Das Oldenburgsche Wunderhorn.
Im eilften Jahrhunderte lebte Otto, Graf von Oldenburg, ein großer
Freund der Jagd.
Einst verirrte er sich bei einer Rehhetze von seinem Gefolge bis in den
Osenberg, eine öde Sandgegend, eine Meile von Oldenburg. Es war um
Mittag, die Sonne brannte gewaltig, und Otto war ganz verschmachtet. Der
Wunsch zu trinken ward heftig in ihm rege, und unwillkürlich rief
er so für sich aus:
»O hätt' ich einen kühlen Wassertrunk!«
Und siehe, da that sich vor ihm der Berg auf, und hervor trat eine schöne
Jungfrau in herrlichem Gewande. Den blendend weißen Nacken wallte
ihr Haar hinab, und ein Kranz zierte ihr Haupt. In der Hand hielt sie
ein köstlich silber-vergoldetes Geschirr, wie ein Jägerhorn
gestaltet und gar künstlich gearbeitet, das war mit Wasser angefüllt.
»Du bist durstig,« sprach sie zum Grafen, »da, trinke,
labe dich!«
Dabei reichte sie ihm das Horn hin. Otto nahm es, sah das Wasser an, getraute
sich aber nicht zu trinken, so gern er auch den brennenden Durst gelöscht
hätte.
»Scheue nicht den Trunk!« sprach sie, »er wird dir nicht
schaden. Trinkst du, dann wird es wohl gehen dir und deinem Hause, dein
Land wird zunehmen und ein Gedeihen haben. Trinkst du nicht, dann wird
- das wisse! - Uneinigkeit zerrütten dein Geschlecht.«
Aber Otto mißtraute der Rede der schönen Dirne, trank nicht,
und goß das Horn hinter sich aus. Sein Pferd wurde davon etwas naß,
und Otto gewahrte mit Schrecken, daß im Augenblick da, wo es naß
geworden, die Haare wie weggebeizt verschwanden. Erboßt rief die
Jungfrau:
»Gieb mir mein Horn zurück!«
Aber der erschrockene Otto gab seinem Pferde die Sporen, und eilte mit
dem Horne davon. Er gelangte glücklich wieder zu den Seinigen, erzählte
ihnen das wunderbare Ereigniß, und verordnete, daß das Horn
zum ewigen Andenken als ein kostbares Kleinod bei seiner Familie aufbewahrt
bleiben solle.
* * *
Dieß Wunderhorn ist, bis zur dänischen
Besitznahme der Grafschaft Oldenburg, in Oldenburg wirklich verwahrt worden.
Da kam es nach Kopenhagen, wo es noch jetzt in der Kunstkammer gezeigt
wird. Abbildungen davon giebt es in dem Welt- und Staats-Theatro 1749,
und in Hammelmann's Oldenburgscher Chronik, welche dieß Mährchen
erzählen. Es sind auch noch verschiedene kleine Schriften darüber
erschienen, nach welchen es für ein Pathengeschenk Karls des Großen
an Wittekind gehalten wird. Andere schreiben es dem dänischen Könige
Christian dem Ersten, Andere dessen Bruder Gerhard zu. - Freie romantische
Bearbeitungen dieser Sage findet man in dem 2ten Bande der neuen Volksmährchen
der Deutschen, von Mad. Naubert, Leipz. 1790. 8. S. 221 bis 352, und in
den Volkssagen, 1r Band, Eisenach 1795. 8. S. 63-124. Büsching giebt
es S. 380 in altem Styl, und so auch: Die Werke des Teufels auf dem Erdboden,
Freiburg 1751. 8. S. 248.
Quelle: Friedrich Gottschalck, Die Sagen und Volksmährchen der Deutschen,
Halle 1814