Graf Helias von Cleve und Jungfer Beatricia.
In Rom war im Jahre nach Christi Geburt 709 ein edler streitbarer Mann,
der hieß Dietrich von dem Geschlechte der Ursine. Dem gab der Kaiser
Justinian, mit Zustimmung des Königs in Frankreich, Childerich, ein
Land zu Erb und zu eigen, nämlich das Land Cleve. Auch gab er ihm
die kaiserliche Burg in Nymwegen ein, sie zu beschützen und zu vertheidigen.
Als Dietrich nun so zu Nymwegen wohnte, baute er eine Festung in Westsachsen
auf dem Anger, die hieß hernach Cleve, und Dietrich nannte sich
Herr von Cleve. Fünf Jahre und fünf Tage regierte er nur, aber
wohl, und tapfer stritt er gegen die Sachsen bis an seinen Tod. Er hinterließ
nur eine Tochter, die hieß Beatricia. Diese ward Erbin, und nannte
sich Gräfin von Cleve.
Aber ihr Land ward bald voll von Räubern, die es plünderten
und verheerten; denn sie war zu schwach, es davon zu säubern. Darüber
betrübte sie sich sehr, und war traurig, daß ihre armen Leute
so geplagt wurden.
Eines Tages saß sie auf der Burg zu Nymwegen am Fenster, und sah
ganz niedergeschlagen auf die blauen Wellen des Rheins. Siehe, da kam
ein Schwan auf dem Flusse herauf geschwommen, der war weiß. Um den
Hals hatte er eine goldne Kette, woran ein kleines Schiff hing, das er
hinter sich her zog. In diesem Schiffchen saß ein schöner Jüngling,
der hatte in der Hand ein blankes Schwert von purem Golde und auch ein
schön gewundenes Jagdhorn. Auf der Brust hing ihm ein Schild, worin
acht goldne Scepter standen, und in der Mitte war ein Stück Zinnober,
so noch das Wappen von Cleve ist.
Dicht unter den Mauern von Nymwegen hielt das Schiff, und der schöne
Jüngling begehrte die holde Jungfrau von Cleve zu sprechen.
Beatricia kam züchtiglich und ehrbar herab an das Ufer. Ihr war das
eine Schickung Gottes; denn oft schon war es ihr im Traume vorgekommen,
daß sie auf diese Art einen Mann haben solle. Nun besprachen sich
beide lange, und sagten einander viel Gutes und Liebes. Helias, so hieß
der Jüngling, sagte ihr auch alle seine Gebrechen und Mängel,
verlangte aber von der Jungfrau, daß, wenn sie ihn liebe, sie ihn
nie fragen solle, wo er hergekommen sey. Thäte sie das doch, so müsse
er sie verlassen, und könne alsdann nie zurückkehren. Sie gelobte
ihm dieß an, und so kamen sie denn zusammen in den Stand des echten
Lebens, der Ehe.
(Beiläufig sey es gesagt - die Historienschreiber meinen, der Jüngling
Helias sey gekommen aus dem Berge Grale, wie man nannte ein Festspiel,
worauf es herging lustig und liederlich, so daß er also ein Kind
der Liebe zu nennen sey.)
So waren nun also Helias und Beatrice Mann und Weib. Sie zählten
in vier Jahren drei Söhne. Der eine hieß Dietrich, der ward
des Vaters Nachfolger im Lande; der zweite hieß Gottfried, und wurde
ein Graf von Lyon; der dritte hieß Konrad, der kam zum Bischof nach
Mainz.
Kaiser Theodosius machte aus diesem Helias einen Grafen, und aus seinem
Lande eine Grafschaft, die er ein und zwanzig Jahre regierte. Da brach
seine Frau ihr Versprechen, und fragte darnach, was er ihr verboten hatte.
Es war nämlich im Jahre 737, als Graf Helias bei seiner Ehefrau Beatricia
im Bette lag. Da fragte sie ihn mit einem Male und ohne es vorher zu überlegen,
und sprach:
»Lieber Herr, warum müssen eure Kinder das nicht wissen, wo
sie sind hergekommen, und was Geburt das sie sind?«
Sobald sie diese Worte ausgesprochen, da verlor sie ihn aus dem Bette.
Helias verschwand, so daß sie gar nicht wußte, wo er geblieben
war, und nimmer kam er auch zurück.
Da härmte und grämte sich Beatricia, und verblich wie eine Blume
auf dürrer Heide.
Ihr Sohn Dietrich aber ward Graf zu Cleve, und regierte vierzig Jahre.
Von ihm gingen aus alle Grafen und Herzoge zu Cleve bis auf unsere Zeit.
* * *
C. Abel, Samml. etlicher noch nicht gedruckter alter Chroniken. Braunschw. 1732. S. 54.
Quelle: Friedrich Gottschalck, Die Sagen und Volksmährchen der Deutschen, Halle 1814