RUF DER WILDNIS
Verhaltensstudie als Märchen

Seit der Kosmos unser Raumschiff Erde aus Staub und Gasen gebar, sind bis heute etwa viereinhalb Milliarden Jahre vergangen, jedoch kein Mensch kann sich unter dieser abstrakten Zahl wirklich etwas vorstellen. Würde man die Entwicklung des Lebens auf der Erde auf vierundzwanzig Stunden beschleunigen, bildeten sich die Ozeane um die Mittagszeit. Die ersten Spuren des Lebens sind etwa dreieinhalb Milliarden Jahre alt - entwickelten sich in der Ursuppe, und auf unserem Schöpfungstag ist es fünfzehn Uhr. Im Ordovizium, vor vierhundert Millionen Jahren, entstanden die ersten Wirbeltiere und es ist bereits zweiundzwanzig Uhr zehn. Pangäa, der Urkontinent bricht auseinander, wir schreiben das Mesozoikum. Die Saurier sterben aus und die Zeiger der Evolutionsuhr zeigen auf dreiundzwanzig Uhr dreissig. Eineinhalb Millionen Jahre vor Heute, die Zeiger stehen eine Minute vor Mitternacht, entwickeln sich die ersten Primaten, halb Affe noch, halb Mensch. Fünfzehn Sekunden vor Mitternacht vergrößert sich deren Gehirn. Unser Vorfahr entdeckt das Feuer zu gebrauchen. Er beginnt Werkzeuge und Waffen herzustellen. Zehn Sekunden vor Mitternacht lernt er Ackerbau und Viehzucht. Zwei Sekunden vor Mitternacht entwickelt sich sein soziales Verhalten. Er bildet Sippen, beginnt Siedlungen und Strassen zu bauen, Steuern einzutreiben und Besitz anzuhäufen.

Es ist eine Sekunde vor Null Uhr. Ein warmer Tag in der Steinzeit. Über dem sonnenbeschienenen Mischwald liegt ein beruhigendes gleichmäßiges Summen, so als ob in der Mittagsonne der ganze Wald schliefe, und nur der Wind, wie die Atemzüge der Natur, zu hören ist. Die Sonne heizt unter der Glocke des Himmels, und am Gewölbe wachsen weiße zottige Wolkenhaufen, so, als würde ein unsichtbarer Maulwurf eine Hügellandschaft aufwerfen. Inmitten des Waldes, auf einer großen gerodeten Fläche, ein Fluß schlängelt sich in unzähligen Mäandern zwischen umherliegenden Felsentrümmern hindurch, liegt die Steinzeitsiedlung Wienöshalve. Sie wird bewohnt und beherrscht von einem räuberischen Rudel Zittergrasmenschen, die hier von ihrem Aul aus, auf die Jagd gehen, kläglich Landwirtschaft und Ackerbau betreiben, und immer wieder in verfeindete Auseinandersetzungen mit ihren Artgenossen und deren Clans verwickelt sind.

Die Stille wird von Zeit zu Zeit von einem Geräusch unterbrochen, wenn ein Stein auf einen anderen geschlagen wird, um Feuer zu machen. Es ist der Jäger Jörgemule, der gerade wieder ein Feuer entfacht, obwohl es ihm verboten ist, zu Zündeln. Unlängst hatte er auch wieder gezündelt, und mit seinen Feuerspielen einen Flächenbrand ausgelöst, der so schnell nicht gelöscht werden konnte. Aber Jörgemule kann nicht anders. Er ist einer jener Zittergrasmenschen, die immer irgendwo was anzünden müssen, um auf sich aufmerksam zu machen. Jörgemule grinst listig, als Rudelführer Schüsselsnare sieht, das er schon wieder zündelt, und er legt noch einige Holzstücke nach und bläst dazu in die Glut, um das Feuer noch mehr anzufachen. Susanynte, Schüsselsnares Stellvertreterin, schaut zornig von ihrem Gral herunter, und trommelt erregt mit ihren Fäusten auf ihr Kampfschild aus Drachenschuppen, und faucht wütend: "Gailöüä!" Susanynte ist eine stolze Kriegerin. Narbenübersät ist ihr Körper, von Steinsplittern geritzt, von Dornstauden zerkratzt, von Nessel gebissen. Neben ihrem Ansitz, wo sie auch arbeitet, liegen Bärenkeule, Pfeil und Bogen, Hirschbeil und Wildschweinmesser immer in Griffweite.

