WEIHNACHTEN AN DER GRENZE
Von Margarete Lassi vulgo Morgane
Es war Tradition in der Familie Waldner, das Weihnachtsfest auf dem Land zu feiern., genauer gesagt, in einem entlegenen Winkel unseres Landes, dicht an der Grenze, wo die Grosseltern ein kleines, gemütliches Häuschen bewohnten. Es stand ganz einsam inmitten von Wald, Heide und Moorwiesen, wo, wie man Abgeschiedenheit bei uns gerne ausdrückt, einander Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Grossvater Waldner liebte es deftiger. Er meinte oft, dass die Hunde bei ihnen mit dem Hinterteil zu bellen pflegten, wobei er ein wesentlich saftigeres Wort benutzte. Mutter Waldner blickte dann immer betont vorwurfsvoll, besonders, wenn klein Sophie im Raum war, das einzige, sehr behütete Kind der Waldners. Sophie war gerade fünf und ging noch in den Kindergarten, aber schon in die "grosse Gruppe", wie sie mit wichtiger Miene immer betonte, wenn die Sprache darauf kam. Urlaub bei den Grosseltern war unbedingter Höhepunkt in ihrem Jahresablauf, auch, wenn die Eltern gerne und oft in die Ferne reisten. Sophie wurde in diesen Wochen dann immer den Grosseltern zur Betreuung überlassen. Die nahmen sich immer viel Zeit für das kleine Mädchen. Zeit war das, wovon sie wirklich reichlich besassen. Im Sommer ging Grossmutter mit Sophie Beeren und Pilze suchen, erzählte aufregende Geschichten. ausserdem war sie eine richtige Kräuterhexe. Grossvater nahm sie gerne auf seine Gänge ins Dorf mit, zum Einkaufen, zur Post und auch manchmal ins Wirtshaus. Sophie bekam dann immer ein Eis spendiert. Weihnachten aber übertraf all dies. Hier gab es so gut wie immer Schnee, auch, wenn in der grossen Stadt kein Stäubchen davon zu sehen war. Nachts glitzerte und funkelte der Schnee im Mondenschein wie Sternensplitter, die zur Erde gefallen waren. Und dann gab es da noch etwas. Früher, als Sophie noch "klein" gewesen war, war dieses Wort ohne jede Bedeutung für sie gewesen. Heuer aber, zum ersten Mal, wollte sie wissen, was es bedeutete, das Wort Grenze. Das Haus der Grosseltern stand so nahe an dieser ominösen Grenze, dass seine Rückwand mit ihr gleich verlief.
Es ist der frühe Nachmittag des Weihnachtsabends. Familie Waldner ist sehr beschäftigt: Vater Waldner stellt den Christbaum auf, Mutter Waldner hilft Grossmutter bei der Bereitung der Weihnachtsgans, Grossvater hantiert geheimnisvoll im Dachzimmer, Sophie hüpft aufgeregt dazwischen herum und ist allen im Weg. Alles ist ganz normal, wie es sich gehört. Mama und Oma unterhalten sich in der Küche. Dabei schnappt klein Sophie etwas von ihrem Gespräch auf, ein neues, noch unbekanntes Wort:
"Mama, was ist eine Grenze. Wie schaut sie aus?"
Mama, leicht irritiert: "Na ja, da hört unser Land auf."
Darauf Sophie:
"Und was kommt dann?"
Mama: "Ein anderes Land."
Sophie: "So eins mit Löwen und Elefanten, gelt, so wie dort,
wo ihr wart?"
Mama erheitert: "Nein, nicht so".
"Wie, wie ist das Land aber dann. Wie anders, Mama? Wohnen dort auch
Menschen, Neger vielleicht? Ich kenne Neger, weil in meinem Bilderbuch......"
Mutter Waldner unterbricht, wobei ein belustigter und auch ein leicht
genervter Unterton nicht zu überhören ist.
"Man sagt nicht Neger, Kind, das heisst 'Schwarze....Und nein, dort
leben keine Schwarzen."
