SCHNEEWITTCHEN
hinter den sieben Türen

von Margarete Lassi

Einleitung

"So weiss wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie Ebenholz", wem wäre dieser Satz wohl nicht in Erinnerung geblieben, hätte er auch alles sonst alles Andere von diesem Urmärchen vergessen. Warum prägte sich wohl diese Wendung so unauslöschlich in unsere Gemüter? Weil sie Ausdruck eines uralten Mythos ist, der vom immerwährenden Jahreszeitenzyklus erzählt, vom Abstieg der Göttin des Lebens in die Unterwelt, wodurch es Winter wird auf Erden. Der gläserne Sarg ist ein ausdrucksstarkes Symbol dafür. Wenn der Sonnenheros sie erweckt, tritt sie wieder ihre oberirdische Herrschaft an, und das Leben erwacht mit ihr. Sie ist die Herrin des Lebens in ihren drei Gestalten: die weisse Jungfrau, die rote Mutter und die schwarze Alte. Weil Märchen aber auf allen Ebenen wahr sind, erzählen sie, jenseits aller zeitgebundenen Elemente, auch von innerseelischen Vorgängen: wie man sich dem Fluss des Lebens verweigern kann und dann zur bösen Alten wird oder immer Kind bleibt, oder aber im gläsernen Sarg der innerlichen Erstarrung schläft, bis ein hilfreicher Seelenanteil den Bann löst. Denn wir tragen sie alle in uns, die Märchengestalten, sie sind Verkörperungen unseres Selbst, die Schönen und Guten, sowie die Hässlichen und Bösen. Das Märchen hält uns deutlich und unmissverständlich einen Zauberspiegel vor, und der lügt niemals.

Vorwort

Neulich, als ich mich wieder einmal auf einem meiner seltenen Ausflüge in die grosse Stadt begab, musste ich mit der U - Bahn fahren. Ich halte das für eines der letzten Abenteuer, die einem in einer Grosstadt zustossen können. Es beginnt schon damit, dass man gezwungen ist, tief in den Leib der Unterwelt abzusteigen, nachdem man das geheimnisvolle Zaubertor durchschritten hat. Natürlich geht es auch nicht ohne ein Zauberwort ab, das Passwort, das den Helden überhaupt dazu berechtigt, sich dort aufzuhalten. Ja, ja das meine ich schon, den richtig markierten Fahrschein, was sonst! Unten angekommen, begegnet man dann rasenden Ungeheuren, die eine Wolke übelsten Gestankes vor sich herschieben. Nirgends sonst ist mir so wüster Geruch zugestossen, wie in U - Bahnstationen. Ich erkläre mir das mit der anscheinend rasanten Verdauung der riesigen Lindwürmer, die sich schnell wie der Blitz durch die dunklen, unterirdischen Gänge bewegen und unzählige Menschen verschlingen, um dann die Unverdaulichen an anderen Orten wieder auszuspeien wie Gewölle. Es wäre aber keine richtige Unterwelt, begegnete man nicht denen, die dort ihren angestammten Aufenthaltsort haben, den schleichenden Schatten mit den leeren Augenhöhlen, den irrlichternden Wahngestalten des Hades, denen, die alle Hoffnung haben fahren lassen und im Dunkeln wie Sumpfblüten wachsen und dir tödliche Träume verkaufen, wenn du ihrem kranken Sirenengesang folgst. Es gibt da ihre bevorzugten Orte, unterweltliche Kraftplätze, an welchen sie sich aufzuladen scheinen mit einer besonderen Art von trügerischer Energie, die auszehrt statt zu nähren.


An einem dieser Orte der Verdammnis traf ich die Fee zum ersten Mal. Später wurde sie eine liebe Freundin von mir, und noch heute, da sie ihr unstetes Leben altersbedingt aufgegeben hat, besuche ich sie noch manchmal, wenn ich in der Stadt bin. Nicht, dass Ihr nun glaubt, sie wäre ein ätherisches Wesen mit Zauberstab und Wunderhorn gewesen, zehn Zentimeter über dem Boden dahinschwebend! Nein, nein, es verhielt sich ganz anders mit ihr. Sie war eine jener Persönlichkeiten, die so sehr aus der allgemein anerkannten Realität abgedriftet sind, dass sie sich keinerlei Gedanken mehr darüber machen, wie seltsam und verschroben sie wohl auf andere Menschen wirken mögen. Dabei bin ich mir fast sicher, dass nur ein Zauber auf ihnen liegt, ein Bannspruch, der sicher irgendeinmal gelöst wird und sie in das rückverwandelt, was sie im Innersten wirklich sind: leuchtende Wesen wie du und ich. Bis dahin verbergen sie sich unter einer Hülle aus Lumpen und Wunderlichkeit, wie besagte Fee. Warum sie von den anderen Hadesbewohnern so genannt wurde? Ich weiss es nicht genau, glaube aber, dass diese einen besseren Blick haben, und unter ihrer skurilen Maske ihr wahres Wesen ahnten. Wie auch immer, die Fee war unbestimmbaren Alters, ich schätzte sie auf etwa fünfundfünfzig Jahre, in mehrere Schichten schmutziger, stinkender Lumpen gehüllt und in noch etwas, was ich eindeutig als Schnapsgeruch identifizierte. Von ihren Zähnen war ihr nur ein einziger geblieben. Der aber stand mit stolzer Einzigartigkeit aus ihrem vorderen Unterkiefer in die Höhe wie ein Fahnenmast, als wolle er allen zurufen: "Seht her, ich halte die Stellung!" Ihre Haare mochten einst dunkelbraun gewesen sein, jetzt hingen sie als dünne, graue Strähnen unter einem lächerlich - dramatischen Schlapphut hervor, der ihr ganzer Stolz war. Mit schlurfendem Schritt schob sie einen Einkaufswagen vor sich her, auf dem die unleserlichen Reste der Aufschrift eines bekannten Supermarktes zu lesen waren. In ihm führte sie ihre ganze Habe mit sich. Er diente ihr als Aufbewahrungsort, Kleiderschrank, Speisekammer, Getränkekeller, Bibliothek (sie pflegte viel zu lesen, ich glaube, sie war früher einmal, vor ihrer Verzauberung, sogar Bibliothekarin gewesen). Nicht zuletzt diente er ihr auch als Spanische Wand, denn auch sie brauchte, wie alle Menschen, eine gewisse Intimsphäre.

Ins Gespräch kamen wir, weil sie ausgerechnet mich, als Einzige in einer anonymen Menge, eines Grusses würdig befand. Wir erkennen einander wohl in jeder Art von Verkleidung, wir aus dem Märchenreich. Aus einem unverständlichen Gemurmel, währenddessen sie an mir vorbei, auf etwas nur für sie Sichtbares schaute, konnte ich plötzlich verständliche Worte heraushören: "Guten Tag, liebe Frau, ....heute auch wieder da......habe was für Sie......Dabei zog sie mich verschwörerisch hinter einen Pfeiler, wo wir den Fluss der Menschenflut nicht behinderten. Ich lud sie ein in eine kleine Imbissbude, wie es sie in den U-Bahnstationen überall gibt. Wir assen Hamburger und tranken Bier, ich eines, sie mehrere, was ihrer Artikulation offensichtlich auf die Sprünge half. Denn sie erzählte mir, zusammenhängend und mit erstaunlichem Wortschatz folgendes, wobei sie betonte, dass die Ähnlichkeiten mit bekannten Personen durchaus erwünscht und keinesfalls zufällig seien.


1.KAPITEL

Vor gar nicht langer Zeit, da lebte in den Tiefen der städtischen Unterwelt eine richtige, kleine Prinzessin. Sie hatte eine weisse, durchscheinend, zarte Haut und schwarzes Haar, und ihre weichen, schön geschwungenen Lippen waren prall wie frische Kirschen. Sie wirkte hier so fehl am Platz wie ein echtes Gemälde auf einer öffentlichen WC-Anlage, trotzdem war sie, wie alle Anderen hier unten, ein Schatten, weil sie den Weg des Nicht-Fühlens gewählt hatte, bis.....Aber ich will am Anfang der Geschichte beginnen, wie es sich gehört.

Es war einmal eine Königin, eine Königin des Pop. Wie man sich vorstellen kann, ist das Popstarwerden kein Honiglecken. Schon gar nicht für eine, die wie sie aus armen Verhältnissen stammte. Leider beschreibt das Wort arm in den allermeisten Fällen nicht nur materiellen Mangel, sondern auch Mangel an Bildung, Artikulationsfähigkeit und diversen sozialen Fertigkeiten, die einem das Leben wesentlich erleichtern. Der Vater war hauptberuflich Lagerarbeiter, nebenberuflich Säufer, was im Klartext heisst: er brauchte einen grossen Teil seines nicht gerade fürstlichen Einkommens für seinen Zweitberuf. Dadurch geriet er gleich doppelt in Konflikt, erstens mit seiner Frau, denn sie gönnte ihm diesen Nebenberuf nicht und versuchte immer, ihm sein Vergnügen zu zerstören, indem sie versicherte, für sich und die Kleine auch Geld zu brauchen, zweitens mit sich selbst. Denn in klaren Momenten erkannte er, dass ihrer aller Leben auf diese Weise niemals dem Sog der Armut entkommen konnte. Das wiederum erfüllte ihn neuerlich mit tiefster Verzweiflung, die er bekämpfte mit.....siehe oben. Ein teuflischer Kreislauf aus guten Vorsätzen und ständigem Scheitern war, einmal in Gang gesetzt, nicht mehr zu stoppen und führte ihm täglich aufs Neue seine Schwäche vor Augen. Manchmal allerdings gelang es ihm, diese Schwäche zu vergessen. Dann war er stark. Das war, wenn er seine Frau und die Kleine schlug. Die Folge solcher Exzesse war, dass er sich nachher umso abscheulicher fühlte, und dieses Gefühl musste nun neuerlich ertränkt werden..... Da capo al fine.

So sah also die Kindheit unseres späteren Popstars aus. Früh lernte das Mädchen schon, das Leben als binären Code zu sehen. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Eins oder Null, Erfolg oder Misserfolg, Sieg oder Niederlage. Genau so früh beschloss es, den Einserweg für sich zu wählen, und es war erstaunlich, mit welcher Konsequenz es diese Richtung verfolgte und niemals davon abwich.

Sie wurde nach ihrer Grossmutter, Rosa genannt. Schon in ihrer frühesten Jugend aber stellte sich heraus, dass sie eine Rose aus Stahl werden würde. Rosa hatte die Lektion ihrer Herkunft gelernt und kämpfte mit Zähnen und Klauen um einen Platz an der Sonne. Nach der Schulzeit arbeitete sie in einer Fabrik als ungelernte Arbeiterin. Eigentlich war Rosa eine begabte Schülerin gewesen und hatte leicht und schnell gelernt. Aber in ihrern Kreisen hatte man keine unnützen Träume im Kopf zu haben, das erklärten ihr die Eltern nachdrücklich, als sie den Wunsch äusserte, weiter zur Schule gehen zu wollen.

