marco
das Raubein, wenn ich mit Mühe den Atem anhielte und am Ende doch
außerhalb des Wassers weiteratmen müsste, und wie er dann überall
herumerzählen würde, was für eine dumme Märchenpute
ich wäre und wie ich auf sein blödes Gerede hereingefallen sei.
Damals war ich elf.
Ich legte mich in der beginnenden Dämmerung eines Abends zu Anfang
April an unseren Gartenteich, tauchte vorsichtig den Kopf ins Wasser,
hielt die Luft an und hoffte nur, dass niemand mich sah, vor allem nicht
die neugierige Nachbarin zur Linken. Doch längst ehe der erwartete
Erstickungsanfall sich einstellte, atmete ich ruhig im Wasser, das sich
gar nicht mehr kalt anfühlte, konnte die Augen offen halten und sah,
dass ein Froschkönig den ganzen Teich mit goldenen Strahlen erhellte,
die von seinem Kopf ausgingen, und ich wusste, dass einer mich getroffen
hatte und dass ich nun einen kleinen goldenen Fleck im rechten Auge trug.
"Sei willkommen", sagte der Froschkönig, "sei willkommen
unter denen, die sehen und die hören können und die Sprachen
der Natur verstehen. Wenn du diese Gabe so weitergibst, wie du sie bekommen
hast, wirst du sie lebenslang behalten. Das weißt du ja schon. Nun
aber frage mich, was du noch wissen möchtest."
"Warum", fragte ich, "gibt es dich überhaupt, einen
Froschkönig?"
"Das zu beantworten ist nicht schwer und doch sehr schwer. Was leicht
zu erklären ist, das ist dies: Wenn im Frühjahr alle Frösche
zusammengekommen sind, die von einem Laichplatz stammen, suchen sie eine
oder einen, der auf die Brut aufpasst, einen König. Es stimmt nämlich
nicht, dass wir uns nicht um sie kümmern. Wer Froschkönig wird
oder Froschkönigin, der bekommt den goldenen Glanz auf dem Kopf,
den du jetzt an mir sehen kannst und den nur wenige Menschenkinder sehen
dürfen, und damit kann er Tiere blenden, die von außen im Wasser
Beute suchen, Reiher zum Beispiel. Bei Fischen allerdings wirkt dies Mittel
nicht, weil sie immer im Wasser sind, so wie es auch die Kaulquappen aus
demselben Grund nicht schützen kann. Schützen kann es nur die
ganz jungen Frösche, die sich anschicken, das Wasser zu verlassen.
Ihnen beleuchten wir den Weg hinaus. Doch gibt es nicht in jedem Jahr
in jedem Teich einen Froschkönig.
Denn nachdem alle jungen Frösche abgewandert sind, auch wenn sie
ja zunächst noch in der Nähe bleiben, müssen wir unser
Leben aufs Spiel setzen. Und das ist das, was schwer zu erklären
ist. Diese Bedingung erfahren wir aber von einem Froschkönig, der
von einem anderen Teich kommt. Jeder Frosch kann sich also entscheiden,
ob er Froschkönig werden will oder nicht.
Im Allgemeinen wissen die Tiere und Pflanzen ja nicht, dass sie sterben
müssen. Es gibt aber unter allen Tierarten immer einige einzelne,
die wissen davon. Bei den Fröschen erhalten diese Gabe die, die sich
entschließen, König oder Königin zu werden, und im gleichen
Augenblick bekommen zu diesem Wissen den goldenen Glanz. Und manchen von
uns gelingt es, einigen Menschen zu sagen, dass das Sterben, von dem sie
wissen und das sie bisher gefürchtet haben, zum Leben gehört
und dass sie es nicht fürchten müssen. Diese Menschen dürfen
dann zwar niemandem sagen, woher sie das Wissen haben, aber sie erlangen
eine Gelassenheit, die sie weitergeben an andere Menschen. Und so versuchen
wir ihnen zu helfen, wir, die Froschkönige, die schwerste Last zu
tragen, die das Bewusstsein ihnen auferlegt. Wir müssen dazu einen
erwachsenen Menschen auf uns aufmerksam machen - nicht das Kind, das unsere
Sprache verstehen kann, denn es weiß ja schon alles -, und dieser
Mensch bestimmt dann über unser Leben, und wir, wenn er es zulässt,
über seins."
"Das verstehe ich nicht. Wie soll denn das gehen?
Der Froschkönig kam jetzt aus dem Teich heraus, ehe er weitersprach,
und setzte sich auf einen flachen Stein. Ich trocknete mein Gesicht ein
wenig mit den Händen und legte mich ihm gegenüber bäuchlings
ins Gras.