"Dann vielleicht Braune?"
"Kind, jetzt ist aber Schluss mit der Fragerei, das geht ja ins Unendliche.
Drüben sehen die Leute auch nicht viel anders aus, als bei uns, nur
sprechen sie eine ander Sprache."
"Na gut, morgen gehe ich das andere Land anschauen und die Leute,
und wie es hinter der Grenze ausschaut:"
Da schaltet sich die Grossmutter ein. Gütig lächelnd erklärt
sie:
"Daraus wird leider nichts, meine Kleine, da darf man nämlich
nicht hinüber."
Jetzt ist Sophie völlig aufgeregt. Mit grossen Augen fragt sie:
"Warum nicht?
"Ja, ähh, also......damit da keine bösen Menschen herüber
kommen können....."
"Ah so, da wohnen die Bösen, die Hexen und die Zauberer und
die Ungeheuer. Uuhhh, gleich neben uns, Oma! fürchtest du dich nicht?"
"Nein, die Grenzgendarmen passen auf, dass niemand herüberkommt."
Jetzt wirkt auch die geduldige Grossmutter schon einigermassen überfordert.
Wie soll sie der Kleinen denn nur die komplexe Problematik zwischenstaatlicher
Angelegenheiten erklären? Eigentlich versteht sie es selbst nicht
so genau, das mit den Grenzen, irgendwie imaginär, das Ganze, puh!
Deshalb endet dieses Gespräch mit einer Floskel, die sie so nie,
niemals anwenden wollte:
"Das verstehst du erst, wenn du grösser bist."
Das ist das Signal für: Ende der Unterhaltung. Aber in Sophies Köpfchen
arbeitet es sichtlich. Wenn Oma und Mama nicht so beschäftigt wären,
fiele es ihnen auf. Ungeheuer mit gefletschten Zähnen, finstere Gestalten
und Monster rücken plötzlich in bedrohliche Nähe des einst
so sicher geglaubten Refugiums. Aber, die Grenzgendarmen passen auf, das
beruhigt die Kleine wieder ein wenig. Grenzgendarmen kennt sie, vom Wirtshaus,
einen zumindest, einen freundlichen, wenig furchteinflössender Mann,
der ihr schon einmal ein Eis spendiert hat. Und so ein Held, wer hätte
das gedacht!
Später dann erklärt sich Opa bereit, mit Sophie zur Wahrung
der christkindlichen Geheimnisses einen Spaziergang zu unternehmen. Fest
eingepackt, bis sie wie eine russische Puppe aussieht, stapft sie mit
Opa auf dem Grenzweg dahin. Der weist seine Enkelin scherzhaft darauf
hin, dass sie jetzt mit einem Fuss in Österreich, mit dem anderen
in der Tschechei spaziere. Erstaunt und ein wenig ängstlich blickt
sich Sophie um: keine Monster weit und breit!
"Erzähl mir was aus dem Kindergarten", fordert Opa sie
auf, um sie ein wenig abzulenken. Sophie hat heuer das erste Mal bei einem
Krippenspiel mitgemacht, als Engel, im weissen Nachthemd und mit richtigen
Federn als Flügel. Das erzählt sie stolz dem Opa und auch, dass
die Eltern vom Christkind keine Wohnung finden konnten, weil alle geglaubt
hatten, sie seien nur so arme Bettler und nicht die Eltern vom Jesuskind.
Plötzlich bleibt Opa wie erstarrt stehen. Er legt den Finger auf
den Mund: "Psst, still!" bedeutet er dem kleinen Mädchen.