Rosas Karriere begann als Pin-up in zweitklassigen Magazinen. Der Freund eines Kollegen photographierte sie eines Tages für ein Boulevardblatt und siehe da, die Bilder liessen sich verkaufen! Obwohl Rosa nicht eigentlich als schön gelten konnte, war doch ein undefinierbares Etwas, eine Ausstrahlung um sie, und die schrie einem förmlich entgegen: "Sieh mich an! Ich bin's, eine künftige Königin von irgendwo! Ihr werdet bald von mir hören!" So war's dann auch. Bald darauf war sie Leadsängerin einer noch unbekannten Popgruppe. Die Gruppe ist immer noch oder schon wieder unbekannt, Rosa aber, nun zu Donna geworden, hatte ihren unaufhaltsamen Aufstieg begonnen. Das bedeutete harte Arbeit. Man musste in erster Linie auffallen, womit auch immer.

Donna profilierte sich durch gnadenlosen Exhibitionismus. Sie stilisierte sich hoch (oder hinunter, wie man's nimmt) zur Ikone des Sex. Es galt, dem Gewöhnungseffekt entgegenzuwirken. Denn war es heute ein aufsehenerregender Skandal, seine Intimitäten zu inszenieren, musste man morgen die Schraube der Selbstdarstellung schon eine Windung weiter drehen. Sie war zur Projektionsfläche der unausgelebten Wünsche ihres Publikums geworden, und sie wusste, was sie diesem schuldete: mehr vom Gleichen, immer mehr. Der Appetit der Konsumenten musste immer wieder neu gereizt, durfte jedoch niemals befriedigt werden, versteht sich. Aber auch Donna musste sich eines Tages eingestehen, dass irgendwann, bald sogar, alles in dieser Richtung Machbare, ausgereizt sein würde, und nicht einmal die wildesten Selbstdarstellungen noch irgend jemandem mehr als ein Gähnen entlocken würde. Ein neues Image musste her, Geistigkeit war angesagt.

Der Effekt war umwerfend. Ihre Filme, ihre Songs boomten, wie nie zuvor. Man denke nur, die Königin der Exzesse hatte sich bekehrt, pries Meditation und Einkehr, ass nurmehr vegetarisch und hielt sich einen persönlichen Guru! Der Höhepunkt des Ganzen aber war ihre halböffentliche Begattung und Mutterschaft, inszeniert wie ein Hollywood - Epos. Die Medien rasten vor Begeisterung, die Kassen klingelten, Donna war oben, ganz oben. Sie hatte es geschafft. Man muss im Leben wissen, was man will, und Donna wusste es. Es hatte keinen Sinn, von einem stillen, erfüllten Leben an der Seite eines liebevollen Mannes zu träumen und gleichzeitig eine öffentliche Frau sein zu wollen. Niemand konnte alles haben, man musste sich immer entscheiden. Liebe? Ja! Sex? Ja! Aber kein Mann sollte ihr jemals sagen können, wo's langgeht. Sie hatte die gefährlichen Klippen eines Frauenlebens, wie das ihrer Mutter, umschifft. Niemals würde sie in die gleiche Falle tappen, niemals! Deshalb gab es in ihrem Leben keinen Mann, nur Lover. Die wurden ausgesucht, wie aus einem Katalog für männliche Schönheit und konnten nach getaner Pflicht ausgewechselt werden, leicht und problemlos. Einer davon durfte der Erzeuger ihres Kindes werden. Für kurze Zeit atmete er die gleiche Luft wie seine Bienenkönigin, sonnte sich in ihrem Ruhm. Dieser färbte nur wenig ab. Kurze Zeit später kannte niemand mehr seinen Namen.

Die Fee hatte ihr drittes Bier leergetrunken, und ihr Redefluss drohte zu versiegen. "Wissen Sie, das viele Sprechen macht meine Kehle ganz trocken," erklärte sie treuherzig. Wir wussten beide, wie es um sie stand, ihr aber schien es wichtig zu sein, Form und Würde zu wahren. Sie wartete geduldig, bis die nächste Bestellung eingetroffen war. Dann erfuhr ich, wie's weiterging:

Donna hatte also eine kleine Tochter bekommen. Sie nannte sie Bianca. Der Name passte wirklich zu ihr, denn ihre Haut war weiss wie eine Apfelblüte und bildete einen auffälligen Kontrast zu ihrem dunklen, fast schwarzen Haar und den blauen Augen. Donna liebte die Kleine mit abgöttischer Liebe.

Aber was heisst das schon, wenn Kinder doch eine andere, eine menschliche Liebe brauchen! In ihrem Fall hiess das, dass die Mutter dem Kind all das ermöglichen wollte, was sie nicht gehabt hatte und all das ersparen, was ihr nicht erspart geblieben war. Es war Donna zu keiner Zeit bewusst, dass sie in ihrem Kind eigentlich das kleine, chancenlose Mädchen liebte, das sie einmal gewesen war und nicht so sehr dieses neue, unverwechselbare Wesen, Bianca. So wuchs Bianca auf wie eine kleine Prinzessin, und es fehlte ihr wirklich an nichts, ausser....wie schon gesagt, Liebe, die richtige nämlich. Die hatte Donna ja auch nicht erfahren, wie hätte sie sie also weitergeben können?

Die "Erbsünde", das Weitergeben der eigenen Verletzungen an Kinder und Kindeskinder, trat also wieder einmal, wie so oft, in Kraft.

Donna war bald in eine neue Phase ihrer immerwährenden Metamorphosen eingetreten. Der Indische Guru wechselte seinen Platz mit einem ledergesichtigen Indianerhäuptling, statt Zimbeln und Gongs hallte nun häufig der dumpfe Klang von Trommeln durch das vornehme Penthouse. Biancas Name und Outfit wandelten sich im Rhythmus der mütterlichen Veränderungen, ebenso ihre ethische Unterweisung. Shiva und Shakti wurden vom grossen Wakan - Thanka abgelöst. Sie hiess nun nicht mehr Bianca - Devi, sondern neuerdings Bianca - Withe Feather. So war sie schon zur Kosmopolitin geworden, ehe sie noch eine innere Heimat hatte finden können.

2.KAPITEL

Die Jahre gingen nicht spurlos vorüber, an beiden nicht. Bianca wuchs zu einem anmutigen, wunderschönen jungen Mädchen heran, an dem die Exzentrik der Mutter erstaunlich wenig Schaden angerichtet hatte. Ein wenig verwöhnt war sie natürlich, denn Verwöhnung ist die Liebe der Liebesunfähigen. Aber, wer könnte Donna das vorwefen, bei ihrer Vorgeschichte? Königin Donna! Sie hatte mit nie erlahmender Inbrunst all die Jahre weiterhin an ihrer Karriere gehauen, geschliffen und poliert wie ein Bildhauer. Nicht, dass sie das materiell noch nötig gehabt hätte, nein, sie hatte ausgesorgt für mehr als ein Leben! Sie war am Höhepunkt ihrer Karriere und ihres Lebens angelangt. Aber sie selbst war so sehr zu ihrer eigenen Schöpfung geworden, dass sich die Person Donna nicht mehr vom Kunstprodukt Donna trennen liess. Also hiess es weitermachen! Aber, schon im Wort Höhepunkt liegt auch sein Wesen verborgen, nämlich ein Punkt zu sein, von dem es, in allen Richtungen, nur bergab gehen kann. Genau daran litt Donna, wie jeder, der Höhepunkte irgendeiner Art jemals erlebt hat. Das ist nun einmal der Lauf der Welt, so heisst es, und trotzdem versuchen viele, diesen Lauf ein wenig anzuhalten. Das ist nur zu verständlich.

Also, was heisst das im Klartext? Die Gesichtkonturen waren nicht mehr ganz so straff wie früher, die schlanke Linie bedurfte mehr als früher der Gymnastik und der Diät, ein gewisses Nachlassen der früheren Spannkraft machte sich bemerkbar, man kennt das ja. Und noch etwas: die Lover wurden immer jünger und wechselten immer häufiger.

Diego hiess ihre neueste Erwerbung. Ein Bild von einem Mann, sein muskulöser Körper wie von Phidias geschaffen, schwarzglänzendes Haar, persönlicher Fitnesstrainer und Leibwächter in einer Person und.....im Alter Bianca näher als seiner Herrin.

Wer wie ich Mutter einer oder mehrerer Töchter ist, weiss, wovon ich spreche, wenn ich sage: Der Liebreiz Biancas war nunmehr in eine Phase eingetreten, wo man ihn nur mehr als herzergreifend bezeichnen konnte. Denn die Zeit des Nicht mehr Kind - und Noch nicht Frauseins lässt an jungen Mädchen eine derartig anmutige Ausstrahlung erblühen, dass deren Mütter, zu diesem Zeitpunkt schon langsam im Abstieg begriffen, oftmals Wehmut und auch etwas Neid empfinden. Wer leugnet da? Wer meiner Schicksalsgenossinnen wagt ehrlich zu behaupten, das träfe auf sie niiieeeemals zu! Anders natürlich bei Burschen. Sie wirken oft in der Pubertät wie Fragezeichen aus zu langen Armen, Nasen und pickelübersäten Hormonträumen, die Armen!
Sie bedrohen unser Selbstbild daher nicht so sehr wie Töchter, ganz klar. Für Donna mag das weit schlimmer gewesen sein, als für uns Durchschnittsfrauen, weil ihre narzistische Identität ganz eng mit dem Bild jugendfrischer Weiblichkeit verbunden war. So glaubte sie immer, wenn sie ihrer Tochter gegenüberstand, in einen Spiegel zu sehen, der ihr höhnisch zuflüsterte:

"Frau Königin, ihr wart mal die Schönste hier,
nun ist Bianca viel schöner als Ihr!"

Das allein war schon hart und schwer zu ertragen für die Diva. Dann aber bemerkte sie eines Tages die unmissverständlich begehrlichen Blicke, die Diego ihrer Tochter zuwarf, wenn er sich unbeobachtet glaubte. Dieser Blick bohrte sich in ihr Herz wie ein schartiges Messer und brachte ihr eine tiefe, schwärende Wunde bei. "R a c h e!" schrie alles in ihr. Sie meinte, das, was sie nun plante, zum Schutz Biancas zu tun, und vielleicht war es auch zum Teil so. Wie auch immer, das Kind musste fort, musste den möglichen Nachstellungen ihres Liebhabers entzogen werden, i h r e s Liebhabers wohlverstanden! Denn i h r Liebhaber sollte er auch bleiben! Die plötzliche Konkurrenz aus ganz unerwarteter Richtung liess ihn wieder zum äusserst wichtigen Objekt ihrer Begierde werden.