"Nun", fuhr er fort, "du kanntest das Märchen vom
Froschkönig. Sonst wärest du gar nicht zu mir an den Teich gekommen,
nachdem der wilde Junge dir etwas so Sonderbares erzählt hat: dass
es uns geben sollte. Jemand hat dir das Märchen schon früher
erzählt, als du noch kleiner warst. Viele Erwachsene kennen es, aber
sie glauben es nicht. Ich aber möchte, dass einige wenige, Menschen
oder Menschinnen, es glauben, und dass ich ihnen etwas von dem einfachen
Vertrauen geben kann, das die Wesen der Natur darin haben, es sei mit
ihrem Leben schon richtig.
Ich hüpfe also einem Menschen zum Beispiel auf die Hand oder auf
den Fuß, wenn er barfuß ist; oder sogar, wenn er im Gras liegt
und wenn ich ganz kess bin, auf den Bauch oder in den Nacken. Wahrscheinlich
erschrickt er sich, weil ich kalt und nass bin, und schüttelt mich
ab. Ich muss also wiederkommen und ihm klar machen, dass es kein Zufall
war, dass ich auf ihn gehüpft bin; dass ich ihm etwas mitteilen will.
Ich klopfe ihn dann mit einem Fuß so lange, bis er das hoffentlich
merkt, auch wenn er mich inzwischen noch ein paar Mal weggeschleudert
hat. Dabei sterbe ich wahrscheinlich noch nicht, aber der Mensch geht
vielleicht in sein Haus, weil er sich ekelt, und ich muss an einem anderen
Tag mit ihm dasselbe noch einmal versuchen. Ich muss eben möglichst
erreichen, dass der Mensch es merkt, den ich mir ausgesucht habe, dass
ich etwas von ihm will, denn ich darf es an jedem Teich nur bei einem
versuchen. Und außerdem muss ihm ja das Märchen vom Froschkönig
einfallen. Nur wenn ihm das eingefallen ist, kann er überhaupt daran
denken, ob er nun etwa aus einer Froschkönigin eine Prinzessin oder
aus einem Froschkönig einen Prinzen machen soll. Ich werde es merken,
wenn ihm das Märchen eingefallen ist. In diesem Augenblick erscheint
der goldene Fleck in seinem Auge. Und dann wird er auch daran denken,
dass das Märchen sagt, der Froschkönig sei früher einmal
selbst ein Mensch gewesen. Das stimmt aber nicht. Doch kann er ein Mensch
werden.
Wenn mein Mensch erst lange darüber nachdenkt, was er denn aber mit
einem neuen Menschen machen soll, der auf solche Weise entsteht, dann
ist das Spiel aus für mich. Er wird ganz vernünftig sein, wird
mich auf die Erde setzen oder auch irgendwohin werfen, und danach bin
ich wieder ein Frosch wie alle anderen Frösche. Oder doch beinahe,
und das wird dann ein schweres Froschleben sein. Denn ich werde die Stimmen
der Natur nicht mehr hören, aber das Wissen von der Sterblichkeit
behalten. Davor habe ich etwas Angst.
Wenn mein Mensch aber eine kindliche Seele bewahrt hat und sie manchmal
in sich aufrufen kann, wenn er einfach dem Märchen vertraut, so wie
er es kennt, und mich mit aller Kraft gegen einen großen Stein oder
gegen einen Baumstamm wirft, ja, dann - werde ich trotzdem noch nicht
unbedingt ein Mensch, sondern nur, wenn er es will. Ich weiß es,
ob er es will. Wenn nicht, mache ich ihm keine weitere Mühe und sterbe
bei dem Aufprall auf den Stein oder an dem Baum. Das ist dann auch gut.
Ich habe dir ja gesagt: Ich setze mein Leben aufs Spiel. Aber der Mensch,
der dem Märchen geglaubt hat, wird in jedem Fall wie du, ob ich nun
ein Mensch geworden bin oder nicht, von da an die Sprachen der Natur verstehen.
Er wird dabei, wie du es kennst, nicht alle ihre Sprachen gleichzeitig
und durcheinander hören, denn das wäre ja gar nicht auszuhalten,
sondern er wird immer nur die eine Stimme hören, auf die er sich
mit ganzer Kraft konzentriert, und er wird dieser Stimme auch antworten
können. Und wie du wird er diese Fähigkeit sein Leben lang behalten.
Und eine solche Stimme, eine innere, meine ich, kann auch die eines Menschen
sein, aber nur die eines Menschen, der das Geheimnis kennt."
"Es gibt also deshalb nicht jedes Jahr in jedem Teich einen Froschkönig
oder eine Froschkönigin, weil sie dabei sterben können, wenn
sie einen Menschen ein Geheimnis der Natur zu lehren versuchen? Und weil
sie auch wissen, dass sie zwar bei dem Spiel überleben können,
aber dann die Sterbensangst behalten, ohne weiter die Stimmen der Natur
zu hören?"