Oh je! Jetzt passiert es! Jetzt kommt doch irgendwas Böses über
die Grenze. Wahrscheinlich muss der Grenzgendarm heute auch den Christbaum
schmücken und hat keine Zeit zur Monsterbekämpfung! Sophie hat
schreckliche Angst. Sie ist ganz starr vor Furcht. Es ist ja auch schon
fast finster, Monsterzeit! Opa schlüpft in das Dickicht. Er will
sie sicherlich beschützen und das Ungeheuer verjagen! Ja, da, er
hat es schon gefasst, er hat es am Arm und hält es fest! Aber......das
ist.....das sind.......zwei........keine Ungeheuer, böse Menschen
vielleicht? Aber böse Menschen haben doch keine Angst, sie sind ganz
wild und fürchterlich! Dies hier aber sind zwei ganz gewöhnliche
Menschen, ein Mann und eine Frau, und sie fürchten sich. Die Frau
weint ja! "Lauf schnell, hol Papa, er soll sein Handy mitnehmen!"
schreit Opa aufgeregt, und benutzt ein unbekanntes Wort: Illergalle oder
Iligale oder so, wahrscheinlich ein Erwachsenenwort für Ungeheuer!
Papa kommt, Oma hintendrein. Papa drückt aufgeregt auf dem Handy
herum, verdammt, kein Netz in dem Kaff! Oma beschwichtigt. Sie führt
die beiden Ungeheuer ins Haus. Jetzt kann Sophie sie richtig betrachten.
Das eine ist eine Frau mit dunklen Haaren. Und sie ist sehr dick, aber
nur um die Mitte, sonst ist sie ganz dünn, komisch. Papa hat die
Situation im Griff. Er versucht, mit den Beiden zu sprechen:
"Du Flüchtling? Über Grenze ohne Papiere? fragt er streng.
Ich müssen rufen Polizia, du verstehen?" Der Fremde spricht
anscheinend kein Deutsch, aber er hat genug verstanden. Angstvoll antwortet
er:
"Oh please, don't call the polize! It was so difficult for my wife
and me, to come in this land, and my wife is going to have a baby, you
understand? They took all our money for bring us here. We can't go back,
we can't!
Jetzt schaut Papa verunsichert. Er versteht wohl keine Ungeheuersprache
aus dem anderen Land hinter der Grenze.
Oma sachaltet sich ein. Sie legt dem verängstigten Ungeheuer die
Hand auf die Schulter und - ja ist denn das möglich! Sie sagt etwas
zu ihm in der selben Sprache!
"Don't fear! You can rest in our house this night. But tomorrow,
where will you go?
Der Mann entspannt sich sichtlich. Dann sagt er:
"There is my brother and his wife and children in Vienna. We want
to go to Vienna for staying with them.
They are waiting for us."
Grossmutter übersetzt Papa und den Anderen seine Ungeheuer - lichkeiten.
Grosse Aufregung, alle reden durcheinander. Sophie versteht nicht viel,
nur das Eine: die Erwachsenen haben Angst. Komisch, hier haben alle Angst,
die Ungeheuer, die Grosseltern, die Eltern. Vor wem? Ah, vor der Polizei,
aha. Sophie hört immer nur:..... verboten, es ist gegen das Gesetz,
man wird dafür bestraft, muss vielleicht sogar ins Gefängnis!
Noch etwas schnappt Sophie aus dem allgemeinen Stimmengewirr auf: die
Frau bekommt ein Baby, bald, sehr bald, vielleicht noch heute, sie krümmt
sich immer wieder und hat Schmerzen, das sieht man.
Auf einmal fällt es Sophie wie Schuppen von den Augen. In der Kirche,
bevor sie hierher gefahren waren, bei der Adventfeier, da hat es der Herr
Pfarrer gesagt, aber Sophie hat nicht gewusst, was er damit meint. Wie
war das bloss? Ach ja, das Jesuskind wird immer wieder geboren, bei jedem
von uns, so hat er gesagt, ja, jetzt hat sie verstanden!......Nachdrücklich
zupft die Kleine an Omas Kleid, immer wieder, bis diese endlich aufmerksam
wird. Sie zerrt die widerstrebende Oma in die Küche, um ihr ihre
aufregende Erkenntnis mitzuteilen.