Wieder hielt die Fee inne. Sie kramte umständlich in einem ihrer unzähligen Plastiksäcke, um gleich darauf ein schmuddeliges Foto ans Tageslicht zu befördern. "Hier, das ist sie, unsere Prinzessin. Schönes Mädchen, nicht wahr?" Ich musste es bestätigen, sie war wirklich ganz besonders hübsch. Es war spät geworden, und der Besitzer der Imbisstube wollte schliessen. Daher wechselten wir in ein kleines Cafe in der Oberwelt. Wir erregten ziemliches Aufsehen, Feen schienen hier nicht zur Klientel zu gehören. Ich hoffte, meinen Gast mit Kaffe und Cognac bei Laune halten zu können, denn die Geschichte hatte begonnen, mich zu interessieren. Es gelang. Die Fee fuhr fort:

Das trug sich zu, kurz bevor die Prinzessin hier auftauchte. Königin Donna liess Bianca eines Tages zu sich rufen und teilte ihr kurz und bündig mit, dass sie in einem hervorragenden Schweizer Internat angemeldet sei, mit Schifahren, Tennis und dem besten Fremdsprachenprogramm, das es nur gäbe. Bisher hatte Bianca mit recht gutem Erfolg eine teure Privatschule besucht und fühlte sich wohl dort. Entgeistert starrte sie ihre Mutter an: "Aber Mum, du hast mich doch gar nicht gefragt, ob ich überhaupt will! Was ist denn plötzlich los, warum soll ich fort?" Bianca verstand ihre Mutter nicht. Nicht dass es da jemals viel zu verstehen gegeben hätte, die sprunghaften Eskapaden Donnas waren Teil von Biancas Leben gewesen, seit sie sich erinnern konnte. Doch dies, nein, damit hätte sie niemals gerechnet! "Mummie, ich will nicht weg von dir! Was ist los, warum magst du mich nicht mehr hier haben, sag schon!" Donna versuchte, ihrer Tochter verständlich zu machen, dass dieses Internat das Beste für sie sei, ihr fehle der letzte, gesellschaftliche Schliff und überhaupt, es wäre gut als Vorbereitung für ihr Studium an einer Amerikanischen Privatuniversität. "Aber Mutter, ich will nicht, verstehst du? Ich werde niemals dorthin gehen, warum willst du mich zu etwas zwingen, was ich nicht will! Das hast du doch bisher nie getan!" Aber seltsam, so sehr ihre Mutter bisher auf alle ihre Wünsche eingegangen war, hier biss Bianca auf Granit. Hier lief etwas ab, das sie nicht durchblickte.

Alles, was sie verstand war, dass Donna sie um jeden Preis forthaben wollte, warum auch immer. Sie glaubte, die Liebe der Mutter verloren zu haben und grübelte vergebens über den Grund ihrer drohenden Verbannung nach, kam aber zu keinem Ergebnis. Sie war sich keiner Schuld bewusst.

Ihre wahre Schuld aber blieb ihr, ja, musste ihr verborgen bleiben. Bianca hatte sich der Jugend und Schönheit schuldig gemacht, ein Vergehen, das Königin Donna um keinen Preis der Welt ungeahndet lassen konnte.

Sie hätte sich sonst dem Altern und allen damit verbundenen Gefühlen stellen müssen, besonders der Ohnmacht dagegen. Ohnmacht, das war ein Wort, das in ihrem Sprachschatz nicht mehr vorkam, seit sie beschlossen hatte, zu den Gewinnern im Leben zu gehören. Wie immer gab es auch hier zwei Wege, von denen nur einer zum Ziel führte, Eins oder Null, wir kennen sie bereits. Donna war sich nicht bewusst, an welch wichtigem Kreuzungspunkt sie diesmal angelangt war. Hier entschied es sich endgültig, welche innere Gestalt sie später im Aussen tragen würde. Einst, wenn Jugend nur mehr eine ferne Erinnerung in ihrem Leben sein würde, wenn Schönheit einzig und allein aus ihrem Herzen kommen konnte oder aber gar nicht, würde sich zeigen, dass sie den falschen Weg gewählt hatte. Dann könnte es sein, dass sie die Züge der bösen Stiefmutter tragen würde und nicht die der Weisen Frau.

Bianca war verletzt und unglücklich. In ihrer Phantasie malte sie sich aus, wie sie von daheim weglaufen und ihre Mutter in Ungewissheit und Sorge zurücklassen würde. Zuletzt schien ihr das der einzige Ausweg, der drohenden "Verbannung" zu entgehen. Ja, das war's! Sie würde ihrer Mum einen Denkzettel verpassen! Ob sie sich wohl sorgte um ihre Tochter, sie suchte und bereute, dass sie sie hatte wegschicken wollen? Ob Bianca ihrer Mutter wohl wirklich etwas bedeutete und nicht nur ihrer narzistischen Selbstbestätigung diente? So genau konnte das Mädchen allerdings nicht formulieren, was es mit seiner Flucht eigentlich wirklich bezweckte. Nur ein ungewisses Gefühl, nicht geliebt zu werden, stellte sich bei ihr ein, so stark wie nie zuvor in seinem jungen Leben.

Leider begann der Kellner auch hier, im Cafe schon, die Sessel auf den Tisch zu stellen. Meine neue Freundin, die Fee, zeigte nun endlich auch Wirkung, nach einer beachtlichen Folge von Cognacs. Ich hatte mich schon zu fragen begonnen, ob mein Geldbeutel ihrem Verbrauch denn auch gewachsen sein würde. Wir beschlossen also, unsere Konferenz auf ein andermal zu vertagen, denn auch ich war schon müde geworden.
Anderntags trafen wir einander in einem nahegelegenen Park wieder und suchten eine Bank in einem wenig begangenen Teil der Anlage, um ungestört zu sein. Als Proviant und um die Redefreudigkeit der Fee zu fördern, hatte ich einen Doppelliter Rotwein erstanden und zwei Gläser mitgebracht. Weil meine Gesprächspartnerin offenbar sehr auf die Form hielt, beteiligte ich mich mehr am Weingenuss, als mir zuträglich war. Trotzdem hoffe ich aber sehr, alles richtig wiederzugeben und nichts vergessen zu haben.


3.KAPITEL

Bianca war von zu Hause weggelaufen. Das lief bei ihren Lebensumständen so ab, dass der Privatchauffeur vergeblich im schwarzen Chrysler mit den verdunkelten Scheiben vor der Schule gewartet hatte. Als das letzte Mädchen aus dem Tor gekommen war und niemand mehr vor dem Schulportal zu sehen war, wurde er unruhig. Vielleicht musste Bianca länger bleiben? Dann hätte man ihn aber verständigt, man liess niemanden aus dem Haushalt Donnas warten, auch nicht den Chauffeur! Als ihm klar wurde, dass das Warten umsonst sein würde, ging er in die Direktion, um nach Bianca zu fragen. Sie hatte die Schule nach dem Unterricht verlassen, wie alle Anderen, zumindest hatte eine Lehrerin sie noch in der Garderobe gesehen, wie sie glaubhaft versicherte.

Wo war sie aber dann, verdammt, sie konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben! Das hatte sie auch nicht, nein. Nur hatte sie sich nach dem Ankleiden hinter einem Mauervorsprung versteckt, um abzuwarten, bis der Chauffeur endlich aufgab und verschwand. Dann verliess sie ungesehen das Schulgebäude und tauchte unter im Getriebe der Grosstadt.

Panik und Betiebsamkeit brachen aus im königlichen Penthouse. Donna hatte an diesem Tag einen Probetermin für eine neue Fernsehshow gehabt und war direkt am Set vom Verschwinden ihrer Tochter verständigt worden. Sie war vor Aufregung und Sorge halb verrückt und hatte schon mit allen Polizeistationen und Krankenhäusern telefoniert. Nichts. Der arme Diego, der sie beruhigen wollte und ihr einen Drink nachtrug, bekam denselben auf der Stelle mit wilden Flüchen und Beschuldigungen zurück. Sie schlug ihm das Glas einfach aus der Hand! Da stand er nun, wie ein begossener Pudel, verdutzt und gescholten, trug seiner königlichen Liebsten ihr Benehmen aber nicht weiter nach. In solch einer Situation war es kein Wunder, wenn sie durcheinander und gereizt war!

Am nächsten Tag hing überall, in allen Polizeistationen Biancas Bild aus, und alle Fahndungscomputer waren mit ihren Daten gefüttert worden. Die Titelblätter sämtlicher Zeitungen überboten einander mit den wildesten Schlagzeilen:

"TOCHTER VON DONNA VERMISST! WURDE SIE ENFÜHRT?!" oder
"DONNA ERWARTET LÖSEGELDFORDERUNG FÜR ENTFÜHRTE TOCHTER!"
"DONNAS TOCHTER VERSCHWUNDEN: RACHE EINES ABGELEGTEN LIEBHABERS?" uswusf.

Inzwischen bummelte Bianca auf den belebten Strassen der City dahin und wusste nicht so recht, wohin mit sich. Anscheinend hatten alle Menschen hier ein Ziel, mussten dringend von dahin nach dorthin, wurden irgendwo erwartet. Inzwischen wurde es auch langsam dunkel, die Strassenbeleuchtung flammte auf. Eigentlich hätte sie auch schon etwas zu Essen vertragen können. Ein nagendes Gefühl in der Magengrube machte sich bereits bemerkbar. Warum hatte sie eigentlich ihren Schlafsack nicht mitgenommen? Und wo sollte sie die Nacht verbringen? Von zu Hause aus hatte die ganze Wegrennerei viel leichter ausgesehen als jetzt, wo sie mittendrin war in ihrem Abenteuer. Sie konnte immer noch zurück, einfach umdrehen und zu Hause anrufen: "Hallo, ich bin's! Ich bin hier, bitte, holt mich ab!" Verlockend eigentlich! An der nächsten Telefonzelle, an der sie vorbeikam, wäre sie fast schwach geworden. Doch nein, so leicht wollte Bianca nicht aufgeben und zu Kreuze kriechen, das war sie sich selbst schuldig! Trotzdem, ohrfeigen hätte sie sich können, weil sie nicht genug warme Kleidung mitgenommen hatte, um ihrer Mutter keine Anhaltspunkte zu geben! Jetzt war es empfindlich kühl geworden, immerhin war es September, und die Nächte konnten schon kalt sein für jemanden, der sie im Freien verbringen musste. Bianca war auf ihrer Wanderung an einer der grossen U - Bahnstationen angelangt. Angenehm warme Luft drang aus den Tiefen der unterirdischen Gänge und Schächte zu ihr herauf. Hier eine kleine Rast einzulegen konnte nicht falsch sein. An einer Imbissbude kaufte sie sich einen Cheeseburger und Cola. Gleich darauf bereute sie, nicht heissen Tee gekauft zu haben, um sich wenigstens ein wenig aufzuwärmen. Die abendliche Stosszeit schien vorbei zu sein, denn das hektische Hin und Her, einem wuselnden Ameisenhaufen gleich, hatte sich verlaufen und einer etwas ruhigeren Gangart Platz gemacht. Sie war ganz offensichtlich nicht die Einzige hier, die nicht irgendeinem fernen Ziel zustrebte, von dem man meinen mochte, es läge im Inneren des unterirdischen Labyrinths verborgen. Mehrere Menschen sassen herum oder schlenderten scheinbar ziellos in der Schalterhalle umher.