"Ja, deshalb nicht. Manche, die einmal Könige gewesen sind,
aber sich keinem Menschen verständlich ma-chen konnten, hüpfen
weite Wege, um das Königsgeheimnis der Frösche weiterzusagen.
Aber natürlich kann es vorkommen, dass es Laichplätze gibt,
die über viele Jahre hin keinen König oder keine Königin
haben, einfach deshalb, weil die Frösche dort gar nicht erfahren,
was das ist, oder aber, weil sie es erfahren und gerade deshalb nicht
Froschkönig werden wollen. Und dann erfährt auch kein Kind das
Geheimnis der Spra-chen der Natur und kein Erwachsener, und es erfährt
also auch niemand, dass er vor dem Tod keine Angst haben muss."
Das verstand ich damals nicht ganz. Aber ich fragte: "Wem willst
du das Geheimnis weitersagen, Froschkönig?"
"Ich habe daran gedacht, es deiner großen Schwester zu sagen.
Ich sehe sie oft im Garten."
"Ja, und sie hat im vorigen Jahr oft über das Sterben nachgedacht,
denn da war sie lange krank. Aber sie ist wieder ganz gesund. Sie liebt
die Natur sehr. Jetzt im Vorfrühling geht sie jeden Nachmittag durch
den Garten, um zu sehen, was sich verändert hat. Sie sieht am genauesten
hin. Aber das weißt du ja sicher. Die Schneeglöckchen seien
natürlich schon längst verblüht, sagte sie gestern beim
Abendessen, auch die Märzenbecher, aber die Primeln, die dann so
herrlich blau - lila blühen, Pompon-Primeln nennt sie sie, die streckten
jetzt ihre ersten Blätter heraus, und die Krokusse, die blühen
schon fast, und die Osterglocken und die Pfingstrosen und die Tränenden
Herzen haben grüne Triebe."
"Du weißt ja alle diese Namen!"
"Ja, aber erst jetzt, erst in diesem Jahr. Uns hat das sonst eigentlich
nicht besonders interessiert, meinen Vater und mich gar nicht, wie die
einzelnen Pflanzen im Garten heißen, und meine Mutter kann zwar
alle Pflanzen unterscheiden und hat sie auch gepflanzt, aber sie vergisst
manche Namen auch wieder. Und wir haben meistens nicht einmal richtig
zugehört, wenn meine Schwester von ihnen erzählt hat, als würde
sie sie gut kennen und noch anders als nur mit den Namen aus dem Gartenkatalog;
Erst jetzt eben hören wir ihr wirklich zu, nachdem sie so krank war.
Und die Tiere im Garten kennt sie auch und weiß zum Beispiel, wo
ein Igel überwintert und dass man ihn da in Ruhe lassen muss."
"Deine Schwester kennt das Märchen vom Froschkönig, nicht
wahr?"
"Ja, sie hat es mir früher selber vorgelesen. Auch eine Verfremdung
davon oder wie das heißt. So was machten sie damals gerade in der
Schule. Diese 'Verfremdung', die mochte ich gar nicht. Aber das alles
weißt du doch, Froschkönig."
"Natürlich. Doch ich möchte mit dir darüber sprechen.
Ich möchte einfach sprechen, verstehst du? Es ist ja ganz selten,
dass ich das so tun kann wie jetzt mit dir. Was glaubst du also? Wird
deine Schwester es verstehen, dass ich ihr etwas mitteilen will? Und du,
wirst du es denn aushalten, wenn deine Schwester vielleicht mich zum Menschen
macht und mit mir weggeht? Denn was in der Zukunft sein wird, das wissen
wir ja beide nicht."
"Wie ich das aushalte, das weiß ich noch nicht, denn ich habe
meine Schwester sehr lieb. Aber du hast doch gesagt, Froschkönig,
dass ich mit ihr in Verbindung bleiben kann, denn wir werden ja einander
in unseren Gedanken verstehen. Ich wünsche ihr, dass sie keine Angst
mehr zu haben braucht vor dem Sterben wie manchmal in ihrer langen Krankheit.
Das ist wichtiger als alles andere.