Susanynte und Schüsselsnare stammen von verschiedenen Sippen, aber gemeinsam haben sie die Macht im Aul an sich gerissen, und sind unentwegt damit beschäftigt, ihre Reviere zu verteidigen. Bei ihren Plünderungen gehen ihnen die Kämpfer und Weggefährten Grassermunde, Haupteknure und Westenusa zur Hand, welche auch Grasmenschen sind. Schüsselsnare befiehlt seinem Rudel: "Ihr alle gehen auf Jagd. Nehmen mit schwere Knochenschläger und Haublock, dann mir bringen Beut, weil sonst wir überleben nächste Schneemamuth nicht, üeak! Unsere Rudel jetzt sind stark, üeak! Wir jagen müssen, wir Beut müssen, sonst kommen wieder Rudelführer Gusengagga zurück, oder gar Bellenäggö, üeak! Dann wir nicht mehr Jäger. Ich euch sagen, wer nicht will jagen, der wird gejagt, üeak!"

Jörgemule grölt: Hüwg! Wer nicht ist willig zu geben uns Macht, dem ihr hauen Knochenschläger auf Schädel und spalten Hirnkasten, hüwg!" Die breitschultrigen fellbekleideten Gestalten nickten. Sie trommeln sich unter Geschrei und Gejohle mit ihren Fäusten auf die Brust, und bereiten sich mit ihren Treibern auf die Jagd vor. Schüsselsnare verschwand, und ward sehr lange Zeit nicht mehr gesehen.

Das Rudel teilt sich die Jagdgründe unter sich auf, und Susanynte heftet sich an die Fersen der Beamten. Sie hegt schon länger den Verdacht, dass diese Sippschaft Unmengen von Fellen für sich hortet. Grassermunde mit seinem Rudel bricht jedem Grasmenschen, der noch Zähne in seinem Mund hat, sein Gebiss heraus, denn Zähne gelten als begehrtes Zahlungsmittel. Nur wer keine Zähne mehr hatte, der hat so gesehen Glück, weil wer nichts mehr besitzt, dem kann auch nichts mehr genommen werden. Westenusa heftet sich an die tanzenden Bilder. Dringt in diese Sippe ein. Er stiftet alsbald Verwirrung und Chaos, und spaltet jedem der sich in den Weg stellt, den Hirnkasten, so dass diese tot von Pferd oder Sessel stürzen. Schüsselsnare bleibt oft tagelang verschwunden, taucht plötzlich wo auf, aber bevor ihn jemand um Rat bitten kann, ist er schon wieder weg. Haupteknure verfügt, dass jeder Grasmensch Kindergeld bekommt, und nach dem Wurf eines Neugeborenen nicht mehr im Steinbruch arbeitet. Frauen sollen zu Hause bleiben, und den Nachwuchs säugen. Sie meinen, es ist besser, und nicht so gefährlich, als mit dem Rudel auf die Jagd zu gehen. "Uqua!" brüllt Haupteknure. "Ich nicht will teilen mein Beut mit Menschin. Menschinenministerium ist Fimmel, uqua! ich gründen Jägerministerium, damit Beut bleibt für Jäger und nix für Menschin! Ich sagen das Gesetz. Uqua!" Haupteknure kommt eines Tages darauf, dass seine Steinbruchaufseherin eine Hochstaplerin ist. Er haut ihr dafür ein Loch in ihren Schädel, dass der kleine Hirnvogel fortfliegen kann, und sagt zu Westenusa: "Ich Haupteknure schlagen Hirschkeule Menschin auf Hirnkasten, uqua! Haupteknure geschafft, uqua! Brauchen aber ich neu Menschin für Steinbruch. Westenusa antwortet: "Afgöä! Ich Westenusa auch gehabt junge Menschin in andere Steinbruch, die widerspenstig. Afgöä - ich Zirlerynthe verjagt, und geholt dafür Susanynte aus Prärie. Susanynte gut Menschin, afgöä - ich gemacht gut Griff. Ist bisweilen kleine Strampelfrau, afgöäafgöä! aber gut auf Bärenhaut, wenn man richtig macht".