Manche standen in losen Gruppen, halbvolle Bierflaschen in den Händen, inmitten eines Zirkels aus leeren Bierflaschen. Das wirkte auf Bianca, als bildeten diese Menschen Inseln, nur von einer Spezies bewohnt, Bierinseln für Biertrinker. Unter ihnen waren einige, ziemlich verwahrlost aussehende Gestalten. Wäre sie einem von ihnen alleine begegnet, sicher hätte sie einen weiten Bogen um ihn gemacht. Aber, keiner schien in irgend einer Weise besonders von ihr Notiz zu nehmen. Sie schienen dem Mädchen wie Gespenster, die einer anderen Realität entstammend, nicht wirklich hier zu Hause waren, fahl und seltsam unlebendig. Jetzt, da Biancas Aufmerksamkeit erregt war, nahm sie auch andere Arten von Inseln wahr, deren Einwohner sie allerdings nicht einordnen konnte. Es fiel ihr nur auf, dass diese, im Gegensatz zu den Bierinselleuten, ziemlich jung waren. Niemals in ihrem Leben war sie solchen Gestalten begegnet, wie denn auch! Musste sie den Penthouse-Palast einmal verlassen, geschah das in der schon beschriebenen Limousine samt Chauffeur. Ihr Alltag hatte sich niemals berührt mit dem der hier lebenden Geschöpfe. Nun ja, ihr Leben war bisher behütet und abgeschirmt verlaufen, sonst wäre es ihr nicht schwer gefallen, diese Menschen zu erkennen. Sie bewohnten die Insel der künstlichen Träume, die gleich neben dem Eiland des Todes zu finden ist.

Eine Gestalt schien eine Insel für sich zu sein. Ein deutlich erkennbarer Halo aus Einsamkeit umgab sie. Ihr Anblick war kurios und wundersam, sie wirkte, wie einem Märchenbuch entstiegen. Zerlumpt, mit grauem, strähnigen Haar und fast zahnlos, schob sie einen Einkaufswagen vor sich her, der mit allerlei Undefinierbarem gefüllt war. Ein grosser Schlapphut krönte die ganze Erscheinung. Seltsam, in dieser unterirdischen Schattenwelt wirkte sie als Einzige real, trotz ihrer irren Aufmachung!

Die Fee kicherte belustigt vor sich hin, als sie mir von ihrer ersten Begegnung mit Bianca erzählte. Sie war sich ihrer eigenartigen Wirkung auf andere Menschen wohl bewusst, und es hatte sie amüsiert, wie verblüfft das Mädchen damals auf ihre Erscheinung gestarrt hatte, als sähe sie ein Gespenst.

Die Gestalt lächelte Bianca zu. Ja, es konnte kein Zweifel bestehen, ausser ihr war da niemand zum Anlächeln. Verwirrt sah das Mädchen zu Boden. Was konnte die komische Alte nur von ihr wollen! Als Bianca wieder aufblickte, stand die Erscheinung direkt vor ihr. Das wäre Bianca auch mit geschlossenen Augen nicht verborgen geblieben, die Frau bewegte sich in einer Aura aus Schnapsgeruch und ungewaschener Wäsche. Aber ihre Augen! Man konnte sich ihrem Blick nicht entziehen! Bianca meinte, ihre ganze Geschichte, alles, was sie je gedacht, getan und gefühlt hatte, würde aus den verschlossenen Räumen ihres Inneren herausgesaugt, hinein in die Augen dieser seltsamen Frau. Die fackelte auch nicht lange und sprach das Mädchen ohne Umschweife an:

"Hast' dich wohl verlaufen in deinem Leben und weisst nicht wohin, Prinzessin? Ja, ja, brauchst mir nichts zu erklären, ich weiss, weiss alles. Brauchst jetzt einen Platz zum Ruhen und Nachdenken. Komm nur mit, meine Kleine, komm mit der Fee; die Fee weiss ein feines Plätzchen für dich, wo sie dich nicht finden werden.....jajaja, hihihihihi....!"

Was sie weiter noch sagen mochte, ging unter in einem unverständlichen Gemurmel, immer wieder unterbrochen von irrem Gekicher. Doch so unheimlich die Alte sich auch benahm, Bianca fühlte sich dennoch beschützt und geborgen in ihrer Gegenwart. Sie folgte der Fee, als sie mit dem Lift ins unterste Stockwerk fuhr und dort zielstrebig auf eine Pizzabude zuschlurfte. Was konnte sie da denn wollen?

Bianca erwähnte schüchtern, sie hätte keinen Hunger mehr, doch die Fee legte verschwörerisch den Zeigefinger an die Lippen und hiess sie zu schweigen. Der Pizzaverkäufer zeigte keinerlei Spur von Erstaunen, als die beiden seinen Verkaufsraum durchquerten und hinter einem Vorhang verschwanden. Dort zog die Fee einen Schlüssel aus einem ihrer vielen Nylonsäcke und schloss eine Türe auf. Dahinter führte ein matt beleuchteter Gang waagrecht ins Irgendwo. Die Alte liess den Einkaufswagen stehen und nahm nur einen Nylonsack mit auf den Weg. Dann wieder eine Tür, diesmal unverschlossen, ein Treppenabgang, wieder eine Türe. Bianca fragte sich, wie weit sich dieses Labyrinth wohl ausdehnen mochte, und ob sie jemals alleine hier wieder herausfinden würde. Dann war es auch noch vorbei mit der elektrischen Beleuchtung! Aber, die Fee war für hier unten bestens ausgerüstet. Aus dem Nylonsack tauchte eine Laterne mit einer Kerze im Inneren auf. Weiteres Rascheln, die Fee kramte hörbar in ihrem Sack. Gleich darauf zerriss die Flamme eines billigen Plastikfeuerzeuges das Dunkel. Bianca erkannte im flackernden Licht der Laterne einen Tunnel mit feucht glänzenden Wänden. Da waren auch Geleise, immer wieder stiess ihr Fuss an Bahnschwellen. Oh, Gott, wenn ein Zug käme und....! "Hab' keine Angst, meine Süsse, hier fahren schon lang keine Züge mehr!" Die Fee mochte ihre Gedanken erraten haben und beruhigte das Mädchen. Wie lange sie nun schon in diesem Tunnel waren? Bianca hatte das Zeitgefühl verloren. Hier schien Zeit nicht die gleiche Bedeutung zu haben, wie anderswo. Bald meinte sie, das gedämpfte Geräusch fliessenden Wassers zu hören. Dann öffnete die Fee unversehens wieder eine Türe in der Wand des Tunnels.Ein enger Gang öffnete sich vor ihnen. Er führte leicht abwärts und wandte sich dann im rechten Winkel nach links. Genau dort war wieder....erraten eine Türe. Alt und morsch hing sie in den Angeln und quietschte beim Öffnen. Nun wurde Bianca das Ganze schon ziemlich unheimlich und sie fragte ins Dunkel hinein: "Sag einmal, was ist das hier eigentlich? Ich beginne mich schon zu fragen, ob wir überhaupt je irgendwo ankommen." "Wart's ab, Prinzessin! Dein unterirdischer Palast ist gar nicht mehr weit. Bald sind wir da, du wirst sehen!" Beim letzten Wort öffnete sie wieder eine Türe und hiess Bianca einzutreten in einen dämmrigen Raum. Bald hatten sich Biancas Augen an die Dunkelheit gewöhnt, und die Fee hob die Laterne hoch, um den Raum besser auszuleuchten. Was Bianca nun sah, liess sie vor Erstaunen den Atem anhalten. Die Wände waren mit Bäumen aller Art bemalt, dass man meinte, mitten in einem Wald zu stehen. Im flackernden Kerzenlicht wirkte die Szene seltsam lebendig. Als die Alte zwei weitere Kerzen anzündete, erkannte das Mädchen, dass sie sich ganz offensichtlich in einer Behausung befanden. Der Raum mochte ungefähr zwanzig Meter im Quadrat messen. An einer Längswand war eine Art Matratzenlager zu erkennen, mit einer bunt zusammen gewürfelten Menge von Decken und Polstern. Auf manchen der Betten sass ein alter Teddybär oder ein Stofftier, auf einem stand ein riesiger Dinausaurier aus Plastik, Tyrannosaurus rex, um genau zu sein. Verblüfft starrte Bianca auf dieses unerwartete Sammelsurium. Wo war sie da nur hingeraten? Wer, oh grosser Wakan -Thanka, konnte hier denn wohnen, noch dazu mit Kindern, wie es den Anschein hatte! Die Fee wirkte belustigt ob Biancas offensichtlicher Verwirrung. Wieder liess sie ihr hohes Altweiberkichern hören: "Hihihi,...jajaja, mein Prinzesschen, das hättest du dir wohl nicht erwartet, so eine gemütliche Behausung!" Sie nahm eine Blechschale von einem improvisierten Tisch, der aus einer alten Tür bestand, die man über zwei Holzböcke gelegt hatte und forderte sie auf: "Hier, trink, Mädchen und iss auch ein bisschen was!" Mit diesen Worten reichte sie Bianca eine Packung Chips. Andere Esswaren waren wohl im Augenblick nicht verfügbar. "Und nun werde ich dich allein lassen, mein Täubchen. Du musst dich jetzt ausruhen, jajaja, ausruhen, jaja, schlafen, ja....musst ja so müde sein,..schlaf, mein Prinzesschen, schlaf tief und lang.......jajaja schlafen,........ wirst gut schlafen.....!" Und tatsächlich, Bianca merkte erst jetzt, dass ihre Glieder vor Müdigkeit schwer wie Blei waren.

Sie hätte noch gerne so viel gefragt, aber die Augen fielen ihr von selbst zu. Als die Fee ihren suggestiven Sing - Sang beendet hatte, war das Mädchen bereits quer über alle Betten hingesunken und schlief tief und fest.


4.KAPITEL


Bianca fand sich nicht gleich zurecht, als sie die Augen aufschlug. Wo war sie denn eigentlich? Ach ja, die Fee, die Gänge, die vielen Türen...der Wald....ein seltsam, wirrer Traum, der sichtlich noch nicht zu Ende war. Gesichter über ihr, im flackernden Kerzenlicht wie Koboldsfratzen, flüsternde Stimmen: "He, sie wacht auf! Erschreckt sie nicht!" Gleich darauf wusste Bianca, dass sie nicht träumte. Sie erinnerte sich wieder, ja, sie war von daheim fortgelaufen, dann war sie in wohl die Bewohner dieser seltsamen Behausung zurückgekehrt. Sie richtete sich auf und sah sich etwas unsicher und verschämt um. Ihre Gastgeber waren Kinder, ein unterirdischer Kindergarten diente ihr also als Unterschlupf! Träumte sie vielleicht doch noch? Ein etwa vierzehnjähriger Knabe baute sich vor ihr auf. Er war in einen alten, viel zu grossen Pullover und eine verschlissene Jeans gekleidet, auf seinem Kopf sass eine Basketballmütze, verkehrt herum, ein Markenzeichen aller "Kids", die Wert darauf legten, für cool zu gelten. Sein Gesicht war nicht ganz sauber.

"Hei, ich bin Bippo," seine Stimme war brüchig und wechselte manchmal die Tonhöhe. Er bemühte sich aber, sie in männlich, sonorer Tiefe zu halten.

