Reichenau

Die Insel Reichenau war ehemals ein wildes Eiland, das in dem Gebiet eines Austrasischen Landvogts namens Sintlas lag, der auf der nahen Burg Sandeck, oberhalb Bernang am Untersee, wohnte. Von ihm hieß die Insel die Aue, auch die Sintlas-Au.

Sintlas war ein frommer Mann und eifrig um die Verbreitung des Christentums in seinem Gebiet besorgt. Seinen Bemühungen gelang es, den heiligen Pirmin als Apostel für seine Heimat zu gewinnen. Im Jahre 724 kam jener in das Gebiet des Sintlas, der ihn bat, ein Haus der Andacht in der Gegend zu gründen. Der Heilige wählte dazu die nahe Insel, die der See von allen Seiten umfloß; weil sie aber voll greulicher Würmer war, riet ihm Sintlas ab. Pirminus Entschluß blieb jedoch fest; von einem Schiffer begleitet, fuhr er auf die Insel hinüber, die damals nur finstere Wälder, dorniges Gebüsch und Sümpfe enthielt, worin eine Unzahl Kröten, Schlangen, giftige Insekten und anderes Getier hausten. Als der Heilige südlich von Deichmanns Schlößchen ans Land stieg, da entstand wunderbarerweise an der Stelle, wo sein Bischofsstab die Erde berührte, eine Quelle. Die häßlichen Tiere aber flohen und schwammen über den See. Drei Tage und drei Nächte soll ihre Flucht gedauert haben. Als nun die Insel für immer von den Tieren befreit war, reinigte Pirmin mit vierzig seiner Genossen das Eiland von dem wildverschlungenen Gesträuch, und bald war die Insel für Menschen wohnlich. In kurzer Zeit erhob sich durch den Fleiß des heiligen Mannes und seiner Brüder ein Kloster, das bald die Zierde der ganzen Seegegend werden sollte. Leider mußte Pirminus schon nach drei Jahren infolge der Streitigkeiten der Alemannen und Franken die Insel verlassen. Bevor er abreiste, setzte er seinen Schüler Heddo oder Etto als Vorsteher seines Stifts auf der Sintlas-Au ein. Dieser führte die Ordensregel des heiligen Benedikt ein. Ungewöhnlicher Segen begleitete die Stiftung. Könige und Kaiser wetteiferten in ihren Schenkungen an das Kloster. So kam es, daß die Reichenau in den ersten Jahrhunderten nach ihrer Stiftung das begütertste Kloster weit und breit war und mit allem Recht ihren Namen Reichenau führte. Heute noch geht die Sage, wenn der Abt von Reichenau nach Rom reiste, konnte er jede Nacht auf eigenem Grund und Boden zubringen. Das mag durch den Umstand entstanden sein, daß das Kloster bedeutende Besitzungen am Corner See in Italien hatte.

Weithin drang der Ruhm des Klosters, das lange Zeit neben St. Gallen eine der ersten Bildungsstätte des südlichen Deutschlands wurde.

Quelle: J. Waibel und Hermann Flamm, Badisches Sagenbuch. Abt. 1: Sagen des Bodensees, des oberen Rheintals und der Waldstädte. Freiburg 1898, S. 57 - 59