287. Das beste Gebet.

Im Dorfe Heiterwang, eine Stunde von Reutte entfernt, lebte ein armer, junger Geißhirt. Er war sehr fromm erzogen, daher betete er vor jeder Kapelle oder vor jedem Marterl das Vaterunser. Er machte es aber gewöhnlich so: er nahm seinen mit Waldblumen gezierten Hut vom Kopf, warf die etlichen Blumen hinein und betete in den Hut hinein die Vaterunser; schnell vermehrten sich die Blumen, und er betete fort, bis der Hut voll wurde. Dann schloß er das Gebet mit den Worten: "Und für das ganze himmlische G'schwader," leerte ihn vor der geweihten Stelle aus, und da sah er, wie die armen Seelen um die Blumen fast rauften.

So trieb er es lange Zeit fort, bis ihm ein frommer Mann aus der Gegend sagte, er wisse ein noch fürnehmeres Gebet für die armen Seelen. Das lernte der Knabe und betete dasselbe in den Hut hinein. Allein der Hut wurde nicht voll, er mochte das neue Gebet versuchen, so oft er wollte. Er ging daher zum frommen Manne und erzählte ihm das. Der Mann wunderte sich und gab ihm den Rat, er solle also das alte Vaterunser wieder beten, und als er das getan, geschahen die Blumenwunder wie anfangs. Seitdem erkannten die Leute, daß das Vaterunser das beste Gebet sei.


Quelle: Allgäuer Sagen, Aus K. A. Reisers "Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus" ausgewählt von Hulda Eggart, Kempten und München 1914, Nr. 287, S. 296f.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Franziska Meister, Februar 2005.