"Ich bin der Chef hier in unserer Bude, und das sind meine Männer." Dabei wies er mit weitausholender, jovialer Geste auf eine Gruppe Kinder aller verschiedener Grössen, lauter Knaben. Dann fuhr er mit seiner Begrüssungsrede fort:

"Die Fee hat uns gesagt, dass du eine Bleibe brauchst, weil du daheim Troubles hast. Geht in Ordnung, solang du o.k. bist. Nur, eines musst du gleich wissen: aus fremden Schüsseln essen und die Sachen von anderen trinken, oder überhaupt bei einem von uns lange Finger machen, läuft nicht! Das ist Gesetz!"

Bianca versuchte, schuldbewusst zu erklären, dass sie so durstig und hungrig gewesen sei, und die Fee hätte doch gesagt....

"Ist schon gebongt," versetzte er grosszügig, "nur für's nächste Mal, damit du's gleich weisst. Überhaupt, bei uns muss jeder seinen Job machen, für dich gibt's da auch keine Ausnahme."

Bianca war ein wenig eingeschüchtert und fragte unsicher: "Was meinst du denn mit Job?" Ein wenig verächtlich ob solcher Unwissenheit kam die Antwort:

"Na ranschaffen und organisieren eben, oder glaubst du, der Weihnachtsmann bringt das Essen und die Kohle?"

"Ich sehe hier gar keinen Ofen. Wozu braucht ihr denn Kohle ?"

Stille im Raum. Dann prustendes Gelächter. Es wollte gar nicht mehr enden. Immer, wenn es sich zu beruhigen schien, begann einer wieder herauszuplatzen und riss die Anderen mit.

"He, hör mal, du scheinst ja ein richtiges Schneewittchen zu sein! Kohle, Geld natürlich, Moneten, Eier, Zaster oder auch Kröten! Hast du bisher eigentlich auf dem Mond gelebt!"

Nun auf dem Mond hatte Bianca natürlich nicht gelebt, trotzdem war ihre bisherige Welt zumindest gleich weit entfernt von Alldem hier wie sämtliche Planeten, vom Mond bis zum Saturn. Sie fühlte, dass ein tiefer Graben ihre und die Geschichte ihrer Gastgeber trennte, und das hiess, sie hätte einiges zu lernen, wenn sie hierbleiben wollte. Jedenfalls kam sie sich vor wie ein Erstklässer, der von einem Lehrer zurechtgewiesen wird. Sie wollte versuchen, alles zu erklären, aber würde sie verstanden werden? Vermutlich nicht. Als sie trotzdem etwas umständlich zu einer Erklärung ansetzen wollte, unterbrach Bippo sie und meinte:

"Ich kann mir schon denken, wer du bist, sind ja alle Zeitungen voll von der Geschichte. Wenn du nicht willst, musst du nichts über dich erzählen. Da sind einige unter uns, die auch nicht gerne reden über früher. Haben ihre guten Gründe dafür, würd' ich meinen." Zustimmendes Nicken einiger Knirpse bekräftigte seine Aussagen. "Und jetzt komm, ich zeig dir dein Bett, und dann werden wir überlegen, welchen Job du machen kannst!"

Bianca gab sich alle Mühe, sich in der befremdlichen Welt einzuleben, in die sie da geraten war, aber es war nicht leicht, gar nicht leicht. Niemals vorher war sie je in der Situation gewesen, sich um lebensnotwendige Dinge wie Essen und Kleidung kümmern zu müssen. Jede Art von Luxus war eine Selbverständlichkeit in ihrem Leben gewesen, alltäglich und unhinterfragt. Niemals vorher hatte sie die ungetrübt, existentielle Befriedigung kennengelernt, die es bedeutete, satt zu werden, nicht frieren zu müssen, eine Unterkunft zu haben, einfach wieder einen Tag überlebt zu haben. Was waren dagegen ihre anfänglichen Skrupel gegen Diebstahl und Bettelei! Ihr langsam sich entwickelnder, neuer Blick liess ihr diese Tätigkeiten als grundlegende Fertigkeiten erscheinen, die sie in Wirklichkeit auch waren: die Überlebensstrategie der an den Rand der Gesellschaft Gedrängten. Langsam erfuhr Bianca auch etwas mehr über ihre neuen Freunde. Sie öffneten sich ihr mehr und mehr, weil sie fühlten und merkten, dass das fremde Mädchen sich redlich bemühte, mit Respekt und wirklichem Interesse ihre Welt zu betreten. Bianca lernte nach und nach das Schicksal eines Jeden kennen. Sie erkannte die ganz besondere Einzigartigkeit jeder Biographie, sah aber auch das Verbindende. Es war die frühzeitige Verletzung, der Mangel an den unverzichtbaren Dingen der Kindheit, Geborgenheit, Zuwendung, Bestätigung und elterlicher Liebe. Ihre Hochachtung vor diesen tapferen, kleinen Menschenkindern wuchs mit jedem Tag. Sie schlugen sich alleine durch, ersetzten einander die Familie, so gut es eben ging, lebten nach ihren eigenen Gesetzen und nach ihrem eigenen Moralkodex.

Da war Bippo, der "Chef". Sein Vater hatte die Arbeit verloren, damit auch sein Selbstwertgefühl und füllte diese Lücke dann mit Alkohol. Die Familie verarmte, Gewalttätigkeit und Alkoholexzesse begannen den Alltag zu bestimmen, als auch seine Mutter dem Trinken mehr und mehr verfiel. Die Kinder verwahrlosten. Tagelang hatte es kein richtiges Essen gegeben, und Schläge und wüstes Gezank waren an der Tagesordnung gewesen. Eines Tages hatte Bippo beschlossen, dass er seinen jüngeren Bruder vor der Gewalttätigkeit des Vaters schützen musste. Er hatte Tino an der Hand genommen und die ungemütliche Stätte verlassen. Seitdem lebten beide hier. Tino war ein zartgliedriger und beweglicher kleiner Junge.

Das befähigte ihn dazu, in kleinste Lücken zu kriechen, so klein, dass gerade eben einer Katze der Durchschlupf gelingen mochte, oder aber Tino. Er war ein Meister seines Faches. Obwohl erst zehn Jahre, hätte er es mit jedem Meisterdieb in der Stadt aufgenommen.

Tommy dagegen, elf Jahre alt, bettelte mit einer Professionalität, die einem Erwachsenen Ehre gemacht hätte, vorausgesetzt, man legt den Begriff Ehre nicht so eng aus. Er versorgte die kleine Gemeinschaft mit dem nötigen "Wirtschaftsgeld", pflichtbewusst und verlässlich, wie er es selber niemals vorher erlebt hatte. Seine Mutter hatte es vorgezogen, ihrer Wege zu gehen und hatte den Buben der Grossmutter überlassen, ohne sich je wieder ernsthaft um ihn zu kümmern. Als die Grossmutter längere Zeit ins Spital musste, war er ganz sich selbst überlassen geblieben. Seitdem lebte er hier, im alten U-Bahnschacht.

Dann war da Mr.Jack ( Tschak, er bestand auf dieser Aussprache), dreizehn Jahre alt. Er war ein begnateter Maler, und seine Kunst war am Beginn seiner Karriere brotlos gewesen, darin unterschied er sich nicht so sehr von seinen oberirdischen Kollegen. Später dann konnte er einen erwachsenen Künstler finden, der seine Bilder als seine eigenen verkaufte, und ihm einen Anteil am Erlös bezahlte. Natürlich wurde er übers Ohr gehauen, aber, was blieb ihm übrig, als das hinzunehmen, da er im Verborgenen leben musste! Er war es, der die karge, unterirdische Behausung durch seine wändefüllende Malerei in einen wunderbaren Zauberwald verwandelt hatte. Entzündete man die Kerzen, war man in die Düsternis zwischen riesigen Eichen und Tannen versetzt. Fabeltiere wohnten hier, und Elfen huschten zwischen den Bäumen umher. Der Reichtum seiner inneren Welt verblüffte Bianca jeden Tag aufs Neue. Er war das einzige Kind eines drogensüchtigen Künstlerpaares, das schon seit Jahren zwischen Entzug und Rückfall hin und herpendelte. Mr. Jack hatte schon einige Pflegplätze hinter sich, aber, er hatte sich niemals so richtig eingewöhnen können, dazu war er viel zu eigenwillig und individualistisch.

Das waren bis jetzt vier der Sieben.

Der fünfte Zwerg hiess "der Ingenieur". Eigentlich war sein Name Oliver, aber, weil es seine besondere Begabung war, alles Mögliche und Brauchbare aus gefundenen Einzelteilen zusammenzubauen, wurde er Ingenieur genannt. Der Spirituskocher war seine Konstruktion und auch die Alarmanlage, die es den Kindern ermöglichen sollte, bei Gefahr schnell zu verschwinden. An einer allen Bewohnern bekannten Stelle war ein Draht quer über den Zugangsweg gespannt worden, der eine Glocke bewegte, wenn jemand darüber stolperte. Natürlich wurde dieser Alarm des öfteren auch von den Zwergen selbst ausgelöst, weil sie oftmals einfach darauf vergassen. Das hatte dann den gleichen Effekt wie eine sogenannte Feuerprobe. Als das häufiger passiert war, hatten sie sich darauf geeinigt, dass derjeneige, der unbeabsichtigt den Alarm auslöste, etwas in die gemeinsame Kasse zahlen musste. Oliver stammte eigentlich aus guten Verhältnissen, sein Vater war Computerfachmann. Nach der Scheidung seiner Eltern war er beim Vater geblieben, weil der neue Freund der Mutter ihn nicht hatte haben wollen. Später, als der Vater eine neue Familie gründete, blieb Oliver auch dort ein Fremdkörper, weil er sehr still und verschlossen war. Hier, unter den Kameraden, hatte er sich gleich von Anfang an angenommen gefühlt. Merkwürdig, nicht wahr?