"Oma!, schreit sie aufgeregt, "Das Jesuskind! Ihr dürft
sie nicht der Polizei geben, es sind doch keine Ungeheuer, sie kriegen
das Jesuskind!" Oma sieht Sophie mit einem dieser typischen, besorgten
Omablicke an, die zu sagen scheinen: "Kind, bist du krank?"
Nach so einem Blick gibt es meistens Kamillentee und eine Wärmeflasche.
Diesmal nicht. Sophie bekommt noch einmal die Gelegenheit, ihr Anliegen
vorzubringen.
"Das sind Maria und Joseph, und sie haben keine Unkunft, und keiner
will sie haben, und dann kommt das Jesuskind, und dann wollen es alle
haben, aber, jetzt ist es zu spät! Da nützt kein Weinrauch und
kein Gold mehr, auch keine Schmiere."
Endlich versteht Oma. Sie umarmt ihre kleine Enkelin zärtlich. Dann
sagt sie: " Weihrauch und Myrrhe, meinst du wohl, du kleine Neunmalkluge.
Ja, aber wir dürfen das nicht, es ist doch verboten." Sophie
denkt nach. In ihren kindlichen Zügen arbeitet es sichtlich. Dann
aber fragt sie, und ihre Augen sind wie klare, tiefe Seen:
" Oma, wem muss man mehr folgen, der Polizei oder dem lieben Gott?"
Schachmatt. Vor dieser tiefphilosophischen Frage versagen alle Ausflüchte.
Grossmutter Waldner nimmt ihre Enkelin an der Hand, führt sie in
die Stube, die immer noch vom Palaver summt, wie ein aufgeregter Bienenstock.
Mit einem Mal strahlt sie Würde und Autorität aus, Magna Mater
in Person. Die Blicke richten sich unaufgefordert auf die alte Frau.
"Ruhe! Seid still!", sagt sie gebietend. Dann, und dabei blickt
sie zärtlich auf Sophie: "Unsere Kleine hier hat mir die Augen
geöffnet, sie weiss, was hier vorgeht, nicht wahr Sophie?............Die
Beiden bleiben heute hier. Sie sind hungrig, durchfroren und todmüde.
Morgen werden wir dann weitersehen.Basta."
"Aber Mutter!.......Und wenn es Komplikationen gibt?........Und wenn
es jemand erfährt?"
"Ja, schon möglich. Aber verdammt, heute ist Weihnachten, da
wäre ein kleines Wunder doch völlig angebracht, meine ich."
Damit ist die Entscheidung gefallen. Das übliche Prozedere des Heiligen
Abends fällt heute aus. Wohl brennen die Lichter am Baum, wohl wird
die Weihnachtsgans serviert, wohl auch ein oder das andere Geschenk überreicht,
aber es ist all das nicht so furchtbar wichtig, denn, das Jesuskind wird
geboren. Hier, im letzten Zipfel unseres Landes, hier, inmitten wohlversorgter,
in Sicherheit lebender Menschen, von einer Frau, die gerade eben ihr nacktes
Leben hierher gerettet hat. Mit diesem Kind aber erblüht die Hoffnung.
Die Hoffnung darauf, dass einmal alle Menschen in Sicherheit und Frieden
leben werden können. Die Hoffnung darauf, dass eines Tages Grenzen
nichts Anderes mehr bedeuten werden, als eine ferne Erinnerung, weil es
keine Angst mehr gibt, weil wir uns einander voll Vertrauen öffnen
können. Als der Morgen anbricht, ertönt lautes, kräftiges
Babygeschrei in dem kleinen Häuschen, und der Weihnachtsstern erstrahlt.
Nicht am Himmel, nein, er leuchtet auf in den Augen der beiden Flüchtlinge
und auch in den Augen derer, die ihnen Herberge geboten haben.
Und dieses Licht vergeht nicht.
Quelle: E-Mail Zusendung von Merlin
und Morgane Märchenerzähler, Märchenzauber
- Die Mistel, aus dem Waldviertel, 13.
April 2004.