Gusengagga und Bellenäggö ärgern sich über die Brutalität, mit der die Treiber und Jäger vorgehen, denn, Gesetzte werden überfallsartig inkraftgetreten, doch sie können ausser Schreien nichts dagegen tun, sondern müssen selber auf der Hut sein, dass man nicht auch ihren Hirnkasten spaltet, oder ein Loch in den Schädel meisselt, so wie es auch Salmenixö geschehen ist. Jeder hält das nicht aus, aber Salmenixö ist hart im Nehmen, und er lebt mit dem Loch im Schädel weiter, als wäre nichts. Westenusa, Susanynte und Haupteknure versuchen wochenlang Salmenixö zu meucheln. Immer wieder sind sie ihm aufgelauert, oder haben versucht, ihn in einen Hinterhalt zu locken. Sie rissen ihm die Ohren aus und schnitten seinen Skalp ab. Salmenixö aber lebt und kämpft tapfer weiter, und so lassen sie endlich von ihm ab, um sich eine andere Beute zu suchen, denn ein Jäger sucht sich immer ein schwächeres Opfer. Jörgemule zündelt ständig weiter, obwohl er ob seiner Zündelsucht schon zu einigen Strafen verurteilt wurde. Das half nichts. Alle Bemühungen und Versuche Jörgemule zu zähmen, schlugen fehl, und er findet immer wieder zwei Feuersteine, die er gegeneinander drischt, bis die Funken springen. Andere Sippen begannen schon, ob der Unsicherheit im Lande, Austriatoryx zu meiden, oder beorderten ihre Gesandten sicherheitshalber zurück.

Die Tage werden immer heisser. Hirsch, Wisent, Puma und Wildschwein stampfen erschöpft durch die Prärie. Die Grasmenschen verstecken sich in ihren Lehmhütten und Felshöhlen. Sie sammeln nur nachts, ernähren sich von gekeltertem Wein und vergorenen Hopfensaft, von Wisentmilch und Moosen, denn dazu brauchen sie keine Zähne. Wer noch einen oder mehrere Zähne hatte, verkriecht sich im Unterholz, wenn die Jäger durchziehen, auf ihren Raubzügen. Die Grasmenschen und das Wild tarnen sich in der Erde, oder rennen, so schnell sie ihre Füsse tragen, in alle Winde auseinander.


Quelle: email Zusendung von joschi anzinger, 4. September 2001
joschi anzinger
nebenerwerbsliterat. jahrgang 1958; geboren und aufgewachsen in altlichtenberg, bei linz. seit 1979 am pöstlingberg lebend, angestellter der linz AG, verheiratet, zwei kinder. mitglied der IG autorinnen autoren, der österreichischen dialekt autorinnen autoren und des stelzhammerbundes.
veröffentlichungen:
1996: "dialekt dialog" 1000 senku gedichte, gemeinsam mit hans kumpfmüller. ÖDA wien. 2000: "ghead und xeng" gedichte in oö. dialekt. resistenz verlag. beiträge in anthologien: "die rampe", "zwischenbilanz", "mostalgie", "meridiane", "sand & salz". in literaturzeitschriften: "morgenschdean", "literatur aus österreich", sowie satiren und kurzgeschichten in tageszeitungen. zahlreiche lesungen. autodidakt.
internet - www.joschi.at