Des Torwärters Töchterlein

Am Fürstentor die "Synagoge"
Mit dem verbund'nen Augenpaar,
Die bringt auf grauer Zeitenwoge
Ein sagenhaft Geschehnis dar.

Ihr kennt den Torwart doch,
den alten,
Vom obern Jakobsberger Tor?
Doch halt! Er zählt zu den Gestalten,
die längst verwischt
für Aug' und Ohr!

Des Torwarts Stütze war im Leben
Sein liebes, schönes Töchterlein;
Doch war ein Unglück beigegeben:
Er konnte jach und hitzig sein!

Die Tochter, sagt uns die Geschichte,
Die ward beschuldigt falsch und schlimm;
da schleppte er sie zu Gerichte
In seinem ersten heißen Grimm.

Die Zeit war hart in rauhen Schalen
Und rauh war des Gerichts Natur -
Man strafte sie mit schweren Qualen
Und spannte sie auf die Tortur.

Als sie gestand in Schmerzensstunden
Die Tat, an der sie ohne Teil,
da ward für schuldig sie befunden
Zu sterben untern Henkersbeil.

Vor Schrecken wurden weiß die Haare
Dem reu'gen Torwart in der Nacht;
Ich glaub', es ward die Totenbahre
Schon bald für ihn zurecht gemacht.

Indes führt man am Dom vorüber
Sein Kind zur Richtstatt früh hinaus.
Nur das nicht! Und sie kauert nieder
Verbund'nen Augs vorm Gotteshaus.

"Du, Gott im Himmel, laß nicht fallen
Mein schuldlos Haupt durch Henkershand!
Gib andern Tod mir und zeig allen,
Wie meine Unschuld ward verkannt!"

Da rollen rote Ziegelsteine
Auf sie herab als Todesquell - -
Da liegt sie still, entseelt die Reine,
Doch ihre Züge leuchten hell.

Dem Henker war der Leib entronnen,
Man grub ein ehrlich Grab ihr gern
Und alle sah'n im Licht der Sonnen,
Wie wir der Wahrheit oft so fern . . . .

Wenn wir die "blinde Jungfrau" sehen,
Wie ihr entfallen Stein um Stein,
Dann wird uns stets vor Augen stehen
Des Torwarts armes Töchterlein! *)

*) So die Volkssage. In Wahrheit stellt die "blinde Jungfrau" an der rechten Seite des Fürstentors das Judentum oder die Synagoge dar, die Christus nicht als Gott erkannte, also gleichsam verbundene Augen hatte. Die Steine oder Ziegel, die der linken Hand entflinken, werden als die Gesetzestafeln des Alten Bundes gedeutet. - An der anderen Seite des Tores steht die Gestalt der christlichen Kirche.

Quelle: Bamberger Dom-Sagen, von Dr. Andreas Haupt und Eduard Diener, Bamberg 1923 (Faksimile 1987), S. 36 - 37.