Nummer sechs hiess hier unten "Troubadix", wie er sonst noch hiess, wusste niemand.
Er war so alt wie der Chef, etwa vierzehn Jahre, rothaarig, sommersprossig und sehr zart gebaut. Auch seine Arme und Beine wiesen einen dichten, roten Flaum auf. Sprechen gehörte nicht zu seinen Begabungen, er war nämlich Stotterer. Auch sonst war er ziemlich linkisch und sehr schüchtern. Seine Liebe gehörte der Musik. Zu seinem Leidwesen funktionierte sein kleines, batteriebetriebenes Radio hier unten nicht. Darum sass er gerne und ausgiebig im "Vorgarten" der Zwerge, am Ufer des Flusses, von dem später noch die Rede sein wird. Dort frönte er hingebungsvoll seiner Leidenschaft. Natürlich genügte ihm dieses rein passive Vergnügen nicht. Deshalb bastelte er, vom Ingenieur fachkundig unterstützt, ständig an diversen Instrumenten aus leeren Dosen, Kisten und Rohren. Seine Musikdarbietungen fanden bei seinem Publikum meistens etwa so viel Anklang wie die seines Namenspatrons aus dem allseits bekannten Gallischen Dorf. Das erfüllte ihn mit Melancholie, die ihn dann wiederum zu erneuter, musikalischer Kreativität inspirierte, ein schöpferischer Teufelskreis! Er war der Einzige, der Bianca niemals seine Lebensgeschichte anvertraut hatte. Bippo war es gewesen, der ihr, unter dem Siegel der Verschwiegenheit, ein wenig über ihn erzählt hatte. Er entstammte einer ziemlich wohlhabenden, sehr katholischen Familie und war Internatszögling eines stengen und angesehenen Knabeninstitutes gewesen. Ein besonders liebevoller Pater hatte ihm monatelang gezeigt "wo Gott wohnt". Dort allerdings hätte der arme Kleine ihn niemals vermutet! Niemand wollte der Sache wirklich auf den Grund gehen, als er sich endlich in seiner Not an Eltern und Direktor gewandt hatte. Man zog es vor, ihn als pathologischen Lügner zu behandeln und von der Schule zu entfernen. Später war die Sache dann aufgeflogen, weil mehrere Schüler an die Öffentlichkeit gegangen waren. Dabei war bekannt geworden, dass eine Gruppe von einigen Geistlichen sich die Knaben gegenseitig zugespielt hatte. Da war der arme Junge schon untergetaucht und lebte seit damals hier, wo er sich sicher fühlte und ihn niemals jemand der Lüge bezichtigt hatte.

So hatte eben jeder der Sieben seine ganz persönliche Leidensgeschichte, seine besonderen Fähigkeiten und auch seinen Platz im Sozialgefüge des Zwergenreiches.
Nur mit Ali, einem kleinen, zarten Jungen mit rabenschwarzem Haar und grossen, erstaunt blickenden Augen wurde eine Ausnahme gemacht. Er blieb nun tagsüber der Aufsicht Biancas überlassen. Seine Mutter hatte mit ihm alleine in einem Wohnwagen am Stadtrand gelebt, bis sie an einer Überdosis Heroin gestorben war. Damals war er vier Jahre alt gewesen. Zwei Tage und Nächte hatte er mit der Leiche seiner Mutter im Wohnwagen verbracht, dann hatte ihn der Hunger hinausgetrieben, wo er herumirrte, bis jemand ihn auf der Polizei abgegeben hatte, wie ein Fundstück. Nach gescheiterten Gastspielen bei diversen Pflegefamilien landete er schliesslich in einem Heim für verhaltensauffällige Kinder. Eines Tages war es dem Knirps gelungen, auszureissen. Seit damals lebte er bei seiner neuen Familie, hinter den sieben Türen. Er war sechs Jahre alt, sprach und wuchs seit dem Tod seiner Mutter nicht mehr. Meistens stand er irgendwo, seine Augen auf etwas nur ihm Sichtbares gerichtet, den Daumen im Mund und seinen geliebten Dinosaurier an sich gedrückt. Er war das Einzige, was er aus seinem früheren Leben hierher retten hatte können. Das Kerlchen verweigerte auf diese Art dem Leben, was es ihm schuldig geblieben war. Mit seiner Gesundheit stand es auch nicht zum besten. Er trug den Keim einer tödlichen Krankheit in sich, ein Geschenk seiner verstorbenen Mutter. Zwar hatte niemals ein Arzt dezitierte Diagnose HIV-positiv gestellt, doch hier, im dämmrigen Reich der Erde genügte die Ahnung, sie musste nicht zum Wissen werden. Die kleine Gestalt Alis schien immer durchsichtiger zu werden und von Tag zu Tag immer mehr zu schwinden. Man konnte sich an einer Hand ausrechnen, wann seine Lebenskraft aufgezehrt sein würde. Eines Nachts wachte Bianca auf und spürte, dass sie nicht alleine in ihrem Bett war. Als sie die Decke zurückschlug, sah sie Ali.

Er lag dicht an sie geschmiegt, einen Daumen im Mund, einen Arm um seinen geliebten Dinosaurier. Vorsichtig deckte Bianca die Decke wieder über sie beide und bemühte sich, möglichst ruhig liegen zu bleiben. Ali behielt seinen neuen Schlafplatz von nun an bei, und dieses Arrangement sollte sein und Biancas kleines Geheimnis bleiben. Wo das Mädchen auch stand oder sass, Ali war an seiner Seite, und manchmal schlüpfte eine kleine Hand verstohlen in die ihre, wo sie still verharrte, wie ein kleines Vögelchen in seinem Nest. Bald darauf sagte er sein erstes Wort. "Bianca," kam es scheu und etwas brüchig aus seiner sprachungewohnten Kehle. Dieses eine Wort umfasste alles, was er so sehr vermisst hatte, und gleichzeitig gab es seiner Hoffnung Ausdruck, es in Bianca wiederzufinden. Diese neue Verantwortung lag Bianca schwer auf dem Gemüt, die ungewohnte Mutterschaft öffnete aber auch die Türe zu einem verborgenen Raum in ihrem Inneren und brachte bisher ungehobene Schätze ans Tageslicht: Liebesfähigkeit und Verantwortungsbewusstsein.


5.KAPITEL


Nach und nach lernte Bianca die Lebensgeschichte eines jeden ihrer "sieben Zwerge" kennen. Sie lernte aber auch, wie man Lebensmittel aus den grossen Abfallcontainern der Supermärkte holte und Kleidung und Decken aus den Säcken der Altkleidersammlung "besorgte". Eine beliebte Quelle für Kleidungsstücke war auch der Flohmarkt. Knapp bevor die Händler ihre Stände abbauten, verschenkten sie oftmals die Kleidungsstücke, die sie nicht verkaufen hatten können. Bianca aber durfte nur nachts ihr unterirdisches Reich verlassen, um nicht gesehen zu werden. Denn immer noch wurde nach ihr gesucht. Den Tag verbrachte sie gerne am Ufer des Flusses vor ihrer Behausung. Ein kurzer Gang öffnete sich von der Schmalseite ihres Raumes zu einer Gittertüre, die im Winter mit alten Matratzen und Lumpen gegen die Kälte verschlossen wurde, und die einzige, natürliche Lichtquelle war. Dann musste man etwa eineinhalb Meter hinunterspringen und war im Bachbett, dessen Wände hoch aufragend dazu gebaut waren, Jahrhundert- Hochwasser in die Schranken zu weisen. Hier konnte man sich ungesehen aufhalten. Man konnte sogar baden, wenn es das Wetter erlaubte. Die Zwerge schärften Bianca täglich, bevor sie zu ihren Besorgungstouren aufbrachen ein, sich nur ja nicht sehen zu lassen, dann wäre es vorbei mit ihrer aller Leben im bergenden Schoss der städtischen Eingeweide.

Die Tage flossen vorbei wie der Fluss vor ihrer "Haustüre", gleichmässig und still. Diese Stille war aber nicht die Ruhe eines erfüllten, zufriedenen Lebens, wie sollte sie auch! Es waren Kinder, die hier lebten! Kinder, denen das Leben alles, bis auf das gerade noch physisch Allernotwendigste, versagt hatte, und auch das mussten sie sich erstehlen! Wen wundert es, dass sie den unstillbaren Hunger ihrer Seelen mit etwas leichter Erhältlichem zu sättigen versuchten. Es war Ersatz, Surrogat und füllte ihre Leere nicht, aber es betäubte, beruhigte die Schreie in ihrem Inneren, machte sie erträglich. Die Zwerge schnüffelten Klebemittel, regelmässig und ausgiebig. Nicht einmal Ali, ihren kleinen Schützling, konnte Bianca immer davon abhalten, sein kleines Näschen in die Tüte zu stecken! Dabei war das gefährlich für ihn, mehr, als für alle Anderen. Seine Lunge war durch die Krankheit äusserst angegriffen. Bianca erschienen ihre jugendlichen Gastgeber wie schlafende Keimlinge, deren Leben sich im Reich der Erde erfüllen sollte. Es war zu befürchten, dass sie niemals Frühling, Sommer und Erntezeit erfahren, niemals ihre Blüte im vollen Licht der Sonne entfalten würden.

Die einzige Abwechslung im gleichförmigen Einerlei der Tage waren für Bianca die Besuche der Fee. Wie immer, wenn sie kam, brachte sie sowohl skurrile als auch brauchbare Dinge in ihrem Zaubersack mit. Das Mädchen war gerade damit beschäftigt, einige Kleidungsstücke der Jungen wieder instandzusetzen, eine Kunst, die sie erst mühsam hatte erlernen müssen. Diese Tätigkeit gehörte nun zu ihren Pflichten hier.

"Ja, ja, liess sich meine neue Freundin, die Fee vernehmen. Ich hab' ihnen immer was Schönes mitgebracht, meinen Kleinen! Mal ein Buch, für die, die lesen konnten, mal was zum Naschen oder ein Spielzeug, das irgendwer weggeworfen hat. Haben mich immer schon aufgeregt umringt, wenn ich gekommen bin. War sowas wie eine Grossmutter für sie, hat mir auch gutgetan." Aber, hören Sie, was weiter geschah:

Bianca war alleine an diesem Nachmittag, nur der kleine Ali war bei ihr und baute am Ufer des Flusses aus ein paar Steinen einen Swimmingpool für Dino. Sie musste ihn immer wieder ermahnen, seine Kleider nicht nass zu machen, denn wie so oft plagte ihn wieder einmal ein tief sitzender Husten. Nachts lag er oftmals röchelnd und nach Atem ringend an ihrer Seite, und Bianca tat dann kein Auge zu aus Sorge um den Kleinen. Sie kochte ihm Tee und machte ihm Umschläge. Erfreut sah er auf, als die Fee im Türrahmen erschien. Bianca musste ihr beim Heruntersteigen helfen, obwohl sie vorsorglich einen alten Hocker als Stufe bereitgestellt hatte. "Hallo, meine Süssen," rief die Fee fröhlich, sie hatte gerade vorher zwei Bierchen getrunken und war bester Dinge. Sie kramte in ihrem geheimnisvollen Sack und holte diverse Schätze ans Tageslicht. Da waren ein angebrochenes Säckchen mit Hustenbonbons, ein gestrickter Schal für Ali und ein zerfleddertes Bilderbuch, das sie in einem Abfallkübel gefunden hatte. Glücklich zog er sich an seinen sonnigen Lieblingsplatz auf einem Mauervorsprung zurück und blätterte, Bonbons lutschend, in seinem neuen Schatz, während Dino in seinem neuerbauten Swimmingpool badete. Die Szene vermittelte etwas, wie die Illusion einer ganz normalen Familie: Mutter, Grossmutter und Kind an einem sonnigen Herbstnachmittag in ihrem Garten. Bianca hatte Ali bereits ganz ordentlich das Buchstabieren beigebracht. Der Kleine sog diese neue Kunst in sich auf wie ein ausgetrockneter Schwamm. Er lernte schnell, als wüsste er, dass seine Zeit knpp bemessen war. Begierig las er alles, was nur irgend Buchstaben trug : weggeworfene Zeitschriften, sämtliche Schilder und Beschriftungen, und nun besass er sogar ein eigenes Buch!

Für Bianca hatte die Alte ein Päckchen in ihrem Nylonsack. Aus einem Stück Leder wickelte sie ein Kartenspiel.

"Willst du mit mir Karten spielen, vielleicht tarockieren?" fragte Bianca belustigt.
"Ja, mein Täubchen, Karten spielen, das Spiel des Lebens, jajaja.... willst du dein Leben spielen, hihihi.... ich zeig's dir.....das Leben ist hier drin, in meinem Kartenspiel!" Die Antwort der Fee war der übliche, leiernde Sing - Sang, das Idiom, in dem sie sich gewöhnlich mitteilte. Neugierig geworden, betrachtete Bianca die Karten. Auf jeder war eine altertümliche Szene zu sehen: schwerttragende Ritter, Königinnen, eine Gestalt im Priesterornat. Die Bilder wirkten faszinierend und geheimnisvoll auf das Mädchen. Die Alte hiess Bianca nun die Karten dreimal zu mischen und zweimal abzuheben. Dann legte sie die jeweils unterste Karte aus jedem Packen vor Bianca auf.
Die Erste zeigte eine buntgekleidete Figur. Sie erinnerte Bianca ein wenig an Till Eulenspiegel. Seltsam war nur, dass sie verkehrt an einem Baum hing und dabei offensichtlich nicht zu leiden schien, denn ihr Gesicht zeigte friedliches Einverständnis.
"Das ist deine unmittelbare Vergangenheit," liess sich die Fee vernehmen. Erstaunlicherweise war ihre Sprache jetzt klar verständlich in Artikulation und Syntax, nicht das wunderliche Genuschel, in mit dem sie sich sonst mitzuteilen pflegte.
"Du hast die Welt aus einer ganz neuen Perspektive kennengelernt. Alle deine bisherigen Werte erscheinen dir ins Gegenteil verkehrt oder aber nicht mehr gültig. Was oben war, erscheint dir jetzt als unten und umgekehrt. Ruhig und offen, ohne Angst und Abwehr erfährst und lernst du: das Leben ist so und auch so, es hat viele verschiedene Aspekte und vor allem: es scheint manchmal hart und grausam. Aber immer ist es das Eine, das Leben in seinen Millionen von Formen. Staunend und beeindruckt liess Bianca die Worte der Fee in ihr Inneres sinken wie einen Stein, den jemand in einen Brunnen geworfen hat. Was man aus diesen Bildern alles herauslesen konnte! Und man höre und staune, es stimmte, war die Wahrheit!

Das nächste Bild zeigte......oh, nein, um Gottes Willen! Es war der Sensenmann, das grinsende Gerippe des Todes! Das konnte, durfte nicht sein, war ein Irrtum der Fee, sicherlich! Der strahlende Sonnentag schien sich mit einem Mal zu verfinstern, und Schatten fielen auf Biancas Gemüt. Doch unbeirrbar, mit gleichförmig ruhiger Stimme sprach die Fee weiter: "Der Tod. Etwas oder jemand stirbt. Was dir genau geschehen wird, kann ich nicht sagen. Aber, damit etwas Neues beginnen kann, muss etwas Altes sterben, denn aus dem Tod wächst das neue Leben."
Dieses Spiel begann beunruhigend zu werden und machte Bianca Angst, und die kryptischen Worte der Fee waren nicht gerade dazu angetan, ihr diese Angst zu nehmen. "Ich weiss, du hast Angst," fuhr diese nun fort, "Aber Angst gehört zum Leben, mein Kind, du kannst dich nicht vor ihr verbergen, ohne deine Lebendigkeit zu verlieren, du musst dich ihr stellen, dann passiert dies hier." Mit diesen Worten deckte sie die dritte und letzte Karte auf:

Sie zeigte eine schöne, junge Frau, sie ritt auf einem Löwen. Doch obwohl dieser drohend seine Zähne gegen den Betrachter fletschte, schien die junge Frau keinerlei Furcht vor ihm zu haben. Im Gegenteil, sei schien ihn sogar zu beherrschen. All seine Kraft, seine Macht und Stärke gehörten ihr, flossen ihr zu, das war deutlich zu sehen. So hiess auch die Karte, "Stärke" war darauf zu lesen. Die Fee sprach: "Diese Kraft soll dir gehören, ist dein Erbteil von jeher, wird dich nie wieder verlassen, wenn du dich den Schrecken des Todes stellst." Die Stimme der Alten hallte wider in der steinernen Schlucht der Uferwände. Für einen kurzen Augenblick erschien eine andere Gestalt. Sie überlagerte und durchdrang die lächerlich, skurrile Figur der alten Strotterin mit überirdisch, strahlendem Glanz. Gleich darauf war alles wieder wie zuvor. Der kleine Ali starrte mit weit geöffneten Augen gebannt auf die Erscheinung der Alten. Er hatte also auch gesehen, was Bianca für eine Täuschung gehalten hatte, eine Blendung, verursacht durch die untergehenden Sonne!

Bald darauf kehrten die sechs übrigen Zwerge heim, müde von ihrem Tagwerk, und Bianca hatte alle Hände damit zu tun, ihren Hunger zu stillen. Sie dachte nicht weiter über diesen wundersamen Nachmittag nach. Aber sie verwahrte die Erinnerung daran in ihrem Herzen wie ein Foto in einem Album. Später einmal, wenn dies Alles wie ein ferner Traum hinter ihr lag, würde das wundersame Bild vor ihrem inneren Auge stehen, in lebendiger Gegenwart und Frische. Unbeschädigt vom Fluss der Zeit würde es ihr versichern, dass die kostbaren Momente des Lebens dauerten und durch nichts zerstört werden konnten.


6. KAPITEL


Der Herbst ging vorüber und nahm alles mit sich: die Wärme und das spärliche Licht, das durch ihre "Haustüre" ins Innere des Raumes drang, die goldenen Nachmittage am Ufer......und Ali. Leise, fast heimlich hatte er sich eines Nachts davongemacht aus ihrer kleinen, verschworenen Gemeinschaft und suchte nun woanders nach seiner verlorenen Kindheit. Wie immer hatte er sich an Bianca gekuschelt, seinen geliebten Dino im Arm, und seine kleine Hand hatte ihr Nest in der Hand Biancas gefunden. So war er eingeschlafen. Am Morgen war seine Hand kalt gewesen, todeskalt. Die Kälte seines kleinen, dünnen Körpers zog ein in Bianca. Sie verweigerte sich der Trauer und gestattete sich nur starren, tränenlosen Schmerz. Wenn Leben bedeutete, dieses schreiende Unrecht zu akzeptieren, es hinnehmen zu müssen, das unschuldige Kinder ein solches Schicksal zu erleiden hatten, dann würde sie diesem Leben nur noch mit Hass und Härte begegnen! Die einzige Art, damit fertigzuwerden war wohl wirklich, alles in sich zu betäuben. Nun gut, sie wusste ja, wie's ging! Sie hatte oft genug gesehen, wie man richtig schnüffelte, es gab auch noch genug Schnaps, sie vertrug ja nicht viel. Tagelang irrte sie im dämmrigen Schattenreich der künstlichen Träume umher. Die sechs Jungen waren in ernstlicher Sorge um sie. Auch sie trauerten um Ali. Sie jedoch hatten aufgrund ihrer eigenen Lebensgeschichte besser gelernt, die Dinge nicht so nah an sich heran zu lassen, weder Glück noch Schmerz. "Immer cool bleiben, Mann!" war zu ihrem Leitspruch geworden und hatte ihnen immer geholfen, gerade eben zu überleben. Das war immerhin etwas, oder? Aber Bianca war diesem Leben hier einfach nicht gewachsen. Sie war eine Prinzessin aus dem fernen Märchenland der Reichen und Schönen, und dort galten andere Gesetze, glaubten sie. Sie wussten ja nicht, wie ähnlich die Menschen ihnen dort waren. Auch sie zogen es oftmals vor, den Schmerz und die Trauer über Verluste zu ersetzen durch Rausch, Betäubung und Flucht in hohle Vergnügungen. Nur standen ihnen dazu andere Mittel zur Verfügung.

Als die Jungen merkten, dass Bianca drohte wegzudriften, dorthin, woher es keine Rückkehr gab, beschlossen die tapferen, kleinen Kerle erstmals, Hilfe zu holen. Hilfe war ihnen niemals bisher in ihrem kurzen Leben zuteil geworden. Sie wussten nicht darum zu bitten, schon gar nicht, sie anzunehmen. Ihr einziger Kontakt zur Oberwelt war die Fee. Die Alte war so weit in Ordnung, aber wie sollte sie hier helfen können ! Trotzdem, oder weil es niemand Anderen in ihrer Welt gab, wandten sie sich an sie. Und die Fee half!

Hier kommt nun endlich der Prinz ins Spiel! Denn was wäre Schneewittchen ohne den Prinzen? Undenkbar, nicht wahr! Und dennoch, die eigentliche Arbeit hatte trotzdem die Fee zu leisten. Der Prinz kam, sah und erhielt eine funkelnagelneue Prinzessin, ohne etwas dafür geleistet zu haben. Aber, so ist das nun einmal: die wirklich wichtigen Dinge sind ein Geschenk des Lebens. Man erhält sie nicht, weil man so tüchtig oder so gewissenhaft ist, sondern, weil man reinen Herzens ist. Und das war unser Prinz. Aber, ich will nicht vorgreifen.


7.KAPITEL


Die Fee erschien also in der kalt gewordenen Behausung der Zwerge. Hier, tief im Inneren der Erde, war es Sommers wie Winters eigentlich immer gleich warm. Die winterliche Kälte kam anderswo her. Nämlich, daher, dass der kleinen Gemeinschaft die mütterliche Wärme Biancas abhanden gekommen war. Unglaublich,aber wahr! Die verwöhnte Prinzessin hatte im Laufe ihres Aufenthalts bei den sieben Zwergen gelernt, für andere da zu sein, für sie Sorge zu tragen, von sich selbst abzusehen und die Nöte anderer wahrzunehmen. Sie liebte die Kinder und die liebten sie wieder. So einfach lagen die Dinge. Und nun war sie unerreichbar geworden, in ihrem Reich des Nichtfühlens war sie dem Tod näher als dem Leben. Die Fee erschien und brachte eine Ahnung von Trost und Wärme mit sich, ferner eine Flasche Rum und ....natürlich, den Prinzen! Er war eigentlich von Beruf Streetworker,- das ist so eine Art Menschenfischer in Gestalt eines Sozialarbeiters - und nicht Prinz. Auch ritt er nicht auf einem weissen Pferd, sondern fuhr jeden Tag auf seinem Fahrrad zur Arbeit. Aber, wir wollen mal nicht so streng sein! So wie die Fee dem gewöhnlichen Auge niemals ihr Geheimnis offenbarte, so war auch der Prinz nicht gleich jedem erkennbar. Zuerst kochte die Fee für alle einen starken, heissen Tee auf der Flamme des alten Spirituskochers. Dann tat sie einen gehörigen Schuss Rum hinein, für die innere Wärme, das sei sehr wichtig, versicherte sie glaubhaft. Dem Prinzen wurden alle Zwerge förmlich vorgestellt, und er begrüsste sie höflich, wie es sich für einen Prinzen gehört. Und dann sah er unser Schneewittchen da liegen, in ihrem gläsernen Sarg des Vergessens und war von diesem Augenblick an unsterblich in sie verliebt! Da war sie, die Frau seiner Träume, lange gesucht und niemals gefunden! Da lag sie, auf einem Haufen alter Decken und Kleidungsstücke und war so schön, dass ihm das Herz vor Liebe und Weh zu zerspringen drohte! Denn sie war unerreichbar, fühlte nicht Schmerz, nicht Trauer, nicht Wärme, nicht Hoffnung und auch nicht Liebe, denn die bedeutete Schmerz und Verlust. Die Fee, die arme Haut, war ganz gerührt ob dieses ganzen Gefühlsdilemmas und kramte verschämt in ihrem Plastiksack. Man sollte ihre Tränen nicht sehen. Da war er ja endlich! Endlich hatte sie gefunden, wonach sie so intensiv gesucht hatte. Da war er, der alte Taschenspiegel! Eigentlich hatte sie ihn nicht aufheben wollen, damals, aber, sie konnte nun einmal nicht an Fundstücken vorübergehen, waren sie auch noch so schäbig! "Was willst'n mit dem alten Kram, Fee," fragte Bippo, der Chef abschätzig, "willst' vielleicht schau'n, ob sie noch atmet? So ein Schwachsinn!" Er tippte sich vielsagend an die Stirn und verstummte dann, um seinen Tee mit Rum zu trinken. Die Anderen nickten zustimmend. Die alte Schachtel hatte sie wohl auch nicht mehr alle, na, ja, der Alkohol....! Die Fee liess sich nicht beirren. Sie bat den Prinzen, Bianca ein wenig aufzurichten. Dann schlug sie ihr, vorsichtig zuerst, dann etwas stärker, auf die Wangen: "Bianca, meine Kleine, wach auf! Na komm, mach deine schönen , blauen Augen auf, mein Püppchen, genug geschlafen! Als das nichts nützte, begann die Fee das Mädchen heftig zu schütteln. Ohne die Augen zu öffnen, murmelte Bianca etwas wie "...alle weggehen,.... keinen Bock auf irgendwas," und drehte allen den Rücken zu. Der Prinz, er hiess übrigens Leo, nahm Bianca in die Arme, drehte sie zu sich herum und küsste sie auf die Stirn. Erschreckt schlug das Mädchen die Augen auf und sah das Gesicht eines fremden Mannes, das sich über sie beugte. Empört schob sie ihn von sich weg und setzte sich auf.

"Was iss'n das für Versammlung hier, könnt ihr mich nicht in Ruhe lassen!" schrie sie unwirsch. Da setzte sich die Fee auf ihr Bett, strich ihr über die Wange und sagte weich:

"Wir sind doch alle mit dir traurig wegen Ali, Mädchen. Aber wir können nicht zulassen, dass du dir deswegen das hier antust! Heute nacht, im Traum, ist mir Ali erschienen, mit seinem Dino im Arm und hat mich ganz unglücklich angeschaut. Dann hat er mich gebeten, dir zu helfen. Sonst kann er nicht von hier weg, nach Hause, ins Reich der Mütter. Dort wird er nämlich schon erwartet, weisst du."

Ungläubig sah Bianca die Fee an. Wieder war dieser Glanz um sie, und diesmal ging keine Sonne unter. Sie hielt Bianca den alten, fleckigen Taschenspiegel vor und sagte eindringlich:
"Da, sieh dich doch an, schau, was aus dir geworden ist!" Bianca blickte in den Spiegel und sah ein kaltes, totes Antlitz mit erloschenen Zügen. Es wirkte wie eingefroren in gläsern glitzerndes Eis. Die Perspektive des Spiegels weitete sich plötzlich zu Cinemascope-Format. Es zeigte die sechs Jungen, ebenfalls in eisiger Erstarrung und dahinter, fast durchsichtig, wie ein rauchiger Schatten......Ali! Und er lächelte, lächelte ihr zu, und ihr war, als hörte sie leise seine Stimme: "Mir geht es gut, mach dir keine Sorgen, sieh her, ich lebe! Du bist es, um die du dir Sorgen machen musst, denn du lebst nicht. Komm, komm heraus aus deinem gläsernen Sarg, fühle, lebe wieder, lebe, lebe!"
"Ali?" flüsterte Biana unsicher, "du bist wirklich hier?" Dann Stille. Die sechs Jungen glaubten schon, nun sei ihre Freundin auch verrückt geworden, so wie die Fee. Jetzt sah sie schon Gespenster!
"Aaaaliii!" heiser vor wildem Schmerz schrie Bianca ihre Verzweiflung heraus. Ihr ganzer Körper wurde geschüttelt von qualvollem, erbarmungswürdigem Schluchzen. Sie weinte und weinte, als könne sie nie wieder damit aufhören, und ihre heissen Tränen schmolzen das Eis um sie her. Sie drangen auch durch die eisigen Panzer der Zwerge, bis endlich alle heulten, wie eben Kinder weinen, wenn sie sich alleine und hilflos fühlen. Das erste Mal in ihrem Leben gaben sie sich hin an den lange verdrängten Schmerz. Nun brach sie zusammen, die Mauer, die ihnen Schutz verliehen und ihnen das Überleben in dieser feindlichen Welt ermöglicht hatte. Dahinter erschien ihre Wirklichkeit, und wie sah die aus? Erschreckend, so dunkel, so leer und kalt! Und in dieser grossen Leere, da waren sie, so klein, so verraten von ihrer Welt, mit einem unstillbaren Verlangen nach Halt und Geborgenheit. Konnte es wohl jemals gestillt werden?

Es wurde niemals ganz gestillt, das nicht. Niemals können wir als Erwachsene den Hunger der Kindheit stillen. Aber, sie erhielten das erste Mal in ihrem Leben eine Chance, und das kam so:

Der Prinz führte Bianca heim, heim zu ihrer Mutter. Die war ausser sich vor Freude, ihre Tochter wiederzuhaben. All die Zeit hatte sie niemals die Hoffnung aufgegeben, Bianca könne noch am Leben sein und wiederkehren. Auch sie hatte sich verändert, hatte sich abgefunden mit dem Altern und daraus sogar noch etwas für sich gewonnen. Sie ist nun Drehbuchautorin und Regisseurin mit einigem Tiefgang. Und sie erfuhr schliesslich doch noch, dass sich im Leben immer mehr als nur zwei Wege öffnen können, denn sie hatte einen dritten gefunden und erkannt, dass es auch für sie noch nicht zu spät ist, Liebe zu geben und zu empfangen.

Die sieben Zwerge bekamen von ihr eine Wohnung in der Nachbarschaft, wo sie von Prinz Leo und Prinzessin Bianca betreut wurden. Sie gingen sogar zur Schule, und das war nicht einfach für sie, nach einem Leben im Zwergenreich, das könnt Ihr mir glauben! Trotzdem, sie alle fanden einen Weg für sich, um einigermassen unter den Bedingungen unserer Gesellschaft leben zu können.
Bippo schaffte sogar die Matura in kürzester Zeit. Er studiert jetzt Rechtswissenschaft und möchte eines Tages Anwalt werden.

Sein kleiner Bruder Tino hatte es nicht leicht. Als angesehener Spezialist seines Faches fiel es ihm schwer, zu verstehen, dass seine Tätigkeit nun, na sagen wir, nicht mehr gefragt war. Immerhin geht er zur Schule. Sein Lieblingsfach ist Turnen, und sein Hobby Zaubern. Er ist schon recht geschickt in dieser Kunst, habe ich mir sagen lassen.

Ähnlich erging es Tommy. Aber, er hat eine Lehrstelle als kaufmännischer Angestellter gefunden und verspricht, ein Verkaufsgenie zu werden, was Wunder, bei seiner "Vorbildung"!

Der Ingenieur betreibt eine gutgehende Reparaturwerkstatt für Haushaltsmaschinen. Sie ist übrigens ein Geheimtip in weniger wohlhabenden Kreisen, und er kann sich vor Aufträgen gar nicht erretten.

Dann wäre da noch Mr. Jack. Eigentlich wollte er an die Kunstakademie, wurde aber nicht aufgenommen. Er lebt davon, wohlhabenden Leuten die Wohnung zu verzaubern, etwa in einen Dschungel oder eine Küstenlandschaft oder aber in einen Wald. Den Wünschen der Kunden sind da keine Grenzen gesetzt. In seiner Freizeit malt er wundersame, suggestive, manchmal auch erschreckende, aber immer faszinierende Bilder. Gerade eben bereitet er seine erste Ausstellung vor.

Troubadix, wie könnte es anders sein, widmet sein Leben immer noch der Musik. Wie man mir glaubhaft versichert, gilt er in der Szene als grosses Talent. Sein Fach ist experimentelle Musik, und er baut immer noch seltsame Musikinstrumente. Daneben hat er Bass gelernt und spielt auch diesen sehr erfolgreich. Wie ich durch die Fee erfahren habe, hat er seine Schüchternheit noch immer nicht ganz abgelegt. Aber, was soll's, er wird' schon schaffen, jung wie er ist!

Bianca machte die Schule fertig und wurde Sozialarbeiterin. Sie heiratete den Prinzen, und beide gründeten gemeinsam ein Kinderhaus, in welchem sie ehemalige Strassenkinder betreuen. Sie haben schon selbst ein Kind, einen kleinen Jungen. Bald wird er alt genug für Märchen sein. Sicher wird ihm Bianca dann auch das Märchen von Schneewittchen und den sieben Zwergen erzählen, dafür wäre sie doch immerhin Expertin, oder?

Und noch jemanden hätte ich fast vergessen, die Fee! Sie wohnt auf ihre alten Tage bei Bianca und Leo, dort hat sie ein richtig gemütliches Zimmer mit Balkon, Bad und eigener Küche. Man kann sie aber trotzdem bei schönem Wetter manchmal treffen, wenn sie ihrer Leidenschaft nachgeht, alte Sachen zu sammeln. Nun ja, feste Gewohnheiten sind nun einmal nicht so leicht abzulegen, noch dazu in ihrem Alter! Immer noch hat sie aufregende Kostbarkeiten für die Kinder in einem ihrer Säcke. Leider sind die meisten Kinder heute aber so verwöhnt und übersättigt, dass sie die Geschenke der Fee nicht so richtig zu würdigen wissen, und darüber hat sie sich bei mir beklagt. Denn Zwerge, dort, hinter den sieben Türen oder anderswo, die gibt es ja nicht mehr! Solltet Ihr aber von welchen wissen, dann sagt es Schneewittchen und dem Prinzen, die werden sich gerne um sie annehmen!

Quelle: E-Mail-Zusendung von Merlin und Morgane Märchenerzähler, Märchenzauber - Die Mistel, aus dem Waldviertel, 5. Jänner 2003.