5. Der Gaul in der Wiege.

An einem Hause in der Kalchstraße in Memmingen sieht man unterhalb des Erkers ein gar wunderliches Bild angemalt, nämlich einen Gaul, der in einer Wiege liegt. Darüber geht folgende Sage:

Vor alten Zeiten war einmal die Frau dieses Hauses, eine Frau Ahne, gestorben und wurde, nachdem sie die übliche Zeit auf dem Totenbette gelegen, in herkömmlicher Weise begraben. Da man der reichen Frau aber ihre kostbaren Ringe und Schmucksachen mit ins Grab gegeben hatte, so erregten diese die Habsucht des Totengräbers, und um der Kleinodien habhaft zu werden, scheute er nicht vor einer Leichenplünderung zurück. Zu diesem Zwecke begab er sich in später Nacht mit Schaufel und Laterne auf den Friedhof, öffnete das Grab und stieg auf einer Leiter hinab. Als er aber den Sargdeckel weggehoben hatte und sich der Ringe bemächtigen wollte, siehe, da fing die Tote an sich zu bewegen, und richtete sich auf. Bei seinem schlechten Gewissen darob entsetzt, floh der Totengräber voller Schrecken davon, Leiter und Laterne zurücklassend. Die Frau aber, die nur scheintot gewesen war, stieg nun auf der Leiter aus dem Grabe herauf, nahm die Laterne und kehrte zum Hause zurück, wo sie Einlaß begehrend am Glockenstrang zog. Der Ehemann öffnete im oberen Stock das Fenster und rief herab, wer noch zu so später Stunde läute und herein wolle. "Ja, ich, deine Frau! Mach nur auf!" Der Mann hätte sich lieber für gefoppt gehalten, wenn die Einlaßbegehrende nicht so bestimmt auf ihrer Behauptung, sie sei ja sein Weib, bestanden und ihre Stimme nicht die bekannte gewesen wäre. Aber man hatte sie ja doch erst zu Grabe getragen, und so wußte der Mann nicht, wie ihm war; es kann ja nicht möglich sein, dachte er sich und sprach: "Sowenig, als mein Gaul in der Wiege liegt, sowenig bist du meine Frau." Da habe die Wiedergekehrte erwidert: "So wahr der Gaul in der Wiege liegt, so wahr bin ich sie!" Und siehe da, richtig lag in der Wiege ein Gaul zum Staunen der Angehörigen, die nun ob des wunderbarlichen Ereignisses keinen Zweifel mehr hegten und die Wiedererstandene freudig aufnahmen. Die Frau lebte dann noch drei Jahre an der Seite ihres Mannes und gebar ihm sogar noch ein Kind. Zum Andenken aber an die wunderbare Rettung wurde hernach das genannte Wiegenbild an dem Hause angebracht. Als man in späterer Zeit das Bild einmal beseitigt hatte, soll in dem Hause allnächtlich Unruhe und Spuk sich bemerklich gemacht haben, wie man erzählt, und so hat man das Bild wieder neuerdings malen lassen, so, wie man es heute erblickt.

Quelle: Allgäuer Sagen, Aus K. A. Reisers "Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus" ausgewählt von Hulda Eggart, Kempten und München 1914, Nr. 5, S. 9 - 11.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Franziska Meister, Februar 2005.