Und bestimmt wird sie wissen, dass sie dich werfen soll. Was sie
aber tun wird, das kann ich dir nicht sagen. Nur dass sie dich
streicheln wird, denn eklig findet sie dich nicht. Ganz zart wird sie
dich mit einem Finger streicheln, denn du bist ja klein, und sie wird
dir nicht weh tun wollen. Und wenn sie dann vernünftig ist,
wird sie dir vielleicht sagen - ja, denn sie wird sprechen zu dir, obwohl
sie ja noch nicht weiß, dass du sie verstehen kannst: 'Du siehst
aus wie der Frosch im Märchen. Und du willst, dass ich mit dir umgehe
wie die Prinzessin im Märchen. Aber was soll ich denn mit einem Märchenprinzen
anfangen oder mit einer Märchenprinzessin? Ich sehne mich sehr nach
einem Freund, das ist wahr. Vielleicht weißt du das sogar. Aber
einen Märchenprinzen will ich nicht, ich sag's dir noch mal. Lass
es gut sein, du Froschkönig oder du Froschkönigin, und hüpfe
weiter deine Froschwege.' Und dann wird sie dich behutsam auf den Rasen
setzen oder auf ein Teichrosenblatt und wird wohl warten, bis du mit einem
Froschsprung ins Wasser tauchst.
Wenn es sie aber ganz erreicht, was du von ihr willst, dann wird
sie nicht vernünftig sein, dann wird sie zu dir sagen: 'Ich sehe
den goldenen Glanz auf deinem Kopf. Ich werde dich werfen, Frosch, mit
aller Kraft, und mein Herz mit über die Hürde. Hier an den Stamm
dieser geliebten hohen Buche werde ich dich werfen. Und dann wird sich
zeigen, ob du danach tot am Boden liegst, oder wer mir gegenüber
steht.' Sie wird das Märchen ganz wörtlich nehmen, wenn sie
es überhaupt ernst nimmt."
"So wie du mir von ihr erzählst, Kind, so würde ich gern
mit deiner Schwester zusammen Mensch sein. Aber ich habe jetzt doch Angst.
Ich bin nicht so gelassen, wie ich sein sollte und wie ich es die Menschen
lehren möchte. Wenn mich deine Schwester nämlich nicht verwandelt,
wenn sie also vernünftig ist, werde ich ja wieder ein gewöhnlicher
Frosch sein, das habe ich dir schon gesagt, ein Frosch, der die Stimmen
der Natur nicht mehr hört und ihren Trost nicht, der nicht mehr zu
Menschenkindern sprechen darf, der die Liebe nicht kennen lernen wird,
der aber das Wissen vom Sterben nicht wieder vergessen kann. Wenn es so
ausgeht mit deiner Schwester, darf ich dann in deiner Nähe bleiben?
Wirst du manchmal deine Hand in den Teich halten? Dann werde ich zu dir
kommen und mich in deine warme Hand schmiegen, und das wird mein Trost
sein. - Und vergiss nicht, in einem Jahr einem anderen Kind von den Froschkönigen
zu erzählen. Denn das ist wichtiger als alles, wichtiger auch als
meine kleine Angst. Willst du das tun, beides?"
Das habe ich versprochen, damals am Teich, und ich habe es gehalten.
Der Frosch sprang
ins Wasser, und ich stand auf und ging ins Haus. Es war dämmerig
geworden während dieses Gesprächs, und ich war sehr froh, dass
niemand mich bisher gerufen hatte. Ich war aber vor allem sehr traurig,
denn meine Schwester würde ja vielleicht bald nicht mehr da sein.
Doch ich wusste auch, dass ich es richtig gemacht hatte, als ich dem Froschkönig
von ihr erzählte, der durch sie vielleicht ein Mensch werden würde.
Sagen durfte ich ihr trotzdem nichts, so war es abgemacht.
Am folgenden Nachmittag, als ich vom Flötenunterricht kam, war meine
Schwester nicht da. Mittags hat-ten wir noch zusammen gegessen. In meinem
Zimmer lag ein Zettel:
"Ich habe nicht gewusst, dass die alten Kindermärchen doch wahr
sind. Ich musste fortgehen. Du, meine geliebte kleine Schwester, du weißt,
was geschehen ist. Du wirst mich verstehen, und wir werden uns wiedersehen,
und du wirst die Eltern trösten, ohne unser Geheimnis zu verraten.
Das wird sehr schwer sein für dich, ein Kind, aber du wirst es können,
darauf vertraue ich. Und nach einer Zeit werde ich wiederkommen, werden
wir beide wiederkommen. Inzwischen, das weißt du, kannst du mich
erreichen, wenn du ganz fest an mich denkst. Tröste also die Eltern,
so gut es möglich ist. Und geh' heute Abend zum Teich und halte eine
Hand hinein."
Das tat ich. Kein Frosch kam, um sich hineinzuschmiegen. Da weinte ich
und war zugleich getröstet und glaubte es, dass meine Schwester dem
Märchen geglaubt hatte.
Und an meinem zwölften Geburtstag erzählte ich das Geheimnis
einem Jungen, den ich sehr bewunderte. Er lachte mich aus. Aber am nächsten
Tag lächelte er mir zu, und ich sah den goldenen Fleck in seinem
rechten Auge.
Quelle: E-Mail-Zusendung
von Ursula Brauer aus Hamburg, 28. Dezember